Montmartre-Cabaret „Le Chat Noir"

Hotspot des Pariser Nachtlebens

Eingang des Cabarets "Le Chat Noir"  in Paris in den 1950er-Jahren.
Ort zum Träumen: Der Eingang des Cabarets "Le Chat Noir" in Paris in den 1950er-Jahren. © Getty Images / Gamma Keystone France
Von Peter Mayer · 25.06.2022
Das Cabaret "Le Chat Noir" ist spätestens seit seiner Würdigung als Plakat weltbekannt. Sein Gründer Rodolphe Salis hatte den richtigen Riecher für Kunst und Publikum, schnell florierte das Pariser "Cabaret artistique". Worin lag die Faszination?
Rodolphe Salis gründete das Cabaret „Le Chat Noir” Ende 1881. Als das „Cabaret artistique“ am Boulevard de Rochechouart in Paris öffnete, war das glanzvolle französische Kaiserreich lange passé.
Claude Debussy und Erik Satie improvisierten am Piano. Der Polizeipräsident kam nicht inkognito, sondern um sich zu amüsieren, wie Minister der Dritten Republik oder der englische Kronprinz Albert Edward.
Salis pries sein Cabaret ungeniert als die grandioseste Schöpfung seit den Zeiten Julius Cäsars.
Plakat des "Le Chat Noir" im Pariser Montmartre.
Ikonisches Bild: "Le Chat Noir" öffnete am 18. November 1881. © imago / UIG
Die Schmach des verlorenen Krieges gegen Preußen schien verdrängt, und es war zehn Jahre her, dass das 72 Tage währende sozialistische Experiment der Pariser Kommune mit blutigem Häuserkampf, Massakern und Exekutionen niedergemacht worden war.

Auf der Suche nach dem Glück

Ins „Chat Noir“ drängten in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts allabendlich selbst ernannte Genies der Poesie, der Malerei und der Musik, dazu Menschen aus der bürgerlichen Welt, prominent oder unbekannt, aber alle mit Vorliebe für Nachtschwärmerei.
Man aß, trank, debattierte, präsentierte sich mutig auf einer kleinen Bühne oder hörte einfach nur zu. „Je cherche fortune“ sang Aristide Bruant, „Ich suche das Glück“. Diese Sehnsucht galt für alle Gäste von Rodolphe Salis, dem begnadeten Entertainer mit dem feinem Gespür fürs Geschäft. 
Hatte die Republik nur gemäßigten Schrittes zu sich selbst gefunden, so stiegen mit der Industrialisierung des Landes die Bevölkerungszahlen sprunghaft, die Metropole Paris zählte bald zweieinhalb Millionen Einwohner. Vor allem der 1860 offiziell eingemeindete Montmartre, der Märtyrerberg, erlebte einen fulminanten Zustrom.

Die Geburt des „Chat Noir“

Als Rodolphe Salis dreißig wurde, besann er sich darauf, mit etwas zu starten, was auch sein Vater nicht missbilligen konnte: mit einer Schankwirtschaft. Doch es sollte nicht einfach eine schummerige Pinte sein, sondern ein „Cabaret artistique“, wie es der Montmartre noch nicht kannte.
Nicht Menschen vom sogenannten Typ „Alphonse“ aus den Vierteln der einfachen Leute sollten die Gäste sein, sondern „les gommeux“. So hießen damals die jungen Schöngeister, arbeitsscheu und gebildet.
Ein Zeitungsfoto vom Intérieur  des "Le Chat Noir", 1896.
Intérieur des "Chat Noir", ein Zeitungsfoto für "Les cabarets artistiques" von 1896.© imago / CollJonas / Kharbine Tapabor
Fehlte noch der Name für das Etablissement. In jener Zeit waren die „tote Ratte“, der „rauchende Hund“ oder der „flinke Hase“ in Mode. Rodolphe Salis ließ sich „Le Chat Noir“ einfallen. Wahrscheinlich hat zur Namensfindung eine Erzählung von Edgar Allan Poe beigetragen, die Charles Baudelaire ins Französische übersetzt hatte und die den Titel „Le Chat Noir“ trug. Der schwarze Kater galt auch als Lieblingstier der Bohème wegen seiner nächtlichen Streifzüge und seines angeblichen libidinösen Eifers.
Illustration: Cabaret "Le chat noir" in Paris, 1887
Hier tobte das Leben. "Le chat noir" im Jahr 1887.© imago / Leemage
Kurz vor der Eröffnung hatte Rodolphe Salis den Teilzeit-Bohemien und dichtenden Staatsdiener Émile Goudeau kennengelernt. Spontan lud er ihn ein und schuf damit eine wesentliche Grundlage für den Erfolg seines „Schwarzen Katers“, denn Émile Goudeau schleppte zahlreich künstlerische Kundschaft an.

