Leben durch den Tod eines anderen
"Ich kann nur noch hier sein und hier sitzen und irgendwas erzählen, weil jemand so großzügig war, seine Organe zu spenden", sagt der Autor David Wagner. Er habe sich deshalb verpflichtet gefühlt, in seinem neuen Roman diese Geschichte zu erzählen.
Liane von Billerbeck: Schon von Kindheit an hat er wegen einer Immunerkrankung eine kaputte Leber, doch mithilfe von Medikamenten lebt er über 20 Jahre mit dem kranken Organ. Doch eines Tages drohen dessen Funktionen auszusetzen. Nun ist klar: Ein Spenderorgan muss her. Für den Protagonisten des autobiografischen Romans des Autors David Wagner beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Ihm ist bewusst, dass, wenn er leben will, ein anderer erst gestorben sein muss. Schließlich kommt der erlösende und zugleich Angst einflößende Anruf aus dem Krankenhaus: Es gibt einen Spender. Nach erfolgreicher Operation folgt eine lange Phase der Rekonvaleszenz.
All das hat David Wagner in seinem Roman "Leben" verarbeitet, der jetzt auch für den Buchpreis der Leipziger Messe nominiert ist, und David Wagner ist heute mein Gast. Herzlich Willkommen!
David Wagner: Guten Tag!
von Billerbeck: Als Sie gerade mal zwölf Jahre alt waren, da stellte sich heraus, dass Sie an einer Immunerkrankung leiden und Ihre Leber in Teilen kaputt war. Wie hat das Ihr Leben damals verändert?
Wagner: Damals war ich natürlich sehr überrascht und von da an eigentlich permanent in Behandlung. Am Anfang war das ja sehr schwierig, herauszufinden überhaupt, was für eine Krankheit das ist, die die Leber zerstört, weil die … eine Autoimmunhepatitis, also es ist eigentlich eine Autoimmunkrankheit.
von Billerbeck: Das heißt, der Körper richtet sich gegen sich selbst.
Wagner: Ja, er richtet sich gegen eigene Organe. Also eine der bekanntesten Autoimmunkrankheiten ist Rheuma zum Beispiel. Es muss erst mal herausgefunden werden, was da passiert. Da begann eine kleine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser, und dann hatte ich das große Glück, an einen sehr guten Arzt in der Uniklinik Bonn zu geraten, der für mich, weil die Zerstörung der Leber schon so weit fortgeschritten war, eigentlich eine Therapie erfunden hat.
Und ironischerweise war das die gleiche Therapie, die damals frisch transplantierte Patienten erhielten. Diese Medikamente hatten dann immer schwere Nebenwirkungen auch, und das war eigentlich immer so der Indikator für meine Krankheit, die Nebenwirkungen der Medikamente. Aber ansonsten dann eben habe ich eigentlich ein relativ normales Leben führen können.
von Billerbeck: Kann man das, wenn man ein zwölfjähriger Junge ist? Das ist ja ein Alter, wo man sehr aktiv ist, sehr viel sich bewegt, Sport macht, verrückte Sachen ausprobiert.
Wagner: Ja, also ich muss sagen, ich habe eigentlich trotzdem Sport gemacht. Weil ich den Sportunterricht in der Schule ziemlich langweilig fand, habe ich mich da befreien lassen, habe aber gleichzeitig mit meinem Bruder Regattasegeln berieben und an den deutschen Meisterschaften teilgenommen.
von Billerbeck: Das ging?
Wagner: Ja. Ich muss zugeben, dass ich die Krankheit damals auch gerne benutzt habe, um mich in der Schule zu entschuldigen, weil ich das da auch oft langweilig fand, und da bin ich lieber spazieren gegangen. Aber das hat jetzt meiner schulischen Leistung damals auch keinen Abbruch getan.
von Billerbeck: Trotzdem ist das ja so eine Schwelle zwischen Kindheit und Jugend, zwölf, da befindet man sich ja so in so einem Zwischenalter.
Wagner: Ich muss allerdings sagen: Es gibt so leichte Verschiebungen. Also wir reden ja eigentlich über das Buch und über diesen Protagonisten in diesem Buch, und wenn ich mich ganz richtig erinnere, ist der im Buch ein klein bisschen jünger, als ich in Wirklichkeit … also als meine Geschichte war.
