Marokkos verlorene Jugend
Am Strip von Casablanca tanzt die Schickeria in Klubs und Bars. Die Slums am Rande der Stadt sind dagegen berüchtigt für radikale Islamisten, Kriminalität und Arbeitslosigkeit. Die meisten jungen Marokkaner wollen nur eins: weg - möglichst nach Europa. Das Land droht, seine Jugend zu verlieren.
Seit Februar brummt es in der marokkanischen Wüste, im Südosten des Landes. Seit Februar hat Marokko das größte Solarheizkraftwerk der Welt. Noor I heißt es - übersetzt: Licht. Und es produziert pro Jahr 160 Megawatt Strom. Noor I wurde innerhalb von nur drei Jahren in den Sand gesetzt. In den Wüstensand, etwa zehn Kilometer entfernt von der Stadt Ouarzazate. Dort stehen jetzt mehr als eine halbe Million silbrig schimmernder Parabolspiegel. Das ist das hochmoderne Marokko. Das Land, das auf erneuerbare Energie setzt, das technisch anspruchsvolle Anlagen pünktlich fertigstellt.
Es gibt nur einen in Marokko, der das Solar-Kraftwerk Noor I eröffnen kann. Und der es unbedingt eröffnen will. König Mohamed VI. Als er mit seinem Auto-Konvoi durch Ouarzazate rauscht, stehen die Untertanen an der Straße und jubeln. Der Palast hat oft genug wissen lassen, dass Mohamed VI. das Solarkraftwerk wollte. Jetzt eröffnet er es.
Marokkos König präsentiert sich als Modernisierer
Der König sitzt allein, ganz vorne. Dort hat man eine Art Thron hingestellt: golden, bezogen mit rotem Samt. Alle Gäste sitzen in gebührendem Abstand zum Herrscher. Die Sitzordnung signalisiert klar, wie herausgehoben die Stellung des Herrschers ist im Königreich Marokko. Und die ganze Zeremonie signalisiert auch: Der König ist der Modernisierer. Mohamed VI. will als Impulsgeber gelten in einem Land voller sozialer Widersprüche.
Premierminister Abdelilah Benkirane ist auch da. Der Regierungschef sitzt rechts vom König, wurde auch freundlich von seiner Majestät begrüßt. Aber welche Rolle spielen der Premier und seine Minister eigentlich in der Machtverteilung zwischen Palast und Regierung?
Letztlich, habe die Monarchie das letzte Wort, sagt Jamal Khalil. Khalil lehrt Soziologie an der Universität in Casablanca. König Mohammed VI. ist laut Verfassung das weltliche und das geistige Staatsoberhaupt. Er ist auch Führer der Gläubigen, also der Wortführer in Religionsfragen.
Telekommunikation boomt, Industrieparks entstehen
Soziologe Jamal Khalil versucht zu erklären, warum die Position des Königs immer noch so stark ist gegenüber der Regierung:
"Die Legitimität des Monarchen ist historisch gewachsen. Die demokratische Legitimität kommt da nicht dran. Bei Wahlen kommen die Parteien nicht auf sehr klare Mehrheiten. Deshalb bekommen sie nicht ausreichend politisches Gewicht, um wirklich eine politische Vision durchzusetzen. Deshalb haben wir eine Regierung, die regiert, und eine althergebrachtes System, das beobachtet und kontrolliert."
Beobachten und kontrollieren - damit beschreibt Khalil die Rolle des Königs fast ein bisschen zu bescheiden. Bleiben wir beim Beispiel des Solar-Kraftwerkes Noor I, das der König huld- und prunkvoll einweiht. Es steht für eine Energiepolitik, die der Monarch vorgegeben hat. Erneuerbare Energien sind die Zukunft, entschied der König. Keine marokkanische Regierung würde es wagen, da zu widersprechen.
Der König, seit 17 Jahren auf dem Thron, will Marokko modernisieren. Mohammed VI. ließ Straßen bauen, Autobahnen, einen modernen Container-Hafen. Die Telekommunikation boomt, Industrieparks sind entstanden. Das ist die moderne Seite des Landes.
