Leben in der Transformationsgesellschaft

Lütten Klein als Schaufenster der DDR

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Vor der Fassade der Häuserwand stehen zahlreiche Trabanten im Neubaugebiet Lütten Klein in Rostock.
Das Neubaugebiet Lütten Klein in Rostock war typisch für die Wohnverhältnisse in der DDR. © dpa/ Dieter Klar
Steffen Mau im Gespräch mit Ute Welty  · 12.08.2019
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In der Wendezeit sei die Bundesregierung einem sehr naiven Transformationsmodell gefolgt, kritisiert der Soziologe und Buchautor Steffen Mau. Welche Folgen das bis heute hat, analysiert Mau am Beispiel des Rostocker Stadtteils Lütten Klein.
Ute Welty: 30 Jahre nach dem Mauerfall erscheint heute ein Buch, das wie unter dem Brennglas die Verhältnisse analysiert. Es geht um "Lütten Klein". Vor 1989 gilt der Rostocker Stadtteil als Neubaugebiet, in dem es sich angenehm leben lässt, und nach '89 wird aus Neubau Plattenbau. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Steffen Mau wächst in Lütten Klein auf. Inzwischen ist er Professor für Makrosoziologie in Berlin und für die Recherche zum Buch nach Lütten Klein zurückgekommen. Guten Morgen, Herr Mau!
Steffen Mau: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Was ist denn an Lütten Klein so exemplarisch?
Mau: Lütten Klein steht pars pro toto eigentlich für das, was die DDR sein wollte und in gewisser Weise auch war. Man muss sich immer vorstellen, in der DDR wohnten fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung in diesen sogenannten Neubaugebieten, und in Rostock waren es sogar fast 70 Prozent. Also, dort wurde eine Art von Lebensweise ausgeprägt und auch gepflegt, in der sich die DDR im Prinzip als eine der Zukunft zugewandte Gesellschaft darstellen wollte und in gewisser Weise auch konnte. Vielleicht so im Vergleich: Plattenbauten, die es ja auch im Westen gab, da haben gerade mal zwei bis drei Prozent der Bevölkerung gelebt, sodass das doch in gewisser Weise sehr prägend war und auch sehr viele Menschen in ihrer Lebensform in gewisser Weise charakterisiert hat.

Schwellenangst des Forschers

Welty: War das für Sie so ganz einfach, nach Lütten Klein zurückzugehen und den Soziologen im Gepäck zu haben?
Mau: Natürlich hatte ich auch ein bisschen Schwellenangst, wenn man das so sagen kann. Ich bin 1990 da weggegangen und habe immer mal wieder Verbindungen gehabt, kenne natürlich auch Menschen, die da noch wohnen. Aber jetzt als Forscher mit so einer Außenperspektive da reinzugehen, das war in gewisser Weise schon eine Überwindung, weil man natürlich auch irgendwie auf sein eigenes Gestern wieder trifft und auch besser versteht oder versucht zu verstehen, wie einen eigentlich die eigene Herkunft prägt, was man im Gepäck noch trägt von dem, was man damals so erfahren und erlebt hat.
Welty: Sie sagen, in der Abwicklung der DDR hat es viele Verletzungen gegeben, aber kann das tatsächlich Erklärung sein für beispielsweise die hohen Zustimmungswerte, die die AfD erfährt und für die Ressentiments gegenüber Flüchtlingen, auch wo keine wohnen?
Mau: Mein Panorama ist die gesamte DDR und die ostdeutsche Gesellschaft. Lütten Klein ist mein Schaufenster, wo ich das hin und wieder mal versuche anschaulich zu machen. Natürlich kann ich das jetzt nicht in zwei, drei Sätzen wiedergeben, wofür ich ein ganzes Buch gebraucht habe. Aber es ist nicht natürlich schon so, die DDR war eine nach unten hin nivellierte Gesellschaft, eine Gesellschaft der kleinen Leute.
Kindergartenkinder spielen auf einem Spielplatz der Kindertagesstaette Lütten-Klein in der Stockholmer Strasse. .
Auch der Autor Steffen Lau wuchs als Kind in Lütten Klein auf und ging 1990 fort. © imago images / Frank Sorge
In gewisser Weise ist das Ostdeutschland heute auch noch - und zwar eine kulturell und sozial isolierte und auch abgeschirmte Gesellschaft mit kaum Migrationsbewegung. Im Zuge der Wiedervereinigung sind dann doch einige Frakturen, wie ich das nenne, also Brüche hinzugetreten. Die sind demografischer Art, aber es ist natürlich auch eine soziale Deklassierung. Also man kann zum Beispiel zeigen, dass es ganz geringe Aufstiegsraten auch nach der Wende gab.
Die Spätzeit der DDR war eigentlich dadurch charakterisiert, dass es so etwas gab wie eine Mobilitätsblockade. Ganz wenige Leute hatten noch Aufstiegschancen. Die Zugänge zu Hochschulen sind immer weiter runtergefahren worden, und man hätte eigentlich denken können, dass im Zuge der Wiedervereinigung sich eigentlich dieser Sargdeckel der DDR öffnet und es mehr Möglichkeiten gibt, dann auch soziale Aufstiege hinzulegen, aber das ist nicht passiert.

