Zwischen Apathie und Flucht
Willkür ist Trumpf im palästinensischen Flüchtlingslager in Bethlehem. Treffen Palästinenser auf Besatzungssoldaten, ist es selten eine Begegnung auf Augenhöhe. Unter Trumps Präsidentschaft könnten sich die Lebensbedingungen im Westjordanland noch verschärfen.
Auf den ersten Blick und beim ersten Hinhören ist alles beim Alten im Geburtsort Jesu. In der Ortsmitte – unweit der Geburtskirche – überlagern die Rufe des Muezzin die Geräuschkulisse des Basars – und umgekehrt, je nachdem an welcher Stelle der 35.000-Einwohner-Stadt man an den Pilgergruppen vorbeizukommen versucht. Die Händler unterbieten sich mit vermeintlichen Niedrigpreisen, ahnen die Nationalität ihrer Kunden und sprechen sie bruchstückhaft in deren Muttersprache an.
Geschnitztes aus Olivenbaumholz, christlich ornamentierter Kitsch aus allen nur denkbaren Materialien und orientalische Leckereien bilden das Gros der Angebote. Zwischendurch zum Einheitspreis von einem Dollar oder einem EURO ein Plastikglas mit frisch gepresstem Granatapfelsaft: All dies lässt die auch für Ausländer schwierige Anfahrt aus dem nur sieben Kilometer entfernten Jerusalem nach Bethlehem verdrängen. Doch die für die jährlich knapp zwei Millionen Besucher "andere Welt" ist für die palästinensischen Bewohner Bethlehems ein anderer Alltag – so wie für den 13-jährigen Maher.
"Wir können höchstens fünf Kilometer fahren – dann sehen wir die Mauer vor uns. Mit checkpoints, die schwer zu passieren sind. Das andere Problem ist die Meinungsfreiheit. Sagen wir auf Facebook etwas gegen Israel, wird es herunter genommen, und sie können uns auch ins Gefängnis bringen."
Letzteres geschieht immer wieder im Flüchtlingslager AIDA im nördlichen Teil Bethlehems, direkt an der bis zu acht Meter hohen Mauer. Werfen Kinder und Jugendliche mit Steinen nach patrouillierenden israelischen Soldaten, kommen die nach Anbruch der Dunkelheit wieder, dringen in die Häuser ein und nehmen die jungen Menschen mit. Auch ohne Auskunft zu erhalten, wissen die Eltern, wo´s hingeht: Ins Gefängnis – für Wochen, für Monate, mal mit der Erlaubnis für Anwaltsbesuche, mal ohne. Willkür ist Trumpf. Und vor allem bei den Heranwachsenden ist Wut zu spüren. Sie kompensieren ihren Groll mit Spritzfahrten auf getunten Mopeds und Kleinkrädern. Aus Lautsprecherboxen dringt palästinensischer Rap, wie ihn mir zuvor ein Händler als Raubkopie zugesteckt hat.
Ungefähr 5.800 Menschen leben in dem 1950 errichteten Lager – angelegt zwei Jahre nach der Staatsgründung Israels und der Vertreibung von 750.000 Palästinensern aus dem bis dahin britischen Mandatsgebiet. Sie wollen an die Rückkehr in ihre 17 Dörfer glauben. Selbst eine erst 24-jährige angehende Staatsanwältin, die wegen ihrer Englischkenntnisse Besuchern Erläuterungen gibt, hält an der Identität von gestern fest und lehnt deshalb eine Zwei-Staaten-Lösung ab. Ihren Namen möchte sie nicht genannt wissen.
"Bei zwei Staaten kann ich nur im palästinensischen sein. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich für einen gemeinsamen Staat votieren; dann könnte ich wenigstens in mein altes Dorf fahren – ohne Probleme, ohne Regeln."
Betreut werden die Flüchtlinge in der inzwischen vierten Generation vom UNWRA-Hilfswerk der Vereinten Nationen, nicht etwa – gemäß den Genfer Konventionen – von der Besatzungsmacht Israel. UNWRA regelt vieles, von der Müllabfuhr über den Schulbetrieb bis zur medizinischen Versorgung. Aus eigenen Kräften stemmt die palästinensische Bevölkerung Bethlehems, mit ausländischer Hilfe, andere Einrichtungen – beispielsweise das 1995 ins Leben gerufene Bildungswerk Diyar – das arabische Wort für Heimat.
Schikanöse Auflagen und Vorschriften
Eine Fachhochschule mit den Studiengängen Kunst, Musik, Medien, Kommunikation sowie Kulturmanagement und Tourismus zählt dazu, Politische Bildung, ein internationales Begegnungszentrum und Kurse für Senioren. Die palästinensische Pädagogin Rania Salsaa ist die Assistentin der Geschäftsleitung. Sie kennt die zeitlichen und nervlichen Anstrengungen der aus dem gesamten Westjordanland anreisenden Palästinenser.
"Aber die jungen Studenten nehmen das in Kauf. Teilweise übernachten sie bei Freunden; und sonst nehmen sie in Kauf, dass sie Fahrtzeiten von drei Stunden hin und drei Stunden zurück haben, um einfach ihrem Lebenstraum nachzugehen."
Wie´s weitergehen kann unter derart schikanösen Auflagen und Vorschriften, scheinen sich viele Palästinenser gar nicht mehr zu fragen. Sie drangsalieren sich auch nicht mit der Frage, was nun womöglich angesichts der US-Präsidentschaft von Donald Trump noch drastischer geraten könnte beziehungsweise was es für Folgen hätte, wenn die USA ihre Botschaft als erstes Land in der Welt von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen würden, also in den Ort, den auch die Palästinenser als ihre Hauptstadt reklamieren. Der Status Quo ist im seit 50 Jahren besetzten Westjordanland Bürde genug. Im Bildungszentrum DYAR sinniert Rania Salsaa, was sie wohl auf die Frage nach der Ungeduld vor allem junger Menschen antworten könnte…
"Es gibt welche, die sehr deprimiert sind; es gibt welche, die ihre Depressionen dazu bewegen, Messer-Attacken zu begehen; und es gibt Menschen, für die die Mauer nicht existiert – sie existiert als Fakt, aber nicht in ihren Köpfen. Nichtsdestotrotz sind junge Leute bemüht, das Beste draus zu machen – für sich das Beste zu holen, was zu holen ist auf dieser Welt; sei es in den palästinensischen Gebieten selber, sei es woanders, wenn es ihnen geboten wird, im Ausland zu studieren, um dort zu wirken."
Verdoppelte Bewohnerzahl im Flüchtlingslager
Treffen Palästinenser auf Besatzungssoldaten, ist es selten eine Begegnung auf Augenhöhe; israelische Armeeangehörige oder andere Sicherheitskräfte an checkpoints oder auf ihren Kontrollgängen antworten ungern auf Fragen. Gleichgültigkeit sei noch eine günstige Reaktion, erzählt die 24-jährige Juristin und Interpretin des Lebens im Flüchtlingslager AIDA.
"Immer wieder gehe ich auf die Soldaten zu und frage "warum seid Ihr hier?" Dies ist palästinensisches Gebiet, nicht israelisches. Das sagt auch das internationale Recht. Dann sagen sie: OK, geh´ zum Gericht. Die Israelis stört das nicht – sie handeln willkürlich."
Die Situation in dem AIDA-Camp wirkt bizarr. Eigentlich sind die dort lebenden Palästinenser keine Flüchtlinge; sie hausen – von residieren kann nicht die Rede sein – auf dem ihnen zugeteilten Territorium, nicht wie andere Landsleute in Jordanien, im Libanon oder in Syrien. Aber sie weigern sich, beispielsweise in das Stadtgebiet von Bethlehem zu ziehen – trotz 20-30 Prozent weniger Arbeitslosigkeit und mit durchaus mehr Komfort.