Es ist auch ein Roman einer Krankheit. Also es ist alles wahr in diesem Buch oder es ist fast so passiert, aber trotzdem gibt es leichte Verschiebungen, und die musste ich eben vornehmen, um diese ungeheure Geschichte dann beschreiben zu können, die ja dann nach einer längeren Krankheit, die ich oft auch versucht habe zu ignorieren, eben dann in dieser Transplantation kulminiert hat.
von Billerbeck: Trotzdem ist ja so eine Diagnose mit großen Ängsten verbunden. Das kann man auch als Zehn- oder Zwölfjähriger kaum von sich weg halten, egal ob als Romanheld oder als ganz lebendiger David Wagner.
Wagner: Ja, es ist natürlich ein Bewusstsein für Endlichkeit, was ich vielleicht relativ früh entwickelt habe, oder der Gedanke, ja, so ewig wird das Leben vielleicht nicht dauern. Und der junge Mensch denkt daran ja eigentlich als allerletztes, der hält sich ja eigentlich für unsterblich und macht auch deswegen oft so verrückte Dinge. Die habe ich ja auch gerne gemacht, ja.
von Billerbeck: Und wenn man in so einem frühen Alter dann lernt, du bist eben möglicherweise nicht unsterblich, das Leben kann relativ kurz sein – was folgt daraus?
Wagner: Natürlich kann man da manchmal resignieren, aber andererseits ist das auch eine ungeheure Motivation, wenn man weiß, es ist endlich oder man hat eine gewisse Frist, und so ein gewisses Fristendenken setzt dann ein. Also ich will gar nicht abstreiten, dass mir das für meine Arbeit als Autor, Schriftsteller eigentlich sehr zuträglich war, dass ich früh wusste: Das und das ist endlich und vielleicht habe ich nur so und so viel Zeit, und die Zeit muss ich nutzen.
von Billerbeck: Nun wissen wir ja, dass dann der Zusammenbruch kam, und nur ein glücklicher Zufall sorgte dafür, dass der Weg ins Krankenhaus gefunden wurde. Dann begann das Warten auf ein Spenderorgan. Wie erlebt man denn diese Zeit zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit?
Wagner: Ja, das Wort, was es am besten beschreibt, das haben Sie schon genannt, das ist das Zwischen. Also ich nenne das eigentlich das Zwischenreich ein bisschen, also lange Krankenhausaufenthalte, dann wieder zu Hause, dann, was mit einer schweren Leberkrankheit dann einhergeht, manchmal Dämmerzustände oder so eine permanente Müdigkeit. Die Leber ist ja ein Organ, eigentlich ein unterschätztes Organ, was ja den Körper ständig auch entgiftet, und wenn das nicht mehr funktioniert, dann kommt es eben zu Selbstvergiftung im Körper.
Und rückblickend habe ich eben versucht, diese Stimmung auch zu beschreiben, in dem Roman ist das so ein bisschen ein Dämmern und ein Leben im Zwischenreich. Und eben das Krankenhaus – das ja ein Ort ist, der ist auch nicht ganz im Leben, aber er ist auch noch nicht auf der anderen Seite, aber es gibt da so Türen auch in die andere Seite, und manchmal … –, also das ist natürlich literarisch ein sehr interessanter Ort, und deswegen spielt das Buch eigentlich die meiste Zeit auch in diesem Krankenzimmer.
von Billerbeck: Sie haben in Ihrem Buch auch Berichte von Unfallopfern, Nachrichten von Unfallopfern abgedruckt, die Sie gesammelt haben. Warum das?
Wagner: Ja, das sind eigentlich über die Jahre gesammelte kleine Meldungen, die dann eigentlich zu so Siebenzeilern verarbeitet sind, kleine Gedichte. Ja, das ist eine gewisse Faszination oder ich unterstelle das diesem Protagonisten, der sammelt die in dem Buch, und natürlich bin ich das zum Teil auch selbst. Das sind halt Meldungen, die man jeden Tag, jeden zweiten Tag in der Zeitung finden kann und die da immer so wie ein Gewürz im Alltag stehen, das sind halt oft kuriose Todesfälle.
