Literatur:
Le Corbusier: "Ausblick auf eine Architektur", Birkhäuser Verlag, Basel 2013
Vitruv: "Zehn Bücher über Architektur", übersetzt von Franz Reber, Anaconda Verlag, Köln 2019
Martin Heidegger: "Bauen – Wohnen – Denken", Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1952
Henry David Thoreau: "Walden oder vom Leben im Wald", Manesse Bibliothek, Köln 2020
Jay Shafer: "The Small House Book", Fabian Goppelsröder Tumbleweed Tiny House, Sonoma 2008
Heinrich Tessenow: "Hausbau und dergleichen", Grünberg, Weimar & Rostock 2011
Das vollständige Skript zu dieser Langen Nacht finden Sie hier.
Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur/Deutschlandfunk 2021.
"Aber in Hütten wohnet der Mensch…"
Hütten können heute durchaus luxuriös oder sogar urban sein. Die Vorstellung von der wackelig-windschiefen Bretterbude ist überholt und doch verbindet die modernste Cabin etwas mit der schlichten Kate und der einfachen Baracke eines Eremiten.
Als der 20-jährige Medizinstudent Georg Büchner in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1834 eine als Bauernzeitung getarnte aufrührerische Flugschrift gut vierzig Kilometer zu einer geheimen Druckerei in Offenbach schmuggelte, hatte er das achtseitige Pamphlet mit einer Parole überschrieben, deren Sprengkraft weit über den eigentlichen Anlass hinausreichen sollte: "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!"
Der Aufruf zur Revolution im Großherzogtum Hessen war ein Aufruf zur Revolte gegen die Unterdrückung insbesondere der Landbevölkerung in einer immer noch durch ständische Strukturen geprägten Gesellschaft. Gegenüber den herrschaftlichen Anwesen des Adels wird die beengte, ärmliche Behausung des einfachen Bauern zum Zeichen, unter dem sich die liberale, demokratische Bewegung versammelt.
Von der Urhütte zum Lifestyle
Schon der römische Architekturtheoretiker Vitruv hatte seine Überlegungen mit der Urhütte beginnen lassen. Den ersten Teil des zweiten seiner "Zehn Bücher über Architektur" widmet er dem "Ursprung der Gebäude". Die Entdeckung des Feuers führt zu Sozialität, zu Sprache und Gemeinschaft.
Die neue Gemeinschaft aber braucht einen Ort und so beginnen die Menschen, Laubhütten zu bauen, Höhlen zu graben und diese einfachen Behausungen immer weiter zu verbessern. Erfindungskraft und Wettbewerb führen bald schon zu komplexeren Architekturen, zu Häusern mit Grundmauern, Wänden aus Stein und gedeckten Dächern.
Ein prominenter Fan der Hütte war der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier. 1952 baute er sich seinen "Cabanon" an der französischen Riviera, das einzige von ihm für ihn selbst (beziehungsweise seine Frau) entworfene Gebäude. Ein von außen rustikales kleines Blockhaus, Grundriss 3,66 Meter auf 3,66 Meter, mit einer Deckenhöhe von 2,26 Metern.
Seiner Überzeugung nach ist die Architektur "unmittelbare Äußerung menschlicher Instinkte". Und als solche ist sie eine Kunst. In ihr herrscht eine Ur-Mathematik, die schon mit der ersten Hütte Ordnung im Chaos schafft.
Reduktion, ohne ärmlich zu wirken
Die angenommene, durchschnittliche Standardgröße eines Mannes wird Ausgangspunkt einer der Vorgabe des Goldenen Schnitts gehorchenden geometrischen Reihe. Ihr lassen sich die Werte für die Deckenhöhe, die Raumlänge und -breite der nach Le Corbusier menschengerechten Architektur bestimmen.
Reduktion wird hier zur Bedingung eines Häuschens, das nicht ärmlich sein soll, das durch die Beschränkung und den Rückgriff auf einfache Formen eine Atmosphäre der Fülle schaffen will. Eine Hütte, die durch ihre Proportionen besticht und durch ihr ganz eigenes Spiel mit ihrer Umgebung.
