Leben mit der Sturmflut
Sie schauen häufiger als Landratten auf das Barometer – die Bewohner der Nordseeinsel Pellworm. Das Meer und der Wind bestimmen den Tagesablauf, die Insulaner leben mit den Naturgewalten, mit Sturmfluten, die Inseln verschwinden und entstehen ließen, vor allem zu dieser Jahreszeit.
Dichter Nebel hat sich über die Nordsee gelegt, so als wollte er die Geschichte von Rungholt zudecken. In einer Januarnacht 1362 ging es bei einer Sturmflut unter, bei der "Groten Mandränke". Sie verschlang Mann und Maus, weil - so die Sage - die Rungholter ein gottloses Leben führten.
150 Jahre hatten sie den Nordseewellen getrotzt, bis der große Orkan kam und alles Leben verschlang. Die Rungholter hatten nie wirklich eine Chance gegen die tobenden Naturgewalten. Sie hatten auf weichem Schwemmland aus der vorletzten Eiszeit gesiedelt. Das Meer holte sich zurück, was ihm gehörte. Über 640 Jahre ist das her und viele Sturmfluten sollten noch folgen.
Kurs Hallig Südfall also, wo Rungholt einst aus dem Meer ragte. Es ist kalt, feucht, neblig. Kurs Südost liegt an, Steuerbord bleibt der Anleger von Pellworm zurück.
"Heute morgen war es anfangs ganz still noch."
Das ist drei Stunden her. Das Wetter kann man voraussagen, den Wind nicht. Eine schlappe Sieben, Schaumkronen. Nichts Besonderes für Edlefsen, den ehemaligen Deichgrafen von Pellworm.
"Wenn Wind jetzt ständig Südwest geht und jeden Tag stärker wird, dann bahnt sich da was an."
Der Wind zerrt an den Sachen und reißt die Worte aus dem Mund. Vielleicht ein Grund, weshalb Friesen nicht gerade als redselig verschrien sind.
"Wenn es auf Nordwest umspringt, dann kriegen wir den höchsten Wasserstand, ne."
Edlefsen schaut sich um, geht mit dem Blick den Deich ab. Der ist acht Meter hoch, liegt wie eine Teigrolle um die Insel. Deichlänge: 28 Kilometer. 28 Kilometer gegen Unwetter.
"Man freut sich, wenn es links und rechts vorbeigeht, ne. (lacht) Ja, ja, so ist das, ne."
Pellworm liegt tief, ungewöhnlich tief, ohne Deich würde die Insel zwei Mal am Tag von normalem Hochwasser überflutet werden. Und der Inselboden sackt immer mehr ab.
"Es sinkt wohl. Das Sinken bringt nichts, aber das der Wasserstand steigt, nich."
Der Deich soll nochmals um 50 Zentimeter erhöht werden, das sieht der neue Katastrophenplan vor. Dann ist die Oberkante erreicht, mehr geht nicht, mehr kann der Deichboden nicht tragen. Die Hoffnung der Leute, dass schon nichts passieren wird, ist größer als der Deich.
"In dem Moment ist fast nichts zu machen."
Edlefsen wendet den Blick vom Deich kurz zum Inselinneren. Neuerdings werden nicht mehr alle Häuser auf Warften gebaut, auf Hügeln. Und jüngere Leute, so ist zu hören, seien nicht mehr wach genug, fühlten sich sicher. Die letzte schlimme Sturmflut von 1962 ist lange her. Die Mahnungen der Alten reißen nicht ab, die Sturmflutwarnungen der Experten nehmen zu.
"Tja, die Gefahr ist immer da."
Kurs Rungholt. Der Wind hat auf Nordost gedreht, vielleicht drei bis vier. Der Nebel ist geblieben, die Sonne hat keine Macht mehr, also bleibt der Nebel, trübe Sicht. Egal, über Rungholt soll es heute gehen.