Man liest sie fasziniert und man liest sie als Zeugnisse von Leben. Die Menschen sind gestorben, und dann lässt sich ihr Leben plötzlich erzählen. Und das ist eben auch ein Aspekt dieses Buches, das Buch heißt "Leben", weil es geht um das Leben, aber es geht auch um viele Leben, also um diese Leben, die erzählt werden, und das sind so die kürzesten Leben, die ihre größte Bedeutung vielleicht in einem kuriosen Tod haben und der die dann plötzlich erzählenswert macht, ihr Leben.
von Billerbeck: Gerade bei einer Transplantation ist es ja so, dass einer Leben geschenkt bekommt, weil jemand anders gestorben ist und dessen Organ zufällig zu einem passt. Wie geht man damit um? Also es ist ein Fremdkörper, der einem das Leben rettet, von jemand anderem, der gestorben ist.
Wagner: Ja, das ist die größte Geschichte oder das Unglaubliche, was da drinsteckt, und das ist auch der Grund, warum ich das Buch schreiben musste, warum ich mich immer verpflichtet fühle, diese Geschichte zu erzählen, weil: Ich kann nur noch hier sein und hier sitzen und irgendwas erzählen, weil jemand so großzügig war, seine Organe zu spenden. Also das ist eine Sache, an die ich jeden Tag denken muss, und das bringt auch eine gewisse Verpflichtung mit sich.
von Billerbeck: Für Sie selbst jetzt, mit Ihrem Leben sorgsam umzugehen, weil doch ein zweites Leben in Ihnen steckt?
Wagner: Ja.
von Billerbeck: Das klingt jetzt sehr pathetisch, aber …
Wagner: Das ist manchmal eine Sicht, das zu sehen. Transplantierte Patienten oder Patientenorganempfänger haben natürlich verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen, und das ist natürlich sehr interessant. Man kann natürlich versuchen, das total wegzudenken und zu sagen, ja, ich habe jetzt ein neues Körperteil eingebaut bekommen, schön. Das mag funktionieren.
Man gerät natürlich in ein Nachdenken über sich selbst. Was ist denn dann der Körper eigentlich, oder was bin ich, wenn plötzlich ein Teil von mir ein anderer ist, und steckt vielleicht ein Stück von einem anderen in mir, oder wessen Geschichte erzähle ich dann?
Ich habe nun das Glück, dass ich das in dem Buch so schreiben kann und der Protagonist, der stellt sich eben dann auch vor, dass natürlich … Ein Imaginationsraum öffnet sich natürlich da. Also es gibt so ein Bild der romantischen Liebe zu dieser Verstorbenen.
von Billerbeck: Sie erfahren ja nicht, wer das war. Haben Sie versucht, das rauszukriegen?
Wagner: Nein. Man erfährt das nicht und man kann das auch nicht erfahren und das ist auch zur Sicherheit beider Seiten. Natürlich gibt es manchmal diese Frage, aber ich glaube, es wäre nicht besser, wenn man das wüsste. Manchmal denke ich, das ist noch jemand, da ist noch was anderes in mir. Nur durch diese Person habe ich ein neues Leben und ein zweites Leben.
von Billerbeck: Und eine neue Geschichte und einen neuen Roman.
Wagner: Ja.
von Billerbeck: Der für Ihre Verhältnisse sehr dick ist, das haben Sie selbst gesagt, ein Schmöker fast, 300 Seiten.
Wagner: Ja.
von Billerbeck: Das heißt, da Sie ja sehr an jedem Wort arbeiten – war die Arbeit hier noch schwieriger, wenn man so ein dickes Buch, vergleichsweise, geschrieben hat?
Wagner: Sagen wir mal, das Ereignis oder die Geschichte, das ist ja jetzt bald sieben Jahre her. Ich habe halt lange gebraucht, um eine Position dazu zu finden und um das erzählen zu können und um diese Geschichte in dieser Ungeheuerlichkeit immer fassen zu können. Ich wache auch heute noch manchmal auf und denke mir so: Ist das wirklich passiert?
Und ich muss irgendwie das erzählen und immer wieder erzählen und muss da auch wissen, was da hineingehört, und das ist natürlich ein langes Überarbeiten, und viele, viele kleine Geschichten fließen dann da ein.