Die kaum einen Quadratkilometer kleine Fläche des Flüchtlingslagers hat sich seit 1950 nicht verändert, die Bewohnerzahl hingegen vervierfacht. Durchschnittlich 17 Personen sollen es pro Haushalt sein. Weitgehend bestimmt die unerbittliche Gesinnung der Hamas-Bewegung, wie sie im Gaza-Streifen Regierungsmeinung ist, die Atmosphäre und inspiriert Steine und Molotowcocktails werfende Jugendliche. Mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen, manchmal auch mit scharfer Munition, "säubern" israelische Soldaten die Straßen. Und am 15. Mai – dem 69. Jahrestag der NAKBA, der Vertreibung – wobei NAKBA eigentlich für Katastrophe steht – werden wieder Großväter ihren Enkeln Schlüssel zu den Häusern übergeben, aus denen sie vertrieben worden sind.
Feindseligkeiten in Hebron
Diese Enkel landen bisweilen im Bethlehemer SOS-Kinderdorf. In 14 Kleinfamilien betreuen hier angestellte Pflegemütter je 5-9 Kinder – Halb- und Vollwaisen und aus anderen Gründen gestrandete junge Menschen. Selbst in diese rein palästinensische Zone des Besatzungsgebiets kämen ab und zu israelische Soldaten, wird erzählt. Seit einigen Monaten verbringen hier zwei angehende Sozialwissenschaftlerinnen aus Deutschland ihr Freiwilliges Soziales Jahr. Die Atmosphäre in dem Zentrum, der Umgang miteinander und der mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina seien alles andere als zugespitzt, beschreibt Martha*.
"Was ich hier mitbekommen habe, ist, dass den Kindern eine sehr offene Lebenswelt beigebracht wird – auch was den Konflikt angeht; es wird thematisiert, aber es wird sehr differenziert, soweit es möglich ist. Also es kommt kein "wir hassen alle Israelis" oder so; die Mütter bewegen sich da auf einer moderaten Ebene und sprechen da sehr normal mit den Kindern. Andererseits muss man auch immer schauen, aus welchem Hintergrund die Kinder kommen; wenn sie in ihren Kernfamilien andere Dinge mitbekommen haben, merkt man natürlich dann schon, dass da eine weniger differenzierte Sicht auf den Konflikt da ist und dass Kinder auch sehr bewegt dadurch sind und einfach Angst haben."
Rauer und deutlich schärfer prallen Gegensätze und Feindseligkeiten im 22 Kilometer entfernten Hebron aufeinander. Hier leben – mitten im Stadtgebiet – an die 800 militante jüdische Siedler in unmittelbarer, allerdings durch Barrikaden, Mauern und Zäune getrennten Nachbarschaft zu den Palästinensern. Von Zusammenleben kann an keiner Stelle die Rede sein. Nicht nur dort nicht, wo die Siedler sogar Urinflaschen in die Netze über dem palästinensischen Basar werfen – und nicht dafür belangt werden. Professor Dr. Daoud I Zatari, Hebrons Bürgermeister, verweist auf Dutzende geschlossener Basar-Geschäfte; für ihn ist der Trend Teil der andauernden Vertreibung durch gläubige Juden, die den Ort mit der Grabstätte Abrahams für sich reklamieren. Doch auch Bürgermeister I Zatari setzt auf langen Atem; er versucht, Wogen zu glätten, die täglichen Spannungen zu lindern und die Zusammenstöße mit Siedlern und Soldaten zu reduzieren. Es wirkt leicht beschwichtigend, wenn er die Sehnsucht junger Palästinenser so darstellt:
"Diese jungen Leute achten auf ihr Leben, auf ihre Zukunft. Sie wollen einen palästinensischen Staat; sie wollen ein besseres Leben, keine Besatzung. Sie wollen eine Zukunft für sich und ihre Familien."
"Ich glaube, dass es ein Gemisch ist. Einerseits schon eine Hoffnungslosigkeit, weil der Konflikt schon einige Zeit andauert und sich die Lage nicht verbessert"
In einem Hebroner Café komme ich mit einer Wiener Kunsthistorikerin ins Gespräch. Viktoria Beyer ist auf der Suche nach kulturellen Überschneidungen, Verbindungen wenigstens in dieser Nische gesellschaftlichen Zusammenlebens, findet aber keine…
"Ganz im Gegenteil. Und wenn man sich hier Hebron anschaut, sieht man, wie strategisch die israelische Regierung das hier okkupiert. Gleichzeitig merkt man den starken Willen, dass sich ein eigenes Bewusstsein schafft und gegen das ankämpft, was hier passiert. Ich glaube nicht, dass das nur Hoffnungslosigkeit ist."
Ost-Jerusalem. Hier springtdie Besatzung angesichts der christlichen Präsenz nicht gar so massiv ins Auge. Die Erlöserkirche der Evangelischen Jerusalem-Stiftung Hannover ist dabei ein Hort der freien Rede, ein Treffpunkt aller Religionen. Doch auch hier ist Frustration an der Tagesordnung – wie bei der holländischen Sozialarbeiterin Diet Kosta, die sich seit fast 40 Jahren vor allem um Jugendliche kümmert und sie ihre Kinder nennt…
"Als ich kam, hatten wir noch die Hoffnung, dass sich irgendwo in Richtung Frieden arbeiten lässt – das hoffen wir immer noch, das ist ganz klar; aber es ist unglaublich schwierig geworden. Es gibt einfach keine Perspektive. Wird es je aufgelöst werden? Werden die Leute – also meine Kinder und Enkelkinder – je frei herumreisen können, eine Arbeit finden. Werden je Leute in Palästina investieren können, werden wir je einen eigenen Staat haben? No way."
Hoffen auf die deutsche Politik
Der Chef im Ring der verschiedenen christlichen Aktivitäten – sogar ein Gästehaus gehört zu dem Ensemble – ist Probst Wolfgang Schmidt. Er kämpft geradezu um den Bestand der interreligiösen Einrichtung und muss sich persönlich bisweilen gar den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen. Probst Schmidt sieht darin "eine politische Keule", um unliebsame Diskussionen zu unterbinden…
"Wenn Sie hier aus dem Haus und durch Westjerusalem gehen und eben die Häuser sehen, in denen arabische Familien mal gelebt haben – oder die Stadtviertel -, dann ist Ihnen das in einer ganz anderen Weise präsent; oder wenn Sie die Parks in Israel sehen, die früher arabische Dörfer waren – da kann man nicht einfach dran vorbeigehen. In Deutschland kann man das alles mehr auf einer abstrakten Ebene behandeln."
Mit dem Einzug des US-Präsidenten Donald Trump und seiner Hinnahme der völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik Israels sind die Hoffnungen auf eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen weiter geschwunden. So betrachtet wirkt nahezu hilflos, was Abdalah Franghi von den letzten Monaten der Großen Koalition in Berlin und natürlich auch von der Regierung danach erwartet. Franghi ist – als Fatah-Mann – derzeit Gouverneur der palästinensischen Autonomiebehörde im Gaza-Streifen, der von der radikalen, allerdings frei gewählten Hamas-Bewegung beherrscht wird; er war mehrere Jahrzehnte lang der palästinensische Vertreter in Deutschland…
"Ich hoffe, dass die deutsche Politik – vor allem jetzt bei der Großen Koalition – soweit kommt, dass sie den Nahen Osten intensiver behandeln und sich darum kümmern: Genau wie damals die Koalition von der FDP mit Genscher und Kinkel und der CDU mit Kohl. Damals hatten sie so viel Einsatz, und sie haben uns unterstützt – und sie haben uns und die Israelis zusammengebracht, mehr als jetzt. Deutschland ist betroffen von dem, was hier passiert; alle europäischen Staaten sind betroffen – wenn wir Krieg haben, sie sind betroffen; wenn wir Frieden haben, sie profitieren."
*) Der Name ist auf Wunsch der Betroffenen anonymisiert worden.