Leben im Käfig

Von Tobias Nagorny |
Hongkong ist eine der reichsten Städte der Welt - und gleichzeitig eine der ärmsten. In keiner anderen Stadt sind die Mieten und Immobilienpreise so hoch. Deshalb leben rund 100.000 Menschen in kleinen Käfigen und Wohnboxen, die oft nicht größer als zwei Quadratmeter sind. Sie sind die Verlierer der schillernden Metropole.
Ein ganz normales Hochhaus im Hongkonger Stadtteil Kwon Tong. Mit dem Aufzug geht es in den achten Stock. Hier gibt es gewöhnliche Mietwohnungen, von denen allerdings manche in so genannte Cage Homes umgebaut sind - in Käfig-Wohnungen.

Die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan von der Hongkonger Organisation "Soco" kommt einmal die Woche hierher. In kleinen Bretterverschlägen leben 18 Männer und drei Frauen. In der Gemeinschaftsküche klebt das Fett vom Kochen an den vergilbten Fliesen, die Toiletten sind runtergekommen und verdreckt. Insgesamt hat die Wohnung eine Fläche von nicht mal 60 Quadratmetern.

"Keine andere Möglichkeit, keine andere Lösung"
Mr. Näm Ti Wäy sitzt mit nacktem Oberkörper auf einer kleinen Holzpritsche - umringt von seinen Habseligkeiten. Ein paar Wäschesäcke, Zahnbürste, ein Kalender, ein Reiskocher. Zusammen mit seiner Frau wohnt er auf knapp 2,5 Quadratmetern. Dafür zahlen sie 1260 Hongkong-Dollar im Monat - das sind gut 120 Euro.

"Ich habe einfach keine andere Möglichkeit, keine andere Lösung. Klar, mag ich es hier nicht. Aber alle, die hier wohnen, müssen irgendwie miteinander klarkommen. Na ja, ich hoffe, dass meine Frau und ich bald eine Sozialwohnung bekommen und ich bald wieder einen Job finde. Ich muss aber auf jeden Fall in Hongkong bleiben, weil mein Vater hier lebt und ich mich um ihn kümmern muss."

Ein undefinierbarer Geruch steht in der Wohnung, es ist heiß und stickig. So wie dem 57-jährigen Mr. Näm Ti Wäy, der eigentlich als Putzkraft arbeitet, geht es vielen Hongkongern. Rund 100.000 Menschen leben in solchen Verschlägen und Gitterkäfigen, weshalb sie auch oft als Käfigmenschen bezeichnet werden.

Viele hoffen auf eine Sozialwohnung, andere haben von vornherein keine Chance darauf, weil ihr Einkommen nur wenige Hongkong-Dollar zu hoch ist, um Anspruch darauf zu haben. Für viele Wohnungsbesitzer hingegen sind die Käfigwohnungen ein sehr lukratives Geschäft, erzählt die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan.

"Durch das Aufteilen der Wohnungen bekommen die Eigentümer letztlich mehr Miete, als wenn sie die Wohnung einfach an eine Familie vermieten würden. Also versuchen wir diesen armen Leuten in den Cage Homes dabei zu helfen, eine Sozialwohnung von der Stadt zu bekommen. Deshalb mögen es die Wohnungsbesitzer auch nicht, wenn wir hierher kommen - sie haben Angst, dass wir Ihnen ihr Geschäft kaputt machen. Wir versuchen also, möglichst nicht die Vermieter zu treffen. Manche können nämlich ziemlich böse werden, uns anschreien oder sie drohen damit, die Polizei zu rufen."

Mit dem Schwert gegen die bösen Geister
In einem anderen Verschlag, der nur über eine kleine Leiter zu erreichen ist, sitzt ein alter Mann im Unterhemd. Hier kann man nur gebückt reinkriechen. Schwarz-weiße Familienfotos erinnern an andere Zeiten.

Vor der Eingangsluke hängt ein Spielzeugschwert aus Plastik. Das ist Feng Shui - das Schwert soll die bösen Geister von der Wohnung fernhalten, erzählt er leicht spöttisch.

"Please stand back from the doors"

Mit der U-Bahn geht es nach Kowloon - dem bevölkerungsreichsten Teil von Hongkong. Die nächste Käfigwohnung ist in der dritten Etage eines unscheinbaren, leicht schäbigen Hauses in einer Seitenstraße.

Im Fernsehen läuft eine chinesische Soap. Ein paar Männer blicken teilnahmslos auf den flackernden Bildschirm. Ein Ventilator wälzt die muffige Luft um. Hier ist alles noch bedrückender als vorher. In der Mitte des Raums hängt eine alte Plastikuhr - die Zeiger sind irgendwann um 07:28 Uhr stehen geblieben. Statt Möbeln stehen an den Wänden des Zimmers Drahtkäfige: dicht an dicht und doppelstöckig. Ein Käfig ist nicht mal 2 Quadratmeter groß - da ist nur Platz für eine schmale Matratze oder Bastmatte. In den Gittern hängen Plastiktüten mit Obst und ein paar Kleidungsstücke.

In dieser Wohngemeinschaft kann man sich die Mitbewohner nicht aussuchen. Wie sie alle hier auf engstem Raum miteinander klarkommen, darüber reden sie nur ungern und halten sich höflich zurück. Hier gibt es keine Privatsphäre und meist keine Hoffnung mehr.

"Ich lebe seit 30 Jahren in dieser Wohnung. Ich bin Koch in einem Restaurant nicht weit weg von hier. Andere Wohnungen sind für mich einfach zu teuer. Ich habe keine Träume mehr. Ich bin zu alt, um noch Träume zu haben."

Mr. Tang Man Mäy ist 63 Jahre alt. 11-12 Stunden dauert sein Arbeitstag, trotzdem kann er sich nichts Besseres leisten. Wie viele Bewohner der Käfigwohnungen hat auch er keine eigene Familie. Das ist oft so, sagt die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan.

"Zurzeit laufen rund 220.000 Bewerbungen für Sozialwohnungen in Hongkong. Die Hälfte der Anträge wird von Einzelpersonen gestellt. Vor allem für alleinstehende Männer ist es besonders schwierig, eine Wohnung zu finden. Einige Mieter sind da eher skeptisch. Manchmal organisieren wir Ausflüge - raus aus der Stadt, zum Beispiel an die Strände von Hongkong, das sie wenigsten Mal kurz hier raus kommen. Denn selbst solche kleinen Ausflüge sind für die meisten einfach zu teuer."

Einer der grauen Gitterkäfige ist gerade leer. Nur ein improvisiertes Kopfkissen liegt darin: eine Plastiktüte, vollgestopft mit Papierresten, darüber ein altes grünes Handtuch mit dem Schriftzug "Hongkong Life". Wer in dieser Stadt einmal im Käfig landet, hat es oft schwer, wieder raus zu kommen.
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