Sturmfluten verschlangen Rungholt, schufen Pellworm und formten eine neue Geographie: das Wattenmeer. Vor allem die zweite "Grote Mandränke". Sie riss zwei Drittel der großen Insel Strand ins ewige Wasser, die kleine Insel Nordstrand ist ein Rest davon. Hier kann der "Blanke Hans" bei Sturm ungehindert wüten.
Das Land der Friesen liegt immer im Wind, Pellworm liegt immer im Wind und Meer. An herbstlich-winterlichen Tagen eine sturmumtoste und wellenbedrängte Insel, daher die harte Landschaft und der herbe Menschenschlag. Vom Festland geschieden, den Meeresgewalten ausgesetzt.
"Nee, das hab ich nicht?"
Der Gast vom Radio hatte es gewagt, nach O-Tönen von Sturmfluten auf Pellworm zu fragen. Die gibt es natürlich nicht, bei Sturmflut wird jede Hand gebraucht.
"So ist das Leben, joh."
Vom davor und danach gibt es genug Bildmaterial – in 8000 Fotos kann Clausen kramen, wenn er nach Belegen zur Geschichte befragt wird.
"Ist schon 1981 – da steh ich. War von der Feuerwehr eingesetzt."
An der Straßenecke, im Wasser.
"Ist leider ein bisschen unscharf. Hier geht Welle rüber, so hoch wie das Fenster, zwei Meter höher als das Wasser hier. "
Aber zurück zu Rungholt, das ist das Thema der Verabredung.
"Genau. Die Pastoren haben verbreitet, die Insel sei untergegangen, weil sie so sündig lebten. Ist Unsinn. Wollten auf Leute Druck ausüben, unter Kirche halten."
Aber Rungholt stand nicht auf festem Grund und ein Friese lässt sich nicht so schnell beeinflussen.
"Nicht so sehr stark, hat nicht immer funktioniert, wie die Kirche sich das vorgestellt hat."
Geblieben sind die Legende und der Name – Rungholt.
"Ja, heißt soviel wie Krüppelgehölz oder niedriges Holz. Gab früher Wald hier. Heute noch im Watt viele Baumstämme zu finden oder Baumwurzelgeflechte."
Mit anderem ist es da schon schwerer. Die Legende berichtet, dass der Pastor von Rungholt und drei junge Mädchen die Sturmflut überlebten. Und auf Nordstrand, erzählt mancher, sollen heute noch Nachfahren leben.
Clausen, der Alleskundige, kramt zwischen Zeitungsartikeln, Urkunden und Stammbäumen.
"Nee, hier kann das auch nicht sein. Aber irgendwo habe ich Unterlagen. Aber mit Vorsicht zu genießen, wer kann seine Familienchronik schon bis 1362 zurückverfolgen?!"
Das Gebiet der nordfriesischen Inseln ist die Gegend der Sturmfluten und Feuersbrünste, untergegangener Orte und auferstandener Geschichten.
"Was soll man dagegen machen, können wir nichts gegen machen, nich."
Der Nebel wird immer dichter. Irgendwo da vorne muss Rungholt liegen. Das Echolot zeigt eine Bruchkante im Wattenstrom an, sie fällt auf 24 Meter ab. Das versunkene Rungholt ist erreicht, wenn es an der Kante wieder steil hochgeht. Davon ist noch nichts zu sehen.
Die Chronik schwerer Sturmfluten ist sehr lang, die der Sturmflut-Katastrophen nicht gerade kurz. Die Julianenflut vom 17.Februar 1164 ist die bedeutendste des 12. Jahrhunderts, Chroniken berichten von 20.000 Toten. Im 13. Jahrhundert reißt die Erste Marcellusflut am 16. Januar 1219 rund 36.000 Menschen in den Tod. Ebenfalls am 16. Januar, wir schreiben inzwischen das Jahr 1362, bei der Zweiten Marcellusflut, versinkt Rