Lauren Elkin: "Flâneuse. Frauen erobern die Stadt"
Aus dem Englischen von Cornelia Röser
btb Verlag, München 2019
400 Seiten, 22 Euro
Wie flanierende Frauen die Großstädte erobert haben
Walter Benjamin, Franz Hessel oder Marcel Proust: Stets wandelten Männer als "Flâneure" durch Europas Großstädte. Ein neues Buch feiert die weibliche „Flâneuse“ und zeigt, dass das Flanieren bis heute ein emanzipatorischer Akt ist.
Ach Paris. Wenn es eine Stadt gibt, die man sich flanierend erobern muss, so ist es doch Paris. Mit seinen breiten Alleen, seinen Gassen, Plätzen und Parks, wo man sich doch immer ein bisschen so fühlt, als sei man in einen Film geraten. Genau so ist es auch Lauren Elkin ergangen, als sie das erste Mal nach Paris kam. Da hatte sie, die in einem ruhigen Vorort von New York aufgewachsen war, bereits ein Faible für die Großstadt entwickelt. Als Studentin in der Stadt, die niemals schläft.
"Ich fühlte mich in den Menschenmengen zu Hause, umgeben von Lärm und Neonleuchten, mit dem Supermarkt unten im Haus, der rund um die Uhr geöffnet hat, und dem äthiopischen Restaurant um die Ecke, in dem man fantastisches Essen zum Mitnehmen bekam; es war, als wäre ich, kaum dass ich aus dem Haus ging, wirklich Teil dieser Welt, ein gebender und nehmender Teil, und eins mit allen anderen."
Den Begriff des Flâneurs neu definieren
Bald beginnt Lauren Elkin stundenlang durch Städte zu flanieren und in ihrer jugendlichen Unschuld glaubt sie zunächst, das weite, nur scheinbar ziellose Gehen erfunden zu haben. Aber weil sie nicht nur viel geht, sondern auch viel liest, merkt sie bald, dass sie ihre Leidenschaft mit anderen Frauen teilt, mit Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. Virginia Woolf etwa, Georges Sand, Martha Gellhorn, Sophie Calle und Agnés Varda.
"Die Freude daran, durch die Stadt zu streifen, ist Männern und Frauen gleichermaßen zu eigen. Zu behaupten, es könne keine weibliche Version des Flâneurs geben, bedeutet, die Möglichkeiten, wie Frauen mit der Stadt in Kontakt stehen, auf die zu beschränken, wie Männer mit der Stadt interagiert haben. Wir können über gesellschaftliche Gepflogenheiten und Einschränkungen diskutieren, aber wir können nicht negieren, das Frauen da waren; wir müssen versuchen zu begreifen, was es für sie bedeutet hat, sich in der Stadt zu bewegen. Vielleicht liegt die Antwort darin, Frauen nicht in einen männlichen Begriff einpassen zu wollen, sondern den Begriff selbst neu zu definieren."
Frauen auf der Straße waren einst vor allem Prostituierte
Denn, so Lauren Elkin, anders als für den Flaneur sei es für die Flâneuse lange Zeit durchaus keine Selbstverständlichkeit gewesen, sich den öffentlichen Raum zu erobern. Frauen auf der Straße, das waren bis ins späte 19. Jahrhundert entweder Bedienstete oder Prostituierte. Erst die Metropolen des 20. Jahrhunderts eröffneten auch den Frauen die Möglichkeit als Flâneuse zugleich Teilnehmerin und Beobachterin des urbanen Geschehens zu sein, es für sich zu nutzen. So wie Virginia Woolf es in London tat, der Stadt, in der sie Teil der legendären Bloomsbury Group wurde.
"In den Straßen schürfte Woolf nach Drama, und sie füllte ihre Bücher mit den Menschen, vor allem den Frauen, die sie dort beim Vorübergehen, Arbeiten, Pausieren beobachtete. In einer Charakterstudie über eine Frau, der sie im Zug gegenüber saß, verkündete sie bekannter Weise, dass‚ alle Romane mit einer alten Dame in der Ecke gegenüber beginnen‘."
Doch Lauren Elkin belässt es nicht dabei, ihren historischen Vorbildern im wahrsten Sinne des Wortes zu folgen. Sie verknüpft deren Geschichten mit ihrer eigenen, lässt uns an ihren ganz persönlichen Eindrücken und Überlegungen teilhaben. Sie erzählt von unglücklichen Lieben, von prekären Lebenssituationen, von der Suche nach dem Sinn des Lebens. Dabei ist ihr Motor die permanenten Bewegung, nicht nur in der Stadt, sondern über Kontinente hinweg. So versucht sie in Venedig einen Roman zu schreiben und pendelt der Liebe wegen eine Weile zwischen Paris und Tokio. Eine Stadt, mit der diese Flâneuse des 21. Jahrhunderts jedoch nicht warm wird.
"Ich hatte versucht, die Stadt in den Straßen zu finden, aber dort war sie nicht. Um in Tokio zu flâneusieren, musste ich Treppen erklimmen, mit Aufzügen fahren, auf Leitern steigen, um das, was ich suchte, in den oberen Etagen oder auf den Dächern zu finden. Man kann nicht einfach durch die Stadt gehen und darauf warten, dass sich ihr Schönheit zeigt. Es ist nicht Paris."
Eine Nomadin zwischen den Kontinenten
Womit sich der Kreis wieder schließt, denn Lauren Elkin, die flanierende Amerikanerin, lebt mittlerweile in Paris. Auf leichte und dabei keineswegs oberflächliche Art untersucht sie in ihrem Buch, wie Frauen sich die Straßen dieser Welt erobert haben und, auch das, immer noch erobern müssen. Als Nomadin zwischen den Kontinenten macht Lauren Elkin ihr eigenes Leben zum Objekt für Reflexionen über den Charakter einer echten Flâneuse, der sich durch Mut und eine politische Haltung auszeichnet. Denn kein Raum, ganz sicher nicht der öffentliche, ist neutral, und auch im 21. Jahrhundert ist es mancherorten immer noch ein feministischer Akt, sich diesen Raum bewusst zu erobern. So kommt Lauren Elkin zu dem Schluss:
"Eine weibliche Flânerie, eine Flâneuserie, verändert nicht nur die Art, wie wir uns im Raum bewegen, sondern greift in die Struktur des Raums selbst ein. Wir fordern unser Recht ein, den Frieden zu stören, zu beobachten (oder nicht zu beobachten) und auf unsere Weise Raum einzunehmen (oder nicht einzunehmen) zu strukturieren (oder zu destrukturieren)."
Dass Lauren Elkin ausgerechnet Berlin bei ihrem Parcours um die Welt auslässt, ist natürlich äußerst schade, gäbe es hier doch sicher viel zu sagen über flanierende Frauen. Aber wer weiß, jetzt wo die Flâneuse in der Welt ist, findet sich vielleicht auch für ihre Berliner Schwester bald eine Biografin. Bis dahin flanieren wir mit Lauren Elkin und ihren Vorbildern erstmal weiter durch New York, Tokio, London, Venedig und natürlich durch Paris.