Es gibt keinen antisemitismusfreien Raum in Deutschland. Antisemitismus nur bildungsfernen oder gar migrantischen Milieus zuzuschreiben, ist einfach eine Entlastung, die ganz häufig auch in der Mitte der Gesellschaft vorgenommen wird, damit man sagen kann: Wir sind es aber nicht, es sind die anderen! Studien und Statistiken zeigen aber, dass jüdische Personen antisemitische Erfahrungen in jedem gesellschaftlichen Setting machen, und zwar bis in den höchsten akademischen Raum hinein.
Laura Cazés über Antisemitismus in Deutschland
Stellt unbequeme Fragen: die Publizistik Laura Cazés. © Privat
Mehr Chuzpe für unbequeme Antworten
21:07 Minuten
In "Sicher sind wir nicht geblieben" versammelt Laura Cazés jüdische Stimmen zum Leben in Deutschland. Oft gestellte Fragen werden hier mitunter gallig zurückgespiegelt. Denn: Der Antisemitismus in Deutschland ist nicht so überwunden wie geglaubt.
Für ihr Buch "Sicher sind wir nicht geblieben" hat Laura Cazés zwölf jüdische Autorinnen und Autoren gebeten, ihre Sicht auf das Leben in Deutschland, aber auch auf das „Jüdischsein“ zu beschreiben. Entstanden sind sehr persönliche, vielschichtige Essays, mit Chuzpe, Wut und Hoffnung. Unter anderem von Mirna Funk, Daniel Donskoy, Richard C. Schneider oder Erica Zingher.
Wie sicher sind Juden in Deutschland?
"Sicher sind wir nicht geblieben", in diesem Titel steckt bewusst Ambivalenz und Mehrdeutigkeit. Laura Cazés war es einerseits wichtig die Selbstbestimmtheit jüdischer Lebenswelten darzustellen, die zwar selbstbestimmt, aber nicht selbstverständlich sind.
Andererseits wollte sie mit der Chuzpe, der Widerständigkeit, spielen und vor allem auch eine Frage konterkarieren, die man als Jude oder Jüdin immer wieder gestellt bekommt: Sind Juden noch sicher in Deutschland?
„Was wäre, wenn wir einfach all diese Fragen so beantworten, wie es dem Gegenüber nicht passt? Also was wäre, wenn wir 'Nein' sagen? Dann wird der Missstand benannt. Endlich ist dann klar: Vielleicht müssen wir noch mal über jüdisches Leben nachdenken. Wird dann erst, sozusagen, das eigene Unbehagen wirklich sichtbar?“
Was bedeutet Judentum?
Für Laura Cazés selbst bedeutet Judentum unter anderem Herkunft - ein schwieriges Thema bei vielen Juden. Ihr Vater ist ein türkischstämmiger, jüdischer Argentinier. Ihre Mutter kann ihre Herkunft selbst nicht richtig beschreiben: Sie ist die Tochter polnischer Holocaustüberlebender, die nach der Schoah in Bayern gestrandet sind.
Das Judentum bedeutet für sie aber auch Religion oder Spiritualität, was bei jedem sehr persönlich definiert ist und sich im Laufe des Lebens auch ändert. Außerdem ist es eine Heimat. Viele junge Juden in Deutschland grenzen sich aber an ihrem Bezug zum Judentum ab - Judentum mit seinen Feiertagen und den Klischees, die von außen projiziert werden: "Bin ich eine jüdische Mutter? Habe ich jüdischen Humor!? Ist es ein Teil von mir und wenn nicht, bin ich überhaupt jüdisch genug für die deutsche Gesellschaft?"
Juden als Kompetenzzentrum für den Nahostkonflikt
Als deutscher Jude würde mutiert man schnell zum Kompetenzzentrum für die Geschichte des Nahostkonflikts oder zum lebenden Mahnmal der Schoah. Als solches steht man dann entweder dafür gerade, dass sich mal wieder jemand an der Geschichte abarbeiten muss, oder dafür, dass es jetzt mal endlich genug sein solle mit der Erinnerungskultur.
In ihrem Buch versucht Cazé diese Fragen, die jüdischen Menschen in Deutschland oft gestellt werden, umzudrehen oder anders zu beantworten.
Ist der Antisemitismus wirklich überwunden?
Die oft beschworene Erinnerungskultur lässt den Eindruck entstehen, dass Antisemitismus in Deutschland nicht nur besieg, sondern auch gesellschaftlich verpönt sei. Nach dem Motto: "Das macht man nicht mehr, das sagt man nicht mehr!"
Wenn man sich aber nur ein wenig damit beschäftigt, wie Antisemitismus wirkt, stelle man aber relativ einfach fest, dass er sich heute dem Zeitgeist angepasst hat und anders chiffriert wird . Mit einem Mal ist es gar nicht "so geächtet, von den Globalisten von den Zionisten, von Israel zu sprechen, oder einfach von 'denen da oben'. Die Argumentationsweise ist exakt die gleiche!"
Die Frage, ob die deutsche Gesellschaft bereit für dieses Buch sei und sich mit den darin gestellten unbequemen Fragen und Antworten auseinanderzusetzen, hänge nicht nur von der intellektuellen Bereitschaft dazu ab. Denn Antisemitismus ist auch nichts, was sich allein durch Bildung bekämpfen lässt.
Solche Antisemitismus-Erfahrungen beschreibt Laura Cazés gleich in ihrem Einführungskapitel: scheinbar kleine nebensächliche Gegebenheiten, Mikroagrssionen und Mini-Ignoranzen, die sie in unterschiedlichen Situationen, Umgebungen und Millieus gemacht hat.
Antisemitische Erfahrungen sind Alltag
Sie beschreibt sie nicht um die Leser zu erschüttern, sondern zu zeigen, dass es ständig und überall passiert: "An der Uni oder im Bundeskanzleramt. Jüdische Menschen machen sich oft Vorwürfe, in solchen Situationen nicht angemessen reagiert zu haben, keine rationale Antwort zu haben. Aber sie müssen vielmehr verstehen, dass ihnen in solchen Situationen Gewalt und Übergriffigkeit widerfährt, die keiner Erklärung oder Reaktion bedarf."
"Sicher sind wir nicht geblieben" ist also ein Buch für alle. "Ich glaube, die jüdische Community sollte dieses Buch wirklich vor allem als ein Empowerment-Werk verstehen - und die Mehrheitsgesellschaft, auch wenn ich das gar nicht so hermetisch trennen will, schon auch als eine Gesellschaftskritik."