Kontraste mit Charme
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Nirgendwo lebt es sich in Deutschland so schlecht wie in Gelsenkirchen, behauptet die "Große Deutschland-Studie des ZDF". Von allen Landkreisen und Städten in Deutschland kam die frühere Zechenstadt auf den letzten von 401 Plätzen.
"Kein Mensch kennt Gelsenkirchen auf der Welt, aber sobald man Schalke sagt oder ein Schalke-Trikot irgendwo anhat, dann weiß man Bescheid." Die Augen des Mannes sind so blau wie die schlichten Holzbänke, auf die er sich setzt. Direkt neben der Autobahn A 42, im Schalker Urstadion. Tribüne der Glückauf-Kampfbahn. Wo Namen zu Hause sind, die es anderswo nicht gibt: Ernst Kuzorra, Stan Libuda. Er hier heißt Olivier Kruschinski. Nomen est Omen. In Gelsenkirchen wurde immer alles zusammengewürfelt.
"Ich habe zwei Staatsbürgerschaften, ich bin Deutsch-Franzose", sagt Kruschinski. "Schalker wird man nicht – das ist man." Er ist selbständiger Gästeführer. 99 Prozent aller Gelsenkirchener, sagt er, waren ursprünglich einmal Wirtschaftsflüchtlinge. Angelockt durch Kohle, Stahl und Industrie, verbunden durch den Fußball. "Schalker wird man nicht, Schalker ist man. Das ist eine Familiengeschichte."
Wer Gelsenkirchen verstehen will, so Kruschinski, muss Schalke verstehen: "Wir sitzen hier in der altehrwürdigen und denkmalgeschützten Kampfbahn Glückauf. Wahrscheinlich sogar eine der allerallerbedeutendsten Sportanlagen, die wir in diesem Land haben. In dem Stadion, in dem wir jetzt gerade sitzen, wären heute keine 10.000 Menschen mehr zugelassen. Es gab in den 30er Jahren hier Spiele, da haben 70.000 Menschen zugeschaut."
Damals leuchtete Schalke durch seine Fußballspiele - und Gelsenkirchen durch seine Feuer. "Die Stadt der Tausend Feuer", erinnert sich Kruschinski. 70 Schächte, Kohle als Grundstoff für die Industrie. Und nach der Schicht: ab in die Kneipe oder ins Stadion. "Die Schalker haben den Fußball revolutioniert."
Der privilegierte "Lackschuhsport"
Der Fußballsport sei immer ein Privilegiertensport, ein "Lackschuh-Sport", gewesen. "Und man wollte die Polacken und Proleten, so wurden die Schalker früher genannt, man wollte sie nicht dabei haben", sagt er. "Aber sie haben alle Widrigkeiten überwunden, David gegen Goliath, das biblische Epos, indem sie tatsächlich den Fußball, das Spiel, revolutioniert haben, ihnen auf einmal zeigten, wo der fußballerische Frosch die Locken sitzen hatte."
Kruschinski ist auch Schalke-Aktivist. Er hat dafür gekämpft, dass die Glückauf-Kampfbahn heute wieder gut aussieht. Nachts wird sie angestrahlt, natürlich in blau. Der Rasen ist immer etwas gräulich grün, ob Sommer oder Winter. Kunstrasen. Kruschinskis nächstes Ziel: Das historische Eingangstor wieder aufzubauen, da, wo auch das Vereinslokal von Schalke 04 steht.
Arm, aber ehrlich
Draußen vor der Glückauf-Kampfbahn beginnt die Schalker Meile. Fan-Shops, einer davon ist der ehemalige Tabakladen des Schalker Fußballers Ernst Kuzorra, der den Klub in den 20er bis 40er Jahren wie kein anderer geprägt hat. Dazwischen leerstehende Läden. Eine Leuchtreklame wirbt in der blanken Auslage in grün: Zu vermieten plus Telefonnummer. Bröckelige Fassaden, viel Verkehr, kaum Flair. Abgeranzt.
Gegen die "Große Deutschland-Studie des ZDF" aller 401 deutschen kreisfreien Städte und Landkreise, bei der Gelsenkirchen 2018 auf dem letzten Platz landete, hat Olivier Kruschinski die Kampagne #401GE gestartet."Und ich würde dann 'arm, aber ehrlich' tatsächlich darunter skandieren."
Das verfügbare Durchschnittseinkommen pro Kopf im bayerischen Starnberg ist mehr als doppelt so hoch wie das in Gelsenkirchen. Keine Kohle im Revier. Von einst knapp 400.000 Einwohnern ist die Stadt auf 265.000 geschrumpft. Gegessen muss werden – sagt man im Ruhrpott. "Arm ist man nicht ohne Geld, arm ist man ohne Herz. Das Beste kommt immer zum Schluss. Und das passt schon gut", sagt Kruschinski. Gegessen muss werden. Sagt man im Ruhrgebiet.
Entsprechend wichtig ist der Imbiss von Christian Jansen auf dem kleinen Markt im Stadtteil Ückendorf. Ganz im Süden von Gelsenkirchen. "Man sagt eigentlich: Wir gehen zum Jansen." Seit 80 Jahren sagt man das. Denn schon der Großvater briet hier Reibekuchen und Schnitzel und Frikadellen. Dazu Nudelsalat.