Wer rausfährt aus den großen Städten Rabat, Casablanca oder Marrakesch, der findet sich schnell in einem anderen Marokko wieder. Dort ziehen Maulesel völlig antiquierte Holzpflüge durch die Felder. Da zockeln Eselskarren durch Dörfer, die oft nur eine geteerte Hauptstraße haben. Hier halten sich Traditionen des Zusammenlebens, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen.
Marokko - Land der zwei Geschwindigkeiten
Der Soziologe Jamal Khalil beschreibt deshalb Marokko heute als ein Land der zwei Geschwindigkeiten:
"Es ist ein Land, das mit verschiedenen Geschwindigkeiten unterwegs ist. Die Städte haben ihr eigenes Tempo. Die ländlichen Gebiete auch. Und dann gibt es Regionen, die so ein bisschen dazwischen liegen. Es ist also ein Land, in dem die Modernität versucht, sich zu etablieren. Gleichzeitig gibt es andere Regionen, in denen, auch unter dem Einfluss anderer Gebiete des Mittleren Ostens, versucht wird, so ein bisschen zu den alten Verhältnissen zurückzukehren."
Das macht Marokko zu einem Spannungsfeld: ein Spannungsfeld, das in Casablanca zu besichtigen ist. In der Wirtschaftsmetropole schlägt das ökonomische Herz des Landes. Banken, Büros, Business - das ist Casablanca.
Hier geben die Reichen den Ton an: Abends wird die Corniche, die Straße entlang der Küste, zum Laufsteg. Casablancas Wohlhabende machen die Stadt zur Bühne für ihre Selbstdarstellung.
Die Jeunesse dorée, die junge Schickeria, zieht hier durch die Bars, Restaurants und Klubs, die wie an einer Perlenkette aufgereiht sind. Das Meer rauscht, die dicken Autos brummen, die Bässe dröhnen. Und die jungen Leute sind aufgedreht:
Es ist Samstagabend - die beste Nacht der Woche! Man geht tanzen, man entspannt sich, man besäuft sich ordentlich, und dann geht man irgendwann ins Bett."
Casablancas Schickeria feiert in Bars und Klubs
Mitternacht ist vorüber. Kleine Grüppchen huschen über den Asphalt. Sie sind nicht mehr ganz nüchtern. Dafür aber schick angezogen. Die Mädels tragen enge Hosen, knappe Kleider und sehr hohe Absätze. Die Jungs frischgebügelte Markenhemden und viel Gel im Haar. Es riecht nach Meer und auch ein bisschen nach Marihuana.
"Es geht so nach dem Abendessen los, so um halb zehn. Und dann machen wir die Nächte durch, das Ganze endet erst am frühen Morgen - mit der After Hour."
Zwei Uhr morgens im "Havanna Club". Eintritt: 20 Euro. Das ist das Marokko jenseits der Armut, das unverschleierte und gar nicht streng muslimische Marokko. Ein Land, in dem es reichlich Alkohol gibt - und in dem Sex vor der Ehe kein Tabu ist.
Die Slums am Rand Casablancas sind die andere, die krasse Gegenseite. Stadtquartiere wie Sidi Moumen. 500.000 Menschen leben etwa in Sidi Moumen. Sidi Moumen ist berüchtigt: für radikale Islamisten, für Kriminalität, hohe Arbeitslosigkeit, für Jugendliche, die dort weg wollen - nach Europa. Der Stadtteil wurde nach den Terroranschlägen, die Casablanca am 16. Mai 2003 erlebte, landesweit bekannt. 40 Menschen starben damals. Die zwölf Attentäter stammten alle aus Sidi Moumen.
Die Jugendlichen wollen nur weg, nach Europa
Mahi Binebine, ein marokkanischer Künstler, schrieb daraufhin ein Buch über den Stadtteil. Er forschte nach. Er wollte wissen, wie Jugendliche aus diesem Quartier zu Selbstmordattentätern werden konnten. Sein Ergebnis präsentierte er erst als Buch, später wurde es verfilmt. Mahi Binebine wählte eine provokante Perspektive:
"Diese Jungs aus Sidi Moumen werden als Opfer gezeigt. Und das ist ja kein normaler Ansatz, ein Selbstmordattentäter ist eigentlich kein Opfer. Aber im Buch und im Film haben wir das so gezeigt: Selbstmordattentäter als Opfer - Opfer eines Staates, der solche Slums zulässt; Opfer der Religions-Mafias, die sich in diesen Slums festgesetzt haben; Opfer auch eines Bürgertums, das die Menschen nicht ordentlich bezahlt. All das zusammen schafft ein Klima, in dem menschliche Bomben entstehen."