Unterschiedliche Auf- und Abstiege

Welty: Woran hat das denn gelegen, dass es diese Aufstiege und diese Aufstiegsmöglichkeiten nicht gegeben hat?
Mau: Es ist wirklich frappierend, wenn man sich die Zahlen anguckt. Wenn Sie zum Beispiel heute ostdeutsche Männer mit westdeutschen Männern vergleichen, dann halten sich die Rate der Aufstiege und der Abstiege ungefähr die Waage. Im Westen allein durch den berufsstrukturellen Wandel, Tertiärisierung, Technologie und so weiter, sind doppelt so viel Aufstiege wie Abstiege zu verzeichnen.
Es gab natürlich einen extremen Zusammenbruch ostdeutscher Märkte, keine großen Unternehmen, die dahingegangen sind, und einen massiven Elitentransfer. Das ist ja auch bekannt: Drei Viertel aller Elitenpositionen in Ostdeutschland sind durch Westdeutsche besetzt. Das sind mehrere zehntausend Menschen, die rübergegangen sind, sodass heute eigentlich ein sehr loses Band zwischen den gesellschaftlichen Eliten und der ostdeutschen Bevölkerung existiert. Das hat sich langfristig als Problem herausgestellt.
Welty: Die Einheit hat ja tausende von Milliarden gekostet und kostet immer noch. Ist dieses Geld im Osten verpufft? Den Eindruck könnte man ja bekommen, wenn man sich das Ausmaß der Klagen vor Augen führt.
Mau: Ja, ich würde sagen, das war ein sehr sozusagen naives Transformationsmodell. Man hat gedacht, wenn man Geld rüberschickt, dann ist die Sache eigentlich schon erledigt. Heute sind wir schlauer. Das ist natürlich immer leicht, jetzt sozusagen in der Rückschau als Besserwisser dazustehen. Aber wenn man dieses ganze Geschehen damals auch soziologisch ein bisschen komplexer analysiert hätte, dann hätte man schon gesehen, dass die Art und Weise der Wiedervereinigung auch politisch, also indem man einen vollständigen Institutionentransfer macht und die DDR eigentlich wie eine Art von Insolvenzmasse behandelt und den Ostdeutschen auch viele Mitsprachemöglichkeiten dann entzieht durch den Einigungsvertrag, aber auch kulturell, indem man sagt, alles, was DDR-kontaminiert ist, was von da kommt, also die ganze ostdeutsche Soziokultur, die brauchen wir nicht mehr, die wird abgewickelt, und es gibt auch keine Rücksicht auf die Mentalitäten vor Ort. Wenn das alles zusammenkommt, dann kann man mit Geld auch nicht so viel erreichen, wie man vielleicht erreichen möchte. Das sind heute die Probleme, vor denen wir eben stehen.
Bau eines neues Geschäftszentrum 1996 in Rostock zwischen Lütten Klein und Warnow.
Der Stadtteil Lütten-Klein, der in Plattenbauweise zwischen 1965 und 1969 gebaut wurde, erhielt 1996 das City-Center Warnowallee.© dpa-Zentralbild
Welty: Das ist ja ein ziemlich pessimistisches Bild, was Sie zeichnen. Wie kann man das denn noch mal einfangen, zurückdrehen, wiederbeleben?
Mau: Ich gebe im Prinzip keine Reparaturempfehlung in dem Buch, das wäre auch vermessen. Wenn man sich ein bisschen mit Sozialstruktur und auch Entwicklung von Mentalitäten beschäftigt, dann weiß man auch, dass sie durch politische Intervention nicht so simpel zu verändern sind, und dass sich so: man hat ein paar Stellschrauben, und alles richtet sich zum Guten.
Das wird ein langwieriger Prozess sein, auch ein schwieriger Prozess. Ich denke, das 30. Jahr der deutschen Einheit ist auch eine Gelegenheit, um noch mal kritisch auf diese ganze Entwicklung zu sehen und vielleicht auch die Fehler, die man gemacht hat, offener zu benennen, als wir das bisher gemacht haben. Das wäre erst mal ein erster Schritt. Viele andere Dinge sind auch kleinteiliger.
Da geht es natürlich nach wie vor auch um Beförderung von wirtschaftlichen Entwicklungen, da geht es natürlich auch um die Frage, wie man Repräsentationsstrukturen verankert, wie man besser auch netzzivilgesellschaftliche Organisationen spannt. Das sind alles Dinge, die werden sehr, sehr langsam vonstattengehen. Die Superlösung, die von heute auf morgen funktioniert, ist nicht in Sicht.