Neurose als kreative Triebfeder

Zu den Dichtern der ersten Stunde im „Chat Noir“ zählte auch Maurice Rollinat. Wenn sich der Mann ans Piano setzte, um sich beim Vortrag seiner Gedichte selbst zu begleiten, verstummte jedes Gespräch. Rollinat war der Meister des Makabren.
Im Jahr 1883 veröffentlichte Maurice Rollinat den Lyrikband „Neurosen“, „Les Névroses“. Einer Sammlung von Gedichten einen medizinischen Begriff für psychische Krankheiten als Titel zu geben, schien ungewöhnlich. Doch es passte zu der überreizten Gefühlslage, in die sich gegen Ende des Jahrhunderts viele Menschen manövriert hatten.
Neurosen und Neurasthenie grassierten als Volksleiden. Die Prognosen über die Folgen der Nervenschwäche würden, so hieß es, verheerender sein als alles, was Cholera und Pest, Tuberkulose, Alkohol und Syphilis in der Bevölkerung je angerichtet hatten.
Ob schneller sozialer, technischer und kultureller Wandel Schuld an diesen Phänomenen ohne organische Ursache waren? Die Erklärungen sind bis heute zahlreich und nicht immer überzeugend. Doch wie oft bei solchen Schreckensszenarien formierte sich auch eine Gegenbewegung.
Sie bewertete die Nervenschwäche nicht als Krankheit, sondern als schöpferisches Phänomen. Neurastheniker wurden zu genialen Pfadfindern der Kultur stilisiert, Nervosität galt als notwendige kulturelle Kraft.

Ort nationalistischer Gesinnung

Die Beiträge der Hundertschaft von Künstlern, die sich im „Chat Noir“ präsentierten, boten alle Schattierungen des Zeitgeistes. Obwohl Rodolphe Salis und seine Mitstreiter oft betonten, dass sie keinerlei Interesse an Politik hätten, lieferten sie zahlreiche keineswegs nur kabarettistisch gemeinte Gegenbeweise. Und wenn es um patriotische Gefühle ging, verstand man im „Chat Noir“ keinen Spaß.
Zu solchem Nationalismus gesellte sich die Verachtung der Demokratie im Status der Dritten Republik. Adolphe Willette veröffentlichte im Dezember 1887 auf dem Titel des „Courrier français“ eine Zeichnung mit dem Titel „Je suis la sainte démocratie. J‘attends mes amants“. Dargestellt ist eine bis auf die Jakobinermütze nackte Prostituierte, die auf der Guillotine hockt und auf Kundschaft wartet.
Auf der Rotlicht-Laterne am Gerüst der Tötungsmaschine steht die Zahl 93, die jeder begriff als Hinweis auf das Jahr 1793, in dem das Fallbeil in Massen jene köpfte, die sich der Demokratie widersetzten. Nun aber sei die Demokratie zum Hurendienst verkommen.
Bühnenbild für "Le Chat Noir" von Leon Adolphe Willette, 1884. Aus der Kollektion vom "Musee du Vieux Montmartre", Paris.
Bühnenbild für "Le Chat Noir" von Leon Adolphe Willette, 1884.© imago / World History Archive
Nationalismus, Antisemitismus oder Demokratiefeindlichkeit: Hatte das noch etwas zu tun mit dem Etablissement, für das Rodolphe Salis bei der Eröffnung geworben hatte? Entsprach das noch einem „Cabaret artistique der ganz neuen Art, einem Treffpunkt der Künstler und der eleganten Welt“? Die Antwort ist: leider ja. Nicht, weil Satire alles darf, konnte mit der Zeit auch auf übelste Weise ausgeteilt werden, sondern weil die Gäste bereit waren, es zu ertragen.
Mit dem großen Erfolg bildete sich im „Chat Noir“ eine illustre Gesellschaft, zu der man gehören wollte. Wer davon persönlich verschont blieb, amüsierte sich darüber, was anderen so zugemutet wurde.

