Leben im Ei

Von Helmut Böttiger |
Das handliche Suhrkamp-Bändchen "Wir leben im Ei" zeigt den Geschichtenerzähler Grass auf zum Teil ungewöhnliche Weise. Es versammelt Texte von den Anfängen als unbekannter Versemacher bis hin zu Ausschnitten aus dem opulenten Band "Mein Jahrhundert", der kurz vor der Verleihung des Nobelpreises an ihn erschien.
Eines hat der große Verleger Siegfried Unseld nie geschafft: den großen Gegenwartsautor und Mitstreiter bei der Gruppe 47, Günter Grass, zum Suhrkamp Verlag zu holen. Vor wenigen Jahren immerhin erschien die Novelle "Katz und Maus" in der Bibliothek Suhrkamp, und jetzt gibt es fast so etwas Ähnliches wie eine Originalausgabe von Günter Grass in derselben Reihe – aber nur fast.

Die Geschichten aus dem Band "Wir leben im Ei" sind alle schon irgendwo erschienen, außer in der großen Werkausgabe von Grass allerdings an zum Teil sehr entlegenen Orten. Und zwei kleine Funde aus dem Archiv werden hier tatsächlich zum ersten Mal veröffentlicht.

Das handliche Bändchen zeigt den Geschichtenerzähler Grass auf zum Teil ungewöhnliche Weise, von den Anfängen als unbekannter Bildhauer und Versemacher im Paris der fünfziger Jahre bis hin zu Ausschnitten aus dem opulenten Band "Mein Jahrhundert", der kurz vor der Verleihung des Nobelpreises an Grass erschien.

Es gibt dabei zwei große Ausschnitte aus den repräsentativen Romanen "Die Blechtrommel" und "Der Butt" – diese Kapitel hat Grass aber schon zu ihrer Entstehungszeit als eigenständige Geschichten verstanden. Es ist durchaus schön, das Kapitel "Glaube Liebe Hoffnung" aus der "Blechtrommel" in diesem Zusammenhang noch einmal zu lesen – es zeigt Grass auf dem absoluten Höhepunkt seiner Kunst, ein anarchischer Sprachwitz, ein rhythmischer Sog, der in scheinbar kleinen Genrebildern die große Geschichte aufzeigt. Und der "Vatertag" aus dem "Butt" ist eine bereits häufig erprobte, lange Geschichte, nicht mehr so juvenil-überbordend wie in den frühen Texten von Grass, aber mit das Beste aus seinen eher abgeklärten späteren Phasen.

Einen interessanten Teil dieses Bandes nehmen die kurzen Geschichten ein, die Grass 1968 unter dem Pseudonym Arthur Knoff als eines der mittlerweile legendären dünnen Bändchen der LCB-Editionen herausgebracht hat, den längst vergriffenen Preziosen aus dem Literarischen Colloquium Berlin. Grass wollte damit erproben, wie Texte eines mittlerweile hochgerühmten Autors von der Kritik behandelt werden, wenn er sich hinter einem unbekannten Namen versteckt. Und er konnte sich sehr darüber amüsieren, wenn darüber geschrieben wurde: "von Grass beeinflusst, aber durchaus eigenständig". Es sind eher Fingerübungen, kleine Absurditäten, surreal verspielt.

Dass dieses Bibliothek-Suhrkamp Bändchen mit einem auffällig dottergelben Querstreifen daherkommt, liegt an der "Ei"-Metapher des ersten Textes: "Wir leben im Ei. Die Innenseite der Schale haben wir mit unanständigen Zeichnungen und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt. Wir werden gebrütet..." Das ist ein typisches Bild für den frühen Grass, wie eine Zeichnung oder eine Radierung, ein Bild vom Menschen, das sich nüchtern und zweifelnd von den damals üblichen existenzialistischen Vorstellungen unterscheidet.

Der vom umsichtigen Herausgeber Dieter Stolz in Grass’ Archiv gefundene frühe Text ist eine Vorform zu einem später entstandenen Erzählgedicht und zeigt den großen Erzähler Grass quasi in der Entstehungsphase, ganz hautnah. Ideale Lesebuchtexte, Parabeln wie "Meine grüne Wiese" oder "Die Linkshänder", sind kurz danach entstanden und glitzernde Perlen in dieser schönen Auswahl. So könnte man anfangen, Grass zu lesen – dass man danach zu den dicken Romanen greifen möchte, ist fast unvermeidlich.