So hat man das im Königshaus von Mohamed VI. sicherlich nicht gesehen. Aber dennoch kündigte der König nach den Anschlägen von 2003 an: Der Terrorismus muss bekämpft werden. Und gleichzeitig müsse Marokko modernisiert und demokratisiert werden. Offenbar wurde auch im Palast gesehen, dass es ein Risiko gibt, dass in Slums wie Sidi Moumen kaum kontrollierbare Strukturen entstanden waren.
Der Soziologe Jamal Khalil beschreibt diese Strukturen auch als Folge der enormen sozialen Ungleichgewichte im Land. Die Frage, ob diese Ungleichheiten eine echte Gefahr für König und Regierung in Marokko darstellen, beantwortet Khalil klar:
"Ja! - Man hat lange Zeit geglaubt, dass die wirtschaftliche Entwicklung ab einem bestimmten Punkt eine Art Lokomotive ist, die alle Leute mitnehmen kann. Aber ich denke nicht, dass die Wirtschaft das alleine regeln kann. Es gibt außerdem soziale und kulturelle Fragen. Die Menschen, die an die Ränder der Gesellschaft gedrängt werden, kommen in irgendeiner Form wieder - Beispielsweise wie die Attentäter vom 16. Mai 2003. Solche Menschen können eben vielleicht rekrutiert werden von Leuten, die ihnen irgendeine Hoffnung anbieten. Selbst wenn die Hoffnung gar keinen Sinn macht, wie die Hoffnung, ins Paradies zu kommen."
Dieses Risiko haben König und Regierung auch verstanden. Seitdem sind in Sidi Moumen lange, lange Reihen von Sozialwohnungsbauten entstanden. Ein großer Teil des Dschungels aus Wellblech-Hütten ist mittlerweile verschwunden. Nur ein Kern des Slums steht noch. Aber die Arbeitslosigkeit, gerade unter Jugendlichen, ist immer noch hoch. Der Drogenkonsum auch. Und die Anschläge vom 16. Mai 2003 und die Herkunft der Selbstmordattentäter aus Sidi Moumen prägen den Ruf des Stadtviertels bis heute:
"Sidi Moumen ist gleich 16. Mai, ist gleich Terrorismus. Wenn man dahin geht - was ist da? Das ist wie in einem Horrorfilm, der zeigt: Da kann man nachts nicht hingehen, nicht einfach sagen, ich bin ein Mädchen aus Sidi Moumen. Wenn ich das jemandem im Stadtzentrum von Casablanca sage, dann heißt es gleich: Sidi Moumen? Was machst Du denn da? Das geht gar nicht!"
"Auch hier gibt es Kunst, Künstler, Talente"
Das ist Soumiah. Sie arbeitet in Sidi Moumen. Die junge Frau ist von Haus aus Technikerin, aber diesen Beruf übt sie nicht aus. Soumiah kam durch den Film über die Attentäter nach Sidi Moumen. Drehbuchautor Mahi Binebine war auf die Idee gekommen, in Sidi Moumen ein Kulturzentrum einzurichten. Soumiah hörte davon, machte ein Praktikum - und blieb. Jetzt führt sie mich durch das Kulturzentrum. "Les Étoiles de Sidi Moumen" heißt es - "Die Sterne von Sidi Moumen". Was für ein Name!
So hieß das Buch, das Mahi Binebine über Sidi Moumen und die Attentäter geschrieben hat. Und im Kulturzentrum "Die Sterne von Sidi Moumen" wollen sie schauen, was die Menschen in diesem Stadtteil können. Soumiah beschreibt das so:
"Da ist ein Fenster zur anderen Seite geöffnet worden, um einen Austausch zu machen, um ein bisschen von diesem negativen Blick auf das Viertel wegzukommen, um zu zeigen: Man kann auch was Anderes machen. Klar haben hier Leute schlechte Sachen gemacht. Aber nicht alle. Wie überall gibt es hier gute und schlechte Leute. So ist das auch in Sidi Moumen. Auch hier gibt es Kunst, Künstler, es gibt Talente. Und das Kulturzentrum hat das alles entdeckt."