Immer neue Ideen für die schwarze Katze

Das „Chat Noir“ entwickelte sich rasch zum Etablissement mit der höchsten allabendlichen Künstlerdichte auf dem Montmartre, wozu auch der Pharmazie-Student Alphonse Allais gehörte. „Clown der Logik und Logiker der Fantasie“ wurde er einmal genannt. Er produzierte mit Vorliebe ironische Sinnsprüche wie „Das Elend hat auch etwas Gutes, denn es unterdrückt die Angst vor Dieben“ oder „Wir sprechen davon, die Zeit totzuschlagen, als ob es nicht die Zeit wäre, die uns tötet“.
Ein historisches Foto von Rodolphe Salis, ein französischer Künstler und Gründer des "Le Chat Noir", Paris1897.
Pioniergeist: Rodolphe Salis (1851-1897) gründete "Le Chat Noir" im Montmartre.© picture alliance / The Print Collector / Heritage Images
Das „Chat Noir“ war seit der Eröffnung Ende 1881 immer gut besucht. Aber Rodolphe Salis genügte das nicht. Ständig ließ er sich etwas einfallen, um noch mehr ins Gespräch zu kommen. So war eines Tages im April 1882 zu erfahren, Rodolphe Salis sei tot. Urplötzlich verstorben.
Wenige Monate zuvor noch habe er sein Kabarett gegründet, diese wunderbare Wiederauferstehung der alten Zeiten, einen Tempel des Trödels. Seine letzten Worte lauteten: „Ich kann nicht weiterleben! Zola hat mir mit seinem Roman ‚Pot Bouille‘ die Idee gestohlen, die aus mir einen Nationaldichter und Erben von Hugo machen sollte. Adieu mein Vater, meine Brüder und du meine geliebte Frau, der ich ein blühendes Kabarett hinterlasse. Ich konnte kein großer Maler sein. Und Zola hat mich daran gehindert, ein großer Dichter zu werden. Traurig gehe ich von dannen. Adieu.“
Bestürzt von der Todesnachricht schickte Familie Salis ein Mitglied nach Paris. Am Eingang zum „Chat Noir“ war jedoch ein verwirrendes Schild zu lesen: „Wegen nationaler Trauer geöffnet“. Im Lokal fand ein stilvolles Leichenbegängnis statt. Am Ende trat putzmunter der „Tote“ auf und begrüßte seine Gäste.

Attraktion „Schattentheater“

Die große Leidenschaft von Rodolphe Salis aber war das Schattentheater. Und zu dessen Entdeckung war es ganz zufällig gekommen. Im Festsaal des „Chat Noir“ im zweiten Stock hatten eines Abends im Dezember 1885 Henri Rivière und Henry Somm eine von einer Gaslampe beleuchtete Leinwand gespannt. Zu einem martialischen Chanson, das Jules Jouy vortrug, bewegten sie hinter der Leinwand Soldaten, die sie aus Karton ausgeschnitten hatten. Später wurden daraus kunstvoll gefertigte Gestalten aus Zinkblech.
Schattentheater mit Szenen aus dem Leben Napoleons im "Chat Noir". Paris, 1887.
Schattentheater mit Szenen aus dem Leben Napoleons im "Chat Noir".© picture alliance / akg images
Rodolphe Salis hatte sofort begriffen: Schattentheater, das sollte die neue Attraktion in seinem Kabarett werden. In den folgenden zwölf Jahren wurden fast vier Dutzend eigens dafür geschaffene Stücke aufgeführt. Das Publikum quetschte sich die enge Treppe hinauf in den kleinen Saal, und zu den Premieren erschienen die Kritiker wie zu vielversprechenden Aufführungen der großen Pariser Theater.
Zwar waren die Schattengestalten auf der Leinwand nicht geeignet, Skandale zu entfachen. Dennoch war ihr Erfolg immens. Das brachte Rodolphe Salis Ende 1891 auf die Idee, mit einer Truppe auf Tournee durch Frankreich zu gehen.

„Le Chat Noir“ auf Tournee

In den Jahren 1894 bis 1896 unternahm die Truppe des „Chat Noir“ immer ausgedehntere Theaterreisen. Es gab Gastspiele in Algerien, in der Schweiz, ja sogar in Moskau und Sankt Petersburg.
Am 5. Januar 1897 startete eine erneute Tournee der Schattenspieler. Fast in jeder größeren Stadt Frankreichs wurde gespielt, in Dijon und Lyon, dann in Marseille, Nizza, Monte Carlo, anschließend im Südwesten Frankreichs. Nach ein paar Tagen Erholung in Paris ging es dann sofort wieder weiter.
Anfang März fühlte sich Rodolphe Salis plötzlich sehr schlecht, er musste die aufreibende Tour abbrechen, fuhr nach Naintré in seinen Turm und starb am 20. März 1897. Ein Leben unter Volldampf war nach 46 Jahren vorbei. Ohne den Chef und seine Inspiration erlosch auch abrupt die glanzvolle Ära des „Chat Noir“. Die einmalige Ausstattung des „Cabaret artistique“ kam unter den Hammer.

Weiterführende Literatur :

Joachim Radkau: „Das Zeitalter der Nervosität“. Hanser 1998.

Nabu Press (Hrsg.): „Les Gaites Du Chat Noir...“, Paris 2012

Paris-Musees Association  (Hrsg.): „Le cabaret du chat noir. L' esprit montmartrois“, Paris 1990

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
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