Ja, also mein Schreiben ist eigentlich ein Immer-Überarbeiten. Aber um ehrlich zu sein: Das Buch ist eigentlich immer dünner geworden, also es war mal dicker, es ist so ein Komprimierungsprozess. Wenn ich noch ein paar Jahre weitergearbeitet hätte, wären am Schluss vielleicht nur 100 Seiten übrig geblieben, aber dann war es mal gut irgendwann.
von Billerbeck: David Wagner war mein Gast, der Schriftsteller, dessen Buch "Leben" jetzt bei Rowohlt erschienen ist und außerdem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Wagner: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
All das hat David Wagner in seinem Roman "Leben" verarbeitet, der jetzt auch für den Buchpreis der Leipziger Messe nominiert ist, und David Wagner ist heute mein Gast. Herzlich Willkommen!
David Wagner: Guten Tag!
von Billerbeck: Als Sie gerade mal zwölf Jahre alt waren, da stellte sich heraus, dass Sie an einer Immunerkrankung leiden und Ihre Leber in Teilen kaputt war. Wie hat das Ihr Leben damals verändert?
Wagner: Damals war ich natürlich sehr überrascht und von da an eigentlich permanent in Behandlung. Am Anfang war das ja sehr schwierig, herauszufinden überhaupt, was für eine Krankheit das ist, die die Leber zerstört, weil die … eine Autoimmunhepatitis, also es ist eigentlich eine Autoimmunkrankheit.
von Billerbeck: Das heißt, der Körper richtet sich gegen sich selbst.
Wagner: Ja, er richtet sich gegen eigene Organe. Also eine der bekanntesten Autoimmunkrankheiten ist Rheuma zum Beispiel. Es muss erst mal herausgefunden werden, was da passiert. Da begann eine kleine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser, und dann hatte ich das große Glück, an einen sehr guten Arzt in der Uniklinik Bonn zu geraten, der für mich, weil die Zerstörung der Leber schon so weit fortgeschritten war, eigentlich eine Therapie erfunden hat.
Und ironischerweise war das die gleiche Therapie, die damals frisch transplantierte Patienten erhielten. Diese Medikamente hatten dann immer schwere Nebenwirkungen auch, und das war eigentlich immer so der Indikator für meine Krankheit, die Nebenwirkungen der Medikamente. Aber ansonsten dann eben habe ich eigentlich ein relativ normales Leben führen können.
von Billerbeck: Kann man das, wenn man ein zwölfjähriger Junge ist? Das ist ja ein Alter, wo man sehr aktiv ist, sehr viel sich bewegt, Sport macht, verrückte Sachen ausprobiert.
Wagner: Ja, also ich muss sagen, ich habe eigentlich trotzdem Sport gemacht. Weil ich den Sportunterricht in der Schule ziemlich langweilig fand, habe ich mich da befreien lassen, habe aber gleichzeitig mit meinem Bruder Regattasegeln berieben und an den deutschen Meisterschaften teilgenommen.
von Billerbeck: Das ging?
Wagner: Ja. Ich muss zugeben, dass ich die Krankheit damals auch gerne benutzt habe, um mich in der Schule zu entschuldigen, weil ich das da auch oft langweilig fand, und da bin ich lieber spazieren gegangen. Aber das hat jetzt meiner schulischen Leistung damals auch keinen Abbruch getan.
von Billerbeck: Trotzdem ist das ja so eine Schwelle zwischen Kindheit und Jugend, zwölf, da befindet man sich ja so in so einem Zwischenalter.
Wagner: Ich muss allerdings sagen: Es gibt so leichte Verschiebungen. Also wir reden ja eigentlich über das Buch und über diesen Protagonisten in diesem Buch, und wenn ich mich ganz richtig erinnere, ist der im Buch ein klein bisschen jünger, als ich in Wirklichkeit … also als meine Geschichte war.
Es ist auch ein Roman einer Krankheit. Also es ist alles wahr in diesem Buch oder es ist fast so passiert, aber trotzdem gibt es leichte Verschiebungen, und die musste ich eben vornehmen, um diese ungeheure Geschichte dann beschreiben zu können, die ja dann nach einer längeren Krankheit, die ich oft auch versucht habe zu ignorieren, eben dann in dieser Transplantation kulminiert hat.
von Billerbeck: Trotzdem ist ja so eine Diagnose mit großen Ängsten verbunden. Das kann man auch als Zehn- oder Zwölfjähriger kaum von sich weg halten, egal ob als Romanheld oder als ganz lebendiger David Wagner.