Soumiah führt mich durchs Kulturzentrum. Sie zeigt mir Sprachkurse, Veranstaltungsräume, die kleine Bibliothek, den Saal für Kino- und andere Vorführungen. So etwas gab es nicht in Sidi Moumen. Jetzt gibt es das - und es wird angenommen.
Kamal übt. Sein kleines Schlagzeug steht auch im Kulturzentrum. Hier kann er tagsüber jederzeit hinkommen und trommeln. Das ist besser als auf den Straßen von Sidi Moumen rumzuhängen und die Zeit totzuschlagen.
Adil denkt sich das auch. Der 25-Jährige unterrichtet hier im Zentrum:. "Ich bin Tänzer", antwortet er auf meine Frage nach seinem Beruf. Adil tanzt Hip Hop, R&B und Breakdance. Er spricht ein ausgezeichnetes Englisch. Das hat er sich teils selbst beigebracht, teils auf der Schule gelernt. Die hat er allerdings geschmissen, weil er Tänzer sein wollte. Deshalb übte er stundenlang im Jugendzentrum. Dort gibt es dafür einen Raum. Dort erlaubt man ihm, an seinem Traum zu arbeiten.
Es gilt das Vorrechte der Älteren
Mittlerweile bringt er dort Jüngeren Tanzen bei. Dann treten sie im Veranstaltungssaal des Jugendzentrums auf. Alle im sogenannten Problem-Viertel, die zusehen wollen, können kommen. Und sie tun es, es gibt sonst nicht viel Kultur in Sidi Moumen:
"Wenn die Leute Tänzer sehen, denken die meisten erst einmal: Ach, die spielen ja nur rum. Wenn sie sie hier sehen, hart trainierend, schwitzend, dann respektieren sie die Tänzer mehr. Weil die hart trainieren. Es ist nicht so einfach."
Adil und seine Kollegen tanzen bei Wettbewerben. Geld verdienen sie mit anderen Jobs. Der eine im kleinen Laden seiner Familie, andere mit Gelegenheitsarbeiten. Die jungen Männer haben im Kulturzentrum von Sidi Moumen Halt gefunden. Sie kennen viele, die Marokko verlassen wollen. Sie selbst wollen das nicht. Houssni gehört auch zu den Tanzlehrern. Er versucht zu erklären, was sie genau tun:
"Wenn Du etwas tust, musst Du etwas darüber wissen. Das versuchen wir zu machen. Einer organisiert die kostenlosen Workshops. Wir helfen dabei, sie zu machen. Es gibt B-Boy-Kurse, Kurse für Hip-Hop- oder für House-Musik. Eine Menge Sachen, die wir machen und bei denen wir versuchen den Jüngeren beizubringen, wie man sie richtig macht."
Was die Jugendlichen dabei lernen? Nicht nur zu Hip-Hop oder House zu tanzen. Sie lernen, regelmäßig in den Kurs zu kommen, diszipliniert zu trainieren, sich anzustrengen, auch wenn es nicht gleich beim ersten Mal klappt. Aber das alles tun sie für etwas, was ihnen Spaß macht. Sie können sich über den Tanz ausdrücken, ihre Energie investieren. Sie können Anerkennung bekommen.
Marokko ist heute noch in weiten Teilen eine autoritär strukturierte Gesellschaft. Geprägt durch Hierarchien, Vorrechte der Älteren und Religion. Junge Leute haben es da schwer, etwas für sich zu erkämpfen.
Analphabeten-Rate von etwa 30 Prozent
Ich treffe Sophia Akhmisse, die Leiterin des Kulturzentrums. Akhmisse erzählt, dass sie eigentlich mit einem sehr einfachen Prinzip arbeiten:
"Die Jugendlichen haben sehr wenig Raum, sich frei zu entfalten. Es gibt kaum Plätze, an denen sie sich treffen können ohne einen Aufpasser im Hintergrund, ohne einen Direktor der genau darauf achtet, was sie sagen. Wenn die Jugendlichen bei uns einen Raum für ein Treffen oder eine Probe haben wollen, dann vertrauen wir ihnen von Anfang an."
