Leben im Ungewissen
Die Krankheit im Nacken, reflektiert der 70-jährige Journalist Jürgen Leinemann, der seit zwei Jahren an Krebs leidet, die Wechselfälle seines beruflichen Lebens, und die sind eng mit der Geschichte Deutschlands verknüpft.
Sein Leidensweg begann vor zwei Jahren. "Inoperabler Zungengrundkrebs" lautete die Diagnose. In seinem Buch "Das Leben ist der Ernstfall" (Verlag Hoffmann und Campe) berichtet der einstige "Spiegel"-Topreporter Jürgen Leinemann von dem, was folgte: Strahlen- und Chemotherapie, Notoperationen, Lungenentzündung, Herzschrittmacher. Diabetes hatte er bereits. Trockener Alkoholiker ist er auch. Ein Luftröhrenschnitt erlaubt ihm das Sprechen für den Rest seines Lebens nur noch mittels einer Kanüle. Eine Magensonde wird ihm lebenslang Astronautennahrung zuführen.
Immer wieder hadert Jürgen Leinemann mit dem Medizinsystem, dem er sich anvertrauen muss: Universitätskliniken erlebt er als hektische Orte, in denen anonyme Hilfskräfte den Patienten wortlos im Eiltempo durch Gänge rumpeln, ihn stundenlang vor verschlossenen Türen abstellen und ein Arzt ihm ins Gesicht sagt, eine weitere Behandlung würde wegen seiner Metastasen nicht lohnen. Eine medizinische Fehleinschätzung, wie sich zudem herausstellte: Die angeblichen Krebsherde waren durch die Bestrahlung vernarbtes Gewebe. Menschlich wie medizinisch besser aufgehoben fühlte sich Jürgen Leinemann in kleineren, konfessionell gebundenen Heilstätten.
Das Private ist für Jürgen Leinemann politisch und umgekehrt – diese Haltung verleiht dem Buch eine über das persönliche Schicksal hinausgehende Relevanz. Die Krankheit im Nacken, reflektiert der 70-jährige Journalist die Wechselfälle seines beruflichen Lebens, und die sind eng mit der Geschichte Deutschlands verknüpft. Er schreibt über die Nazi-Zeit, in der er aufwuchs, das Schweigen seiner Eltern, seinen politischen Aufbruch Ende der 60er-Jahre, die großen politischen Enttäuschungen, die er - im politischen Spektrum eher links beheimatet - erlebte. Er gibt Einblicke in die große Politik und ein Journalistenleben im Dunstkreis der Mächtigen.
Sein Geltungsbedürfnis ist Jürgen Leinemann in weiser Selbsterkenntnis bekannt und er kann es in seinem Buch auch nicht verbergen: Lob, Preise und berühmte Bekanntschaften finden ausführlich Erwähnung, und noch der Schwerstkranke sonnt sich in seiner einstigen Nähe zu Gerhard Schröder, Angela Merkel und wie sie alle heißen. Dass jemandem über der Frage, ob ein Leben nach dem Tod denkbar sei, als Erstes und Letztes ein Gespräch mit Franz Beckenbauer einfällt, kann man nur mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Doch Jürgen Leinemann spricht dankbar und voller Respekt auch von den Menschen, die ihm in diesen schweren Monaten zur Seite stehen: seine Frau, seine Tochter, einige Weggefährten aus der Alkoholiker-Selbsthilfegruppe, denen er seit 30 Jahren vertraut.
So pointiert und ironisch Jürgen Leinemann als Journalist zu formulieren versteht, so nüchtern und protokollarisch gerät ihm dieser Report seines Krebsleidens. Die Reduziertheit seines Stils lässt die Wucht des Traumas spüren, dem der Mann ausgesetzt ist. Die Bemerkung, so viel Krankheit und Elend sei beim Lesen streckenweise kaum zu ertragen, vergeht einem angesichts der realen Martern, die der Kranke erdulden muss. Ein hartes und ehrliches Buch.
Besprochen von Susanne Billig
Jürgen Leinemann: Das Leben ist der Ernstfall
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009
256 Seiten, 20 Euro
Immer wieder hadert Jürgen Leinemann mit dem Medizinsystem, dem er sich anvertrauen muss: Universitätskliniken erlebt er als hektische Orte, in denen anonyme Hilfskräfte den Patienten wortlos im Eiltempo durch Gänge rumpeln, ihn stundenlang vor verschlossenen Türen abstellen und ein Arzt ihm ins Gesicht sagt, eine weitere Behandlung würde wegen seiner Metastasen nicht lohnen. Eine medizinische Fehleinschätzung, wie sich zudem herausstellte: Die angeblichen Krebsherde waren durch die Bestrahlung vernarbtes Gewebe. Menschlich wie medizinisch besser aufgehoben fühlte sich Jürgen Leinemann in kleineren, konfessionell gebundenen Heilstätten.
Das Private ist für Jürgen Leinemann politisch und umgekehrt – diese Haltung verleiht dem Buch eine über das persönliche Schicksal hinausgehende Relevanz. Die Krankheit im Nacken, reflektiert der 70-jährige Journalist die Wechselfälle seines beruflichen Lebens, und die sind eng mit der Geschichte Deutschlands verknüpft. Er schreibt über die Nazi-Zeit, in der er aufwuchs, das Schweigen seiner Eltern, seinen politischen Aufbruch Ende der 60er-Jahre, die großen politischen Enttäuschungen, die er - im politischen Spektrum eher links beheimatet - erlebte. Er gibt Einblicke in die große Politik und ein Journalistenleben im Dunstkreis der Mächtigen.
Sein Geltungsbedürfnis ist Jürgen Leinemann in weiser Selbsterkenntnis bekannt und er kann es in seinem Buch auch nicht verbergen: Lob, Preise und berühmte Bekanntschaften finden ausführlich Erwähnung, und noch der Schwerstkranke sonnt sich in seiner einstigen Nähe zu Gerhard Schröder, Angela Merkel und wie sie alle heißen. Dass jemandem über der Frage, ob ein Leben nach dem Tod denkbar sei, als Erstes und Letztes ein Gespräch mit Franz Beckenbauer einfällt, kann man nur mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Doch Jürgen Leinemann spricht dankbar und voller Respekt auch von den Menschen, die ihm in diesen schweren Monaten zur Seite stehen: seine Frau, seine Tochter, einige Weggefährten aus der Alkoholiker-Selbsthilfegruppe, denen er seit 30 Jahren vertraut.
So pointiert und ironisch Jürgen Leinemann als Journalist zu formulieren versteht, so nüchtern und protokollarisch gerät ihm dieser Report seines Krebsleidens. Die Reduziertheit seines Stils lässt die Wucht des Traumas spüren, dem der Mann ausgesetzt ist. Die Bemerkung, so viel Krankheit und Elend sei beim Lesen streckenweise kaum zu ertragen, vergeht einem angesichts der realen Martern, die der Kranke erdulden muss. Ein hartes und ehrliches Buch.
Besprochen von Susanne Billig
Jürgen Leinemann: Das Leben ist der Ernstfall
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009
256 Seiten, 20 Euro