Frühling des Jahrhunderts
Skandal! In diese Rubrik fiel die Uraufführung des "Sacre du printemps" von Igor Strawinsky 1913 in Paris. Inzwischen zählt Strawinskys Ballett zu den herausragenden Orchesterwerken der Geschichte, und auch die Klavierfassung ist ein Meisterwerk.
Wenige Werke haben sich so in die Musik des 20. Jahrhunderts eingeschrieben wie das Ballett "Le sacre du printemps" von Igor Strawinsky. Als skandalös wurde 1913 die atavistische Choreographie über die brutale Opferung eines jungen Mädchens im heidnischen Russland empfunden.
Auch die Wildheit nie gehörter Rhythmen erregte Aufsehen, ebenso die schockierende wie geniale Orchesterbehandlung – von dem gespenstisch hohen Fagottsolo des Beginns über das wilde Nebeneinander folkloristischer und modernistischer Passagen bis hin zu den unisono stampfenden Akkordschlägen des Finales.
Wildheit aus Berechnung
Strawinskys "Sacre" hat das Orchester als Instrument neu definiert und ist damit über die Anforderungen einer Ballettmusik weit hinausgegangen. In einer entscheidenden Phase der Moderne, kurz vor dem ersten Weltkrieg, schrieb Strawinsky eine faszinierend urtümliche Musik, deren Wildheit allerdings kühle Berechnung ist.
Und auch wenn Strawinsky das Werk stets für sich reklamierte, ist es doch undenkbar ohne den Ausstatter Nikolai Roerich (der die Handlung erfand), den Impresario Sergej Diaghilew (der die Aufführung produzierte), den Tänzer Vaslav Nijinsky (der die umstrittene Choreographie schuf) und Pierre Monteux (der als Premieren-Dirigent musikalisches Neuland betrat).
Mit der "Sacre"-Partitur stieß die Musik in die komplexen Notationsformen der Moderne vor; kaum ein Stein blieb hier auf dem anderen. Allein die permanent wechselnden Metren machen das Werk zu einer handwerklichen Herausforderung der Extraklasse – daran hat sich bis heute nichts geändert.
Rudern verboten
Das Metier des Dirigenten musste sich an dieser Musik neu beweisen, denn herkömmliche Schlagtechniken genügten nicht mehr, um die Stimmen dieser großen Partitur zusammenzuhalten. Greifen wir willkürlich neun Takte heraus: 7/4; 3/4; 7/4; 3/8; 4/8; 7/4; 6/8; 5/8; 9/8 im taktweisen Wechsel, und das Ganze "Vivo" bei 144 Vierteln pro Minute. Wer hier mit seinen Armen bedeutungsschwer rudert, hat schon verloren.
Trotz dieser Schwierigkeiten ist der "Sacre du Printemps" schon früh Gegenstand prominenter Plattenproduktionen geworden, und mit dem Projekt "Rhythm is it" bewiesen der Dirigent Sir Simon Rattle und der Choreograph Royston Maldoom, dass der "Sacre" auch von Schulkindern getanzt werden und unmittelbar ansprechend sein kann.
Discographie startet beim Komponisten
Paradoxerweise zeigt ein Vergleich vieler Aufnahmen, dass gerade jene am wildesten wirken, deren Dirigenten den Takt besonders nüchtern oder gar abgeklärt vorgeben. Übrigens hat auch die von Strawinsky selbst erstellte Fassung für Klavier zu vier Händen – die der Komponist mit keinem Geringeren als mit Claude Debussy erstmals zu Gehör brachte – eine kleine, aber bemerkenswerte Diskographie entwickelt.
Grundlage dieser Sendung ist eine "Interpretationen"-Ausgabe, die 2013 zum 100-jährigen Jubiläum der "Sacre"-Uraufführung entstand. Inzwischen ist allerdings etwas geschehen, das angesichts der Prominenz des Werks nahezu unwahrscheinlich erschien und das eine erhebliche Erweiterung dieser "Interpretationen" notwendig machte.
Es sind einige Aufnahmen auf den Markt gekommen, die noch einmal völlig neue Fragen an diese Musik stellen. Und auch um eine der jüngsten Einspielungen der Klavierfassung wird man künftig nicht herumkommen, wenn es um den "Sacre" geht.