Dieses Vertrauen scheint sich im Kulturzentrum in Sidi Moumen auszuzahlen. Solche weitgehend privat finanzierten Initiativen schaffen ein paar Stabilisierungsanker in Stadtquartieren wie Sidi Moumen.
Aber die Arbeit dort ist nur ein Puzzle-Teil eines größeren Problems. Marokko kämpft mit einer zentralen Herausforderung: Es muss ein Wirtschaftswachstum erreichen, das ausreicht, um den vielen jungen Menschen Arbeit zu geben. Das kann aber nur gelingen, wenn diese jungen Menschen auch die notwendigen Voraussetzungen mitbringen: Schulabschluss, Berufsausbildung, ausreichende Qualifikationen. Marokko hat nach wie vor eine Analphabeten-Rate von etwa 30 Prozent derjenigen, die älter als 15 Jahre sind. Viele junge Menschen brechen nach sieben Schuljahren ihre Bildungskarriere ab und versuchen, sich irgendwie durchzuschlagen. Als Gelegenheitsarbeiter oder Händler.
Soziologe Jamal Khalil hat das Bildungssystem Marokkos als größtes Hindernis identifiziert. Jahrzehntelang sei hier eine Reform nach der anderen gemacht worden, aber keine richtig - und keine erfolgreich.
"Die Welt ändert sich sehr schnell. Die Berufe von heute sind nicht mehr die Berufe von morgen. Das marokkanische Bildungssystem basiert darauf, auswendig zu lernen. Es gibt kaum Anreize, Dinge zu reflektieren, sich Dinge selbst zu erschließen. Das liegt auch daran, dass sich die Ausbildung für die Lehrer kaum verändert hat. Man unterrichtet heute doch nicht mehr wie vor 20, 30 oder 40 Jahren."
In Marokko scheinbar doch. In den ländlichen Gebieten herrscht das noch stärker vor als in den Städten. Aber auch in den Städten hat das kostenlose staatliche Schulsystem einen miserablen Ruf. Wer es sich leisten kann kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen. Die Wenigsten in Marokko.
Die Mädchen bleiben zu Hause
Auf dem Land kommen noch andere Probleme hinzu, sagt Soziologe Jamal Khalil. Nach der Grundschule müssen viele Jugendliche auf dem Land ziemlich weit fahren, um eine weiter führende Schule besuchen zu können. Sie haben ein Transport-Problem. Das muss oft in privater Initiative gelöst werden, teilweise mit Zuschüssen vom Staat. Aber der Transport zu weiterführenden Schule kostet die Eltern wiederum Geld, sagt Jamal Khalil. Und das hat Folgen:
"Fast automatisch fallen die Mädchen dann aus dem Schulsystem heraus. Viele Eltern dort haben eine ziemlich schlichte Mentalität. Sie sagen sich, Hauptschulbildung reicht doch, das wird sonst zu teuer. Die Mädchen arbeiten halt auf den Feldern und später heiraten sie sowieso."
Daraus ergeben sich gravierende Nachteile für die Bildung der jungen Frauen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass gerade einmal ein Viertel der Frauen im arbeitsfähigen Alter tatsächlich einem Beruf nachgehen. Immer mehr Marokkanerinnen und Marokkaner sind in den zurückliegenden Jahren weg vom Land, hinein in die Städte gezogen. Dieser schnelle Zuzug hat dafür gesorgt, dass an den Rändern der großen Städte immer mehr riesige, problematische Quartiere entstehen.
Hier sammeln sich Menschen, die eine Unterkunft, Zugang zum Gesundheitssystem, Bildungschancen und vor allem aber Arbeit suchen. Die Regierung hat sich vorgenommen, pro Jahr 200.000 neue Jobs zu schaffen.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen sind hoch, die Quote liegt insgesamt bei knapp zehn Prozent. Besonders betroffen sind aber die jungen Leute, primär in den Städten. Dort sind schätzungsweise bis zu 40 Prozent ohne Arbeit. Und das gilt keineswegs nur für diejenigen, die keine gute Ausbildung haben. Auch viele junge Akademiker finden keinen Job.
Das Internet ermöglichst neue Sichtweisen
Premierminister Abdelilah Benkirane hat die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, das Kern-Problem Marokkos, auf eine drastische Formel gebracht: "Dafür müssen revolutionäre Lösungen gefunden werden. Wenn nicht, erwartet uns eine Revolution der Bevölkerung."