Warten auf Jansens Reibekuchen
Christian Jansen, ein großer Mann mit Drei-Tage-Bart und Schirmmütze und steht früh auf: "Ich habe heute Morgen zum Beispiel um halb zwei angefangen und habe die Sachen alle frisch zubereitet." Jansen kann von seinem Beruf leben, zusammen mit Frau und drei Kindern. Ein zufriedener Mann, der nicht zum Jammern neigt. Sein grundoptimistischer Spruch lautet so: "In der Stadt der tausend erloschenen Feuer brennen die 500 Gasdüsen der Firma Jansen immer noch. Seit über 80 Jahren." Gelsenkirchen ist lebenswert!
Vor Jansens Stand warten die Kunden auf ihre Reibekuchen. Gelsenkirchen soll nicht lebenswert sein? Da gibt es Widerspruch. "Ich bin zufrieden, ganz zufrieden. Es gibt einiges, was für Kinder hier ist, muss ich sagen." Jemand anderes sagt: "Die Leute, die meinen alle noch, das wäre der alte Pott hier, noch alles. Ist aber lange nicht mehr. Unser Sohn, der wohnt in Bayern oben und wie das Mädchen das erste Mal mit runterkam, die war auch ganz erstaunt, wie grün das Ruhrgebiet ist."
Während Christian Jansen seine Reibekuchen brät, kommt ihm noch ein anderer Punkt in den Sinn, warum das Leben in Gelsenkirchen für ihn so gut ist: Sport und Kultur. "Ob es ein Biathlon ist, ob es irgendwelche Konzerte sind, ob es Pink ist, Udo Lindenberg war hier und viele bekannte Künstler." Sein nächstes Konzert: Mark Knopfler in Oberhausen. Mit dem Auto eine gute halbe Stunde. Und Jansen denkt an seine Billard-Karriere zurück.
"Um für mich mal zu sprechen: Ich bin zum Beispiel hier auch in Gelsenkirchen in die Billard-Szene reingekommen schon mit acht Jahren und habe dann die ganzen Jugendwettbewerbe durchlaufen und habe nationale und internationale Wettkämpfe mitgemacht", sagt Jansen. "Man kann schimpfen auf Gelsenkirchen, wie man möchte, aber man hat doch auch Startmöglichkeiten, also die werden einem doch gegeben."
Die Gelsendienste
Noch bevor der Markt zu Ende ist, saust bereits der Reinigungswagen der Stadtwerke am Stand vorbei. Die heißen hier Gelsendienste. Sauber, lecker, gepflegt. So ist Ückendorf.
Die Klingel ist kaputt. Also bitte klopfen. Das ist aber auch das einzige, was bei Familie Stahl nicht funktioniert. Geräumiges weißes Haus in ruhiger Lage im Gelsenkirchener Ortsteil Feldmark. Näheres erklären Tanja und Bernd Stahl selbst. "Das weiß die Frau immer besser", sagt er und sie fügt hinzu: "Also wir sind seit 22 Jahren verheiratet, wohnen beide schon immer in Gelsenkirchen, sind auch hier geboren, haben vier Kinder zwischen elf und 20 Jahren und einen Hund."
Tanja Stahl leitet das Naturfreundehaus in Gelsenkirchen. Bernd Stahl ist Chemikant beim größten Arbeitgeber der Stadt, einer Raffinerie. Heute hat er Spätschicht. Deshalb kann er morgens mit mir aufs Fahrrad steigen. "Fahrrad ist als Verkehrsmittel ganz normal für mich. Ich fahre jeden Tag damit zur Arbeit. Das sind ungefähr fünf Kilometer."
Grüne Berge
Die Fahrradrouten sind hier so grün wie anderswo auch. Nur eines ist einmalig: dicke Rohre am Wegesrand. "Das sind Fernwärmeleitungen, da wird nicht Abwasser, sondern Abwärme von Kraftwerken genutzt, um Haushalte noch zu heizen", sagt Stahl. "Das war alles vor circa 40 Jahren noch umzäunt hier und eine schwarze Halde, die teilweise auch geraucht hat, weil in der Erde Kohle geglüht hat. Und wenn man sich das jetzt vorstellt, hier guckt man auf einen grünen Berg, man könnte meinen, man steht im Sauerland irgendwo an einem Hügel."
Zehn Minuten später durch dichtes Grün sehen wir Stahls Arbeitsstätte. 2.300 Menschen sind in der Raffinerie beschäftigt. "Wir verarbeiten hier sehr viel Erdöl und machen daraus ganz verschiedene Produkte, die jeder Mensch in Deutschland braucht", sagte er. "Von Benzin über petrochemische Stoffe, die für Waschmittel gebraucht werden oder Kleidung, Polymere und so weiter. Der Charme begründet sich dadurch, dass halt dieser große Kontrast da ist. Grüne Landschaft drum herum und dann steht da mitten drin ein Werk, wo es raucht und dampft und manchmal auch feuert."