Laura Wiesböck: "Digitale Diagnosen"

In der Healing Hölle

Buchcover des Sachbuchs „Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend“ von Laura Wiesböck. Die Farbgebung ist grün-gelb.
© Zsolnay Verlag, Wien 2025

Laura Wiesböck

Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-TrendZsolnay Verlag, Wien 2025

176 Seiten

22,00 Euro

Von Benjamin Knödler |
Menschen diagnostizieren bei sich selbst ADHS, reichweitenstarke Influencer versprechen "Heilung" für Körper und Geist - psychische Gesundheit ist zum Social-Media-Trend geworden. Die Soziologin Laura Wiesböck geht dem kritisch nach.
"Vorsicht ein Trend geht um", sang das Duo "Mediengruppe Telekommander" schon 2004. Wer heute die neuesten Trends verstehen will, kommt um die sozialen Netzwerke wie TikTok oder Instagram nicht herum. Wo Influencerinnen ihre auch mal in die Millionen gehende Followerschaft bedienen, gehen Inhalte viral und verbreiten sich neue Trends in hoher Geschwindigkeit. Umso wichtiger ist ein von Vorsicht geprägter Blick auf sie. Das gilt auch für das Phänomen, das sich die Soziologin Laura Wiesböck in "Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend" vorgenommen hat.

Begriffe wie „Trauma“, „Triggern“ oder „Healing“ trenden in sozialen Netzwerken

Es ist ein weites Feld, geht es doch nicht nur um das Phänomen der selbstdiagnostizierten Erkrankungen von Depression bis ADHS, sondern auch um psychologische Begriffe wie "Trauma" oder "triggern". Sie werden in den sozialen Netzwerken ebenso gerne verwendet wie "Mental Health" oder "Healing". Gerade um das seelische Wohlbefinden und psychische Gesundheit sind auf Social Media ganze Geschäftsmodelle entstanden – nicht selten von sogenannten Expertinnen und Experten, die nur wenig mit der Thematik zu tun haben.
Die Sache mit den "Digitalen Diagnosen" ist aber auch darüber hinaus komplex. Lässt sich in der öffentlich thematisierten psychischen Erkrankung denn nicht auch ein Moment der Emanzipation sehen? Ein prinzipiell positives Potenzial erkennt Laura Wiesböck: Krankheiten werden entstigmatisiert. Menschen, die mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben, fühlen sich weniger allein. Doch ihr Gesamturteil bleibt kritisch.
Denn allzu oft steht die Inszenierung im Zentrum. Etwa bei Videos, in denen sich junge Frauen weinend mit trauriger Musik unterlegt filmen und diesen Zustand als Depression beschreiben. Wiesböck sieht in vielen dieser Fälle eher eine Inszenierung als Enttabuisierung, meint dies aber nicht als Vorwurf. Sich selbst für krank zu erklären, kann vielmehr auch eine Antwort auf eine Gesellschaft sein, die permanentes Funktionieren verlangt. Eine Diagnose wie ADHS kann als Erklärung für unkonzentriertes Verhalten herhalten – oder Teil der eigenen Identität werden. Auch das ist ein Problem.

Hyperindividualisierte Gesellschaft

So werden digitale Diagnosen zum Sinnbild einer hyperindividualisierten Gesellschaft. Es ist eine Stärke, dass Laura Wiesböck nicht in der Beschreibung des Phänomens verharrt, auch wenn sich wohl ein ganzes Buch mit den Geschichten schräger Internetpersönlichkeiten und ihrer noch schrägeren Heilsversprechen füllen ließe.
Stattdessen wagt sie sich auch an die weitreichenden Fragen, zum Beispiel, welche Rolle die zerstörerische Kraft des Neoliberalismus spielt, der die Menschen zu Einzelkämpfern macht. Sie erklären sich im Zweifel eher für krank, als das System in Frage stellen. Und statt auf Hilfe eines ohnehin zunehmend privatisierten Gesundheitssystem zu hoffen, suchen sie über die sozialen Netzwerke die Lösung ihrer Probleme in kostenpflichtigen Angeboten. Sie sollen ihnen dabei helfen, selbst wieder gesund zu werden, die eigenen Probleme in den Griff zu bekommen. Da wird Heilung schnell zur Hölle.
Dass bei dieser treffenden Analyse keine User oder Influencerinnen ausführlicher zu Wort kommen, ist bedauerlich, ihre persönliche Sichtweise hätte die Beobachtungen bereichert. Trotzdem steht am Ende ein erhellender Blick auf einen Trend, der symptomatisch für unsere Zeit steht. Große Hoffnung auf schnelle Heilung hat man am Ende allerdings nicht.
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