Manche allerdings machen bereits ihre eigene, private Revolution. Mehdi Annassi ist einer von ihnen. Mehdi hat eine öffentliche Schule besucht und studierte dann Informatik. Eigentlich interessierte ihn allerdings alles, was mit digitaler Grafik, mit Kunst und mit Videospielen zu tun hatte. Diesen Weg hat er dann für sich weiterverfolgt. Und Mehdi hatte Glück: Ein internationaler Video-Spiele-Konzern fand seine Arbeiten, die er im Internet gepostet hatte, und engagierte ihn als freien Grafiker. Das Bildungssystem in Marokko half dabei wenig, sagt Mehdi:
"In der Schule merkst du von Beginn an, dass du die Dinge nur lernst, um durch ein Examen, eine Klausur zu kommen. Du lernst nichts, was du wirklich im Leben gebrauchen kannst. Ich glaube, diese Erfahrung macht jeder Marokkaner in der Schule. Es geht um auswendig lernen und das Gelernte wiederzugeben, wenn man gefragt wird. Wenn du mich heute fragst, was ich in der Schule gelernt habe, dann werde ich keine Antworten haben."
Mehdi ist 28 Jahre alt. Mittlerweile kann er von seiner Arbeit leben. Schule und Universität haben dabei wenig geholfen, sagt er. An der Uni habe er Leute getroffen, die ähnliche Interessen hatten wie er. Gemeinsam haben sie sich daran gemacht, sich die notwendigen Kenntnisse selbst zu suchen. Deshalb sagt Mehdi:
"Heute gibt es keine Entschuldigung mehr für junge Leute. Via Internet haben sie Zugang zu allem. Sie können sich für ihr Interessengebiet Internet-Communities anschließen, auf Internetseiten Informationen suchen, Fragen stellen. Nach meiner bescheidenen Auffassung ist es so: Wenn sie nichts zustande bringen, dann liegt es an ihnen, nicht am Bildungssystem."
Mehdi Annassi meint, Eigeninitiative kann oder muss das ausgleichen, was das traditionelle staatliche Bildungssystem nicht bietet. Wenn Mehdi erklären soll, was der wesentliche Unterschied zwischen seiner und der Generation seiner Eltern ist, dann antwortet er sofort: das Internet als Kommunikationsplattform, als Informationsquelle, als Mittel, den eigenen Horizont zu erweitern.
"Wer ins Internet geht, findet unterschiedliche Ideen und Wahrnehmungen zu bestimmten Themen. Allein das kann schon zu Konflikten mit den Eltern darüber führen, was man meint und glaubt. Unsere Eltern sind damit aufgewachsen, ihre Informationen aus dem Fernsehen, dem Radio und Zeitungen zu beziehen. Alle diese Medien werden von bestimmten Kräften kontrolliert oder manipuliert. Über das Internet haben wir jetzt Zugang zu Ansichten, die bisher nicht öffentlich verfügbar waren. Das verändert die Haltungen und Sichtweisen. Und es kann zu Konflikten führen."
Auch Marokko hat deshalb das Phänomen einer geteilten Öffentlichkeit. Es gibt die traditionellen Medien, die bestimmte rote Linien nicht überschreiten: keine Kritik am König, keine offenen Debatten über Religion, beispielsweise. Zusätzlich gibt es die sozialen Medien, die Messenger-Dienste via Smartphone. Da toben harte und offene Debatten über Homosexualität, über die Rolle der Frauen - auch über König und Regierung. Auch das zählt zu den Dingen, die in Bewegung gekommen sind in Marokko.
Mehdi Annassi ist deshalb verhalten optimistisch, wenn es um die Frage geht, wie Marokko wohl in zehn Jahren aussehen wird. Es werde mehr Demokratie geben, sagt er. Es werde eine bessere Teilung der Macht geben, denn darauf drängen die Menschen, sagt Mehdi Annassi:
"Ich bin viel gereist. Ich habe viele Länder gesehen, von Europa bis nach Asien. Und ich hoffe, dass meine Zukunft in Marokko liegt. Wenn ich die Möglichkeit habe, in Marokko zu leben, dann werde ich das machen. Ich möchte gerne hier bleiben und mein Bestes tun."