Die Nacht des Mauerfalls

Welty: Sie beginnen das Buch mit der Nacht der Nächte in der deutschdeutschen Geschichte, mit der Nacht des Mauerfalls. Was haben Sie gedacht, als Sie am nächsten Morgen wachgeworden sind? Alles nur geträumt?
Mau: Ja, ich war damals Soldat, und wir hatten so eine 48-Stunden-Wache, also zwei Stunden Wache stehen, zwei Stunden Bereitschaft, zwei Stunden schlafen, sodass ich gar nicht am nächsten Morgen wachwerden konnte, sondern die ganze Nacht wach war, und das war unglaublich unwirklich, weil ich in Schwerin in einer Kaserne stationiert war und wir auch im Prinzip abgeschnitten waren von den Nachrichten.
Wir hatten so ein kleines, batteriebetriebenes Radio, wo wir einen Westsender eingestellt hatten und uns live mit Informationen versorgt haben. Es ist auch eine ganze Menge Alkohol geflossen an dem Abend. Aber es war eine absolut bizarre und unwirkliche Situation. Wenn ich heute an vieles zurückdenke, was das Ende der DDR ausgemacht hat und auch diese Übergangsphase, dann kriegt man eigentlich immer noch Gänsehaut.
Es geht vielen Ostdeutschen wahrscheinlich so, dass diese Erinnerungen extrem präsent sind und wirklich einen Moment in der Geschichte, wo all das, was bisher war, nicht mehr zählte und man doch von einer Gesellschaft anfängt in eine andere Gesellschaft hinüberzugleiten, viele, auch, ohne dass sie in dem Moment erkannt haben, wie groß eigentlich die Dimension des Ganzen ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Steffen Mau, Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Suhrkamp Verlag 2019, 284 Seiten, 22 Euro.

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