Die Inneneinrichtung des kleinen Hauses hatte Le Corbusier bis ins Detail durchgeplant. Jedes Möbel hatte seinen Platz, seine Funktion. Das Wohnen hier muss man sich wohl als tägliche Routine eingeübter Handgriffe, als sich wiederholende Abfolge exakter Bewegungen und Gesten vorstellen.
Hier ist der Alltag leicht wie sonst nirgendwo.
Die Hütte als Ort philosophischer Reflexion
Das märchenhaft Ungreifbare, mitunter auch Unheimliche färbt das Bild der Hütte in Deutschland mehr als das der französischen "Cabane".
Das kleine Häuschen ist mit der Romantik eines selbstbewussten Außenseitertums verbunden, eines Nonkonformismus, der auf das eigene Urteil vertraut. Die Hütte ist weniger Versteck als Ort authentischen Seins.
Zumal, wenn sie wie die des Philosophen Martin Heidegger im Schwarzwald hoch über dem städtischen Treiben der Ebene liegt. 1922 oberhalb des Örtchens Todtnauberg erbaut, war sie zunächst ohne Strom und fließend Wasser. "Off-Grid", würde man heute sagen.
Heidegger ist nicht der erste Philosoph in einfacher Behausung. Diogenes hatte sein Fass, Jean-Jacques Rousseau sein "refuge" im Park von Ermenonville und Ludwig Wittgenstein sein Häuschen am Ende des Sognefjords in Norwegen.
Kaum ein Philosoph vor Heidegger aber zelebrierte sein Hüttenleben so plakativ. Wer dem Denker des Seins wirklich nahekommen wollte, traf ihn nicht an der Universität, sondern pilgerte zu ihm nach Todtnauberg.
Hüttenleben – der Weg zur Entschleunigung
Am 4. Juli 1845 bezieht der gescheiterte Lehrer und mäßig erfolgreiche Schriftsteller Henry David Thoreau ein einfach konzipiertes Holzhaus am Walden Pond, nahe Concord in Massachusetts. Zwei Jahre sollte er in dieser Hütte leben.
Die literarische Verarbeitung des Aufenthalts, "Walden oder Leben in den Wäldern", erschien 1854, wurde zum Bestseller und Thoreau selbst zu einem der herausragenden US-amerikanischen Literaten und Denker. Er sieht die Menschheit in Gefahr, gerade jene Ruhe zu verlieren, die sie benötigt, um die Welt in einem ihr gemäßen Tempo wahrnehmen zu können.
So sucht Thoreau die Langsamkeit als Mittel gegen die Beschleunigung in der Moderne. Nicht als Pause und Erholung, sondern als Voraussetzung einer neuen Sensibilität für das wirklich Wichtige im Leben.
Siegeszug des Tiny House
Die Hütte steht als Raum außerhalb der Gesetze des Alltags und ist somit ein Ort der Autarkie und Unabhängigkeit. Gerade hierin liegt ihr utopisches Potenzial.
Auch die Anfang der Nullerjahre aufgekommene sogenannte Tiny-House-Bewegung ist von dieser Utopie eines anderen Lebens inspiriert. Wer heute eine Hütte baut, macht das meist nicht primär aus Platz- oder Geldmangel. Viel häufiger wird die Entscheidung bewusst für ein einfacheres und achtsameres Leben in der Natur getroffen.
Am 15. September 2008, als die Lehman Brothers Holdings Inc. Insolvenz beantragte, war der Höhepunkt der US-Immobilien- und Subprime-Markt-Krise erreicht. Nach jahrelangem Bauboom mit bedenkenlos vergebenen Krediten setzte die Pleite der New Yorker Investmentbank eine Kettenreaktion in Gang, an deren Ende sich die Menschen insbesondere in den USA reihenweise ohne Arbeit auf der Straße wiederfanden.
In einem Land mit plötzlich bis zu fünf Millionen Obdachlosen erhielt der Wohnraum eine neue dringliche Bedeutung. Auch die grundsätzliche Frage danach, wie Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überhaupt wohnen sollten, wurde neu gestellt.
Statt eines großen Anwesens schien nun das schnell bezahlte, leicht instand zu haltende und potenziell mobile kleine Häuschen Zeichen von Unabhängigkeit und Freiheit. So fand eine Bewegung neuen Zulauf, die ihren Ausgang Ende der Neunzigerjahre in Iowa genommen hatte. Hier war der Zeichenprofessor Jay Shafer mit seinem ersten so genannten "Tiny House" zum Pionier und Paten einer neuen Form der ‚Klaustrophilie‘ geworden.
Selbstbestimmung und individuelle Freiheit
Shafer verbindet die Idee der Mobilität mit dem amerikanischen Traum von Selbstbestimmung und individueller Freiheit auf eine grundsätzliche Weise. Das Tiny House wird ihm nicht nur zur Möglichkeit, sich von falschen, materiellen Erwartungen zu lösen. In einem Thoreau'schem Duktus stellt er sein Leben in der Hütte auch als Protest gegen die Bauvorschriften seines Landes dar, die mit ihren Wohnraummindestgrößen und der Gebietsregulierung verhinderten, dass Menschen sich ihr Obdach nach eigenen Bedürfnissen zimmern konnten.
Die Reduktion auf das Notwendigste ist mehr als nur besonders praktisch, sie führt einen letztlich zur Urform. Sie wird zum Ausdruck der den Kosmos wie die menschliche Vorstellung und Kultur durchziehenden, ordnenden Kräfte. Die "Ur-Hütte" wird als "Ur-Zeichen" einer durch "Sacred Geometry", "heilige Geometrie", bestimmten universalen Symbolsprache verstanden.
In der Tiny-House-Bewegung verbinden sich unterschiedliche Tendenzen unserer Zeit: Die Sehnsucht nach Befreiung von Ballast, nach neuer Sensibilität und die Nähe zur Natur schreibt das gegenkulturelle Kapitel der Hüttengeschichte fort.
Eine Wohnutopie fürs 21. Jahrhundert
Die Auflösung urbaner Ballungszentren zugunsten überall verteilter Minihäuser würde zu einer dramatische Zersiedelung der Landschaft führen. So sehr die Raumnutzung im Inneren optimiert ist – nach Außen verbrauchen auch die kleinsten dieser Häuschen schlicht zu viel Platz.
Hinzu kommt, dass der Heizenergiebedarf in einem rundum durch Außenwände eingehegten Raum den Verbrauch in Wohnungen, die sich mit ihren Nachbarn Wände teilen, um ein Vielfaches übersteigt.
Auf der Suche nach neuen Lebensformen hat der Berliner Designer Werner Aisslinger schon 2003 seinen "LoftCube" vorgestellt. Das kleine, futuristisch anmutende Haus ist nicht als Hütte für den Wald gedacht, sondern als Loft über den Großstadtdächern.
Der Cube lässt sich verhältnismäßig einfach demontieren, in zwei Überseecontainern transportieren und per Kran an seinen neuen Standort heben.
Und doch ist er sicher kein Obdach für einfache Wanderarbeiter. Mit seinen 39 Quadratmetern rundum verglaster, exklusiver Wohnlandschaft ist er die selbstbewusst entworfene Wohnutopie für den urbanen Nomadismus des 21. Jahrhunderts. Auf vier mittig gesetzten Füßen wirkt der "LoftCube" ein wenig wie ein eben zur Landung ansetzendes Ufo.
Ist das Comeback der Hütte somit lediglich der konsequente nächste Schritt einer langen Entwicklung? Die Zivilisation, die im Zeitalter der Digitalität zu ihren Anfängen zurückkehrt?
Am Ende kommt man zu der Erkenntnis: So klein die Hütte per definitionem ist, so viele unterschiedliche Lebensentwürfe, Weltanschauungen und Ideale, so viele Utopien und manchmal auch Dystopien passen in sie hinein.