Wagner: Ja, es ist natürlich ein Bewusstsein für Endlichkeit, was ich vielleicht relativ früh entwickelt habe, oder der Gedanke, ja, so ewig wird das Leben vielleicht nicht dauern. Und der junge Mensch denkt daran ja eigentlich als allerletztes, der hält sich ja eigentlich für unsterblich und macht auch deswegen oft so verrückte Dinge. Die habe ich ja auch gerne gemacht, ja.
von Billerbeck: Und wenn man in so einem frühen Alter dann lernt, du bist eben möglicherweise nicht unsterblich, das Leben kann relativ kurz sein – was folgt daraus?
Wagner: Natürlich kann man da manchmal resignieren, aber andererseits ist das auch eine ungeheure Motivation, wenn man weiß, es ist endlich oder man hat eine gewisse Frist, und so ein gewisses Fristendenken setzt dann ein. Also ich will gar nicht abstreiten, dass mir das für meine Arbeit als Autor, Schriftsteller eigentlich sehr zuträglich war, dass ich früh wusste: Das und das ist endlich und vielleicht habe ich nur so und so viel Zeit, und die Zeit muss ich nutzen.
von Billerbeck: Nun wissen wir ja, dass dann der Zusammenbruch kam, und nur ein glücklicher Zufall sorgte dafür, dass der Weg ins Krankenhaus gefunden wurde. Dann begann das Warten auf ein Spenderorgan. Wie erlebt man denn diese Zeit zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit?
Wagner: Ja, das Wort, was es am besten beschreibt, das haben Sie schon genannt, das ist das Zwischen. Also ich nenne das eigentlich das Zwischenreich ein bisschen, also lange Krankenhausaufenthalte, dann wieder zu Hause, dann, was mit einer schweren Leberkrankheit dann einhergeht, manchmal Dämmerzustände oder so eine permanente Müdigkeit. Die Leber ist ja ein Organ, eigentlich ein unterschätztes Organ, was ja den Körper ständig auch entgiftet, und wenn das nicht mehr funktioniert, dann kommt es eben zu Selbstvergiftung im Körper.
Und rückblickend habe ich eben versucht, diese Stimmung auch zu beschreiben, in dem Roman ist das so ein bisschen ein Dämmern und ein Leben im Zwischenreich. Und eben das Krankenhaus – das ja ein Ort ist, der ist auch nicht ganz im Leben, aber er ist auch noch nicht auf der anderen Seite, aber es gibt da so Türen auch in die andere Seite, und manchmal … –, also das ist natürlich literarisch ein sehr interessanter Ort, und deswegen spielt das Buch eigentlich die meiste Zeit auch in diesem Krankenzimmer.
von Billerbeck: Sie haben in Ihrem Buch auch Berichte von Unfallopfern, Nachrichten von Unfallopfern abgedruckt, die Sie gesammelt haben. Warum das?
Wagner: Ja, das sind eigentlich über die Jahre gesammelte kleine Meldungen, die dann eigentlich zu so Siebenzeilern verarbeitet sind, kleine Gedichte. Ja, das ist eine gewisse Faszination oder ich unterstelle das diesem Protagonisten, der sammelt die in dem Buch, und natürlich bin ich das zum Teil auch selbst. Das sind halt Meldungen, die man jeden Tag, jeden zweiten Tag in der Zeitung finden kann und die da immer so wie ein Gewürz im Alltag stehen, das sind halt oft kuriose Todesfälle.
Man liest sie fasziniert und man liest sie als Zeugnisse von Leben. Die Menschen sind gestorben, und dann lässt sich ihr Leben plötzlich erzählen. Und das ist eben auch ein Aspekt dieses Buches, das Buch heißt "Leben", weil es geht um das Leben, aber es geht auch um viele Leben, also um diese Leben, die erzählt werden, und das sind so die kürzesten Leben, die ihre größte Bedeutung vielleicht in einem kuriosen Tod haben und der die dann plötzlich erzählenswert macht, ihr Leben.
von Billerbeck: Gerade bei einer Transplantation ist es ja so, dass einer Leben geschenkt bekommt, weil jemand anders gestorben ist und dessen Organ zufällig zu einem passt. Wie geht man damit um? Also es ist ein Fremdkörper, der einem das Leben rettet, von jemand anderem, der gestorben ist.
Wagner: Ja, das ist die größte Geschichte oder das Unglaubliche, was da drinsteckt, und das ist auch der Grund, warum ich das Buch schreiben musste, warum ich mich immer verpflichtet fühle, diese Geschichte zu erzählen, weil: Ich kann nur noch hier sein und hier sitzen und irgendwas erzählen, weil jemand so großzügig war, seine Organe zu spenden. Also das ist eine Sache, an die ich jeden Tag denken muss, und das bringt auch eine gewisse Verpflichtung mit sich.
von Billerbeck: Für Sie selbst jetzt, mit Ihrem Leben sorgsam umzugehen, weil doch ein zweites Leben in Ihnen steckt?
Wagner: Ja.
von Billerbeck: Das klingt jetzt sehr pathetisch, aber …
Wagner: Das ist manchmal eine Sicht, das zu sehen. Transplantierte Patienten oder Patientenorganempfänger haben natürlich verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen, und das ist natürlich sehr interessant. Man kann natürlich versuchen, das total wegzudenken und zu sagen, ja, ich habe jetzt ein neues Körperteil eingebaut bekommen, schön. Das mag funktionieren.
Man gerät natürlich in ein Nachdenken über sich selbst. Was ist denn dann der Körper eigentlich, oder was bin ich, wenn plötzlich ein Teil von mir ein anderer ist, und steckt vielleicht ein Stück von einem anderen in mir, oder wessen Geschichte erzähle ich dann?
Ich habe nun das Glück, dass ich das in dem Buch so schreiben kann und der Protagonist, der stellt sich eben dann auch vor, dass natürlich … Ein Imaginationsraum öffnet sich natürlich da. Also es gibt so ein Bild der romantischen Liebe zu dieser Verstorbenen.
von Billerbeck: Sie erfahren ja nicht, wer das war. Haben Sie versucht, das rauszukriegen?
Wagner: Nein. Man erfährt das nicht und man kann das auch nicht erfahren und das ist auch zur Sicherheit beider Seiten. Natürlich gibt es manchmal diese Frage, aber ich glaube, es wäre nicht besser, wenn man das wüsste. Manchmal denke ich, das ist noch jemand, da ist noch was anderes in mir. Nur durch diese Person habe ich ein neues Leben und ein zweites Leben.
von Billerbeck: Und eine neue Geschichte und einen neuen Roman.
Wagner: Ja.
von Billerbeck: Der für Ihre Verhältnisse sehr dick ist, das haben Sie selbst gesagt, ein Schmöker fast, 300 Seiten.
Wagner: Ja.
von Billerbeck: Das heißt, da Sie ja sehr an jedem Wort arbeiten – war die Arbeit hier noch schwieriger, wenn man so ein dickes Buch, vergleichsweise, geschrieben hat?
Wagner: Sagen wir mal, das Ereignis oder die Geschichte, das ist ja jetzt bald sieben Jahre her. Ich habe halt lange gebraucht, um eine Position dazu zu finden und um das erzählen zu können und um diese Geschichte in dieser Ungeheuerlichkeit immer fassen zu können. Ich wache auch heute noch manchmal auf und denke mir so: Ist das wirklich passiert?
Und ich muss irgendwie das erzählen und immer wieder erzählen und muss da auch wissen, was da hineingehört, und das ist natürlich ein langes Überarbeiten, und viele, viele kleine Geschichten fließen dann da ein.
Ja, also mein Schreiben ist eigentlich ein Immer-Überarbeiten. Aber um ehrlich zu sein: Das Buch ist eigentlich immer dünner geworden, also es war mal dicker, es ist so ein Komprimierungsprozess. Wenn ich noch ein paar Jahre weitergearbeitet hätte, wären am Schluss vielleicht nur 100 Seiten übrig geblieben, aber dann war es mal gut irgendwann.
von Billerbeck: David Wagner war mein Gast, der Schriftsteller, dessen Buch "Leben" jetzt bei Rowohlt erschienen ist und außerdem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Wagner: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.