Leb wohl, geliebte, gehasste Heimat
In seinem Buch erzählt Gert Heidenreich von einem Hunsrück, in dem die Menschen ums Überleben kämpfen mussten und ihnen radikale Frömmigkeit die Luft zum Atmen nahm. Eine überzeugende, glaubwürdige Erzählung, die nun auch verfilmt wurde.
Nein, man möchte beim besten Willen nicht vor 200 Jahren im Hunsrück gelebt haben. Das Leben in einem der verlassensten Winkel Europas war eine einzige Prüfung. Armut hieß dort wirklich Armut - es ging für viele ums nackte Überleben. Das sonnenarme Klima brachte die Bauern an den Rand der Verzweiflung, die Abgeschiedenheit von den großen Handelswegen drängte fast alle Gewerke an den Rand; Aberglaube und radikale Frömmigkeit ließen kaum einen Ausweg für jene, die etwas anderes wollten als ein verarmtes, zurückgebliebenes Hunsrück.
Eine fast schon depressive Stimmung legte sich damals auf die ganze Region und Gert Heidenreich fängt dies in seiner Erzählung, die als Grundlage für den neuen Film von Edgar Reitz diente, voll und ganz ein. "Der liewe Gott hat unsern Hunsrück eefach vergess", seufzt jemand im Buch und dieser Satz trifft die Stimmung der Bewohner genau.
Wie ein altehrwürdiger Chronist - pflichtbewusst, aufmerksam und gutmütig gegenüber den "kleinen Leuten" - erzählt er die Geschichten von Schmieden, Schleifern, Glasern, Webern und Bauern: ihren täglichen Überlebenskampf, ihre kaputtgehenden Körper, ihre ermüdeten, zum Teil zerrütteten Familien. Politik? Ämter? Der Hunsrücker versucht, sie zu überstehen. Der Schmied Johann, eine der Hauptfiguren bei Heidenreich wie bei Reitz, vertraut einzig allein auf seine Gottesfurcht und auf sein Eisen: "Das Eisen überstand jede Dynastie und diente immer der nächsten."
Und doch will die nächste Generation nur noch eins: nichts wie weg. Wie gerufen kommen die berittenen Werber für das ferne Brasilien. Mögen preußische Naturforscher das Land erkunden, im Hunsrück klingt "Brasilien" einfach nur wie ein fernes Märchenland - gutes Wetter, viel zu essen, schöne Frauen. Vor allem aber: kostenlose Überfahrt und billiges Land zum Bewirtschaften. Heidenreich beschreibt, wie sich die jungen Bewohner für die Ausreise nach Südamerika entscheiden, jene Menschen, die im Umkreis von wenigen Kilometern groß geworden sind und für die Koblenz schon in einer anderen Welt liegt. Doch es bleibt ihnen keine andere Wahl. Im geschundenen Hunsrück will und kann keiner mehr bleiben.
Eine der eindrücklichsten Szenen dieser Erzählung ist die Beschreibung der langen Auswanderer-Trecks, die zu den Rheinschiffen strömen. Sie stimmen ein in den Gesang von der Heimat: "Und wenn mein Fuß im Lande steht, wo’s armen Leuten bessergeht: Auch dort denk ich in Liebe dein – Leb, Heimat, wohl, vergiss nicht mein." Nur einige, die nach ihren Eltern schauen müssen, bleiben da. Am Ende aber entlässt Gert Heidenreich den Leser mit einem Funken Hoffnung, sogar für den Hunsrück und ein bisschen Glauben an die Zukunft für seine dagebliebenen Bewohner.
Gert Heidenreichs Erzählung ist viel mehr als nur eine Filmvorlage. Sie ist vom Film nicht abhängig. Der Leser muss die Filme von Edgar Reitz nicht kennen, um ein vollständiges Leseerlebnis zu haben. Ganz im Gegenteil. Es empfiehlt sich, den Kinobesuch zu verschieben und erst die Erzählung zu lesen. Im klassischen, handwerklich genauen Erzählen kennt Gert Heidenreich sich aus. In linearer Chronologie, mit nur sanften Sprüngen zwischen den Szenen, aus der Perspektive eines über allem schwebenden Chronisten, genau im Hunsrücker Ton seiner Protagonisten und in den Details der Handwerkszünfte, legt der Autor eine überzeugende, glaubwürdige, bewegende Erzählung vor. Es sind die Geschichten der Vergessenen, Verarmten, die hier lebendig werden und für mehr stehen als nur für das Hunsrück. Er verschafft seinen Helden genau den Respekt, der den vielen um ihren Unterhalt kämpfenden Handwerkern und Bauern über die Jahrhunderte verwehrt worden ist.
Besprochen von Vladimir Balzer
Eine fast schon depressive Stimmung legte sich damals auf die ganze Region und Gert Heidenreich fängt dies in seiner Erzählung, die als Grundlage für den neuen Film von Edgar Reitz diente, voll und ganz ein. "Der liewe Gott hat unsern Hunsrück eefach vergess", seufzt jemand im Buch und dieser Satz trifft die Stimmung der Bewohner genau.
Wie ein altehrwürdiger Chronist - pflichtbewusst, aufmerksam und gutmütig gegenüber den "kleinen Leuten" - erzählt er die Geschichten von Schmieden, Schleifern, Glasern, Webern und Bauern: ihren täglichen Überlebenskampf, ihre kaputtgehenden Körper, ihre ermüdeten, zum Teil zerrütteten Familien. Politik? Ämter? Der Hunsrücker versucht, sie zu überstehen. Der Schmied Johann, eine der Hauptfiguren bei Heidenreich wie bei Reitz, vertraut einzig allein auf seine Gottesfurcht und auf sein Eisen: "Das Eisen überstand jede Dynastie und diente immer der nächsten."
Und doch will die nächste Generation nur noch eins: nichts wie weg. Wie gerufen kommen die berittenen Werber für das ferne Brasilien. Mögen preußische Naturforscher das Land erkunden, im Hunsrück klingt "Brasilien" einfach nur wie ein fernes Märchenland - gutes Wetter, viel zu essen, schöne Frauen. Vor allem aber: kostenlose Überfahrt und billiges Land zum Bewirtschaften. Heidenreich beschreibt, wie sich die jungen Bewohner für die Ausreise nach Südamerika entscheiden, jene Menschen, die im Umkreis von wenigen Kilometern groß geworden sind und für die Koblenz schon in einer anderen Welt liegt. Doch es bleibt ihnen keine andere Wahl. Im geschundenen Hunsrück will und kann keiner mehr bleiben.
Eine der eindrücklichsten Szenen dieser Erzählung ist die Beschreibung der langen Auswanderer-Trecks, die zu den Rheinschiffen strömen. Sie stimmen ein in den Gesang von der Heimat: "Und wenn mein Fuß im Lande steht, wo’s armen Leuten bessergeht: Auch dort denk ich in Liebe dein – Leb, Heimat, wohl, vergiss nicht mein." Nur einige, die nach ihren Eltern schauen müssen, bleiben da. Am Ende aber entlässt Gert Heidenreich den Leser mit einem Funken Hoffnung, sogar für den Hunsrück und ein bisschen Glauben an die Zukunft für seine dagebliebenen Bewohner.
Gert Heidenreichs Erzählung ist viel mehr als nur eine Filmvorlage. Sie ist vom Film nicht abhängig. Der Leser muss die Filme von Edgar Reitz nicht kennen, um ein vollständiges Leseerlebnis zu haben. Ganz im Gegenteil. Es empfiehlt sich, den Kinobesuch zu verschieben und erst die Erzählung zu lesen. Im klassischen, handwerklich genauen Erzählen kennt Gert Heidenreich sich aus. In linearer Chronologie, mit nur sanften Sprüngen zwischen den Szenen, aus der Perspektive eines über allem schwebenden Chronisten, genau im Hunsrücker Ton seiner Protagonisten und in den Details der Handwerkszünfte, legt der Autor eine überzeugende, glaubwürdige, bewegende Erzählung vor. Es sind die Geschichten der Vergessenen, Verarmten, die hier lebendig werden und für mehr stehen als nur für das Hunsrück. Er verschafft seinen Helden genau den Respekt, der den vielen um ihren Unterhalt kämpfenden Handwerkern und Bauern über die Jahrhunderte verwehrt worden ist.
Besprochen von Vladimir Balzer
Gert Heidenreich: Die andere Heimat
Droemer, München 2013
128 Seiten,12,99 Euro, als E-Book 10,99 Euro
Droemer, München 2013
128 Seiten,12,99 Euro, als E-Book 10,99 Euro
Edgar Reitz’ Verfilmung feiert am 28.9. in Simmern im Hunsrück Premiere, bundesweiter Kinostart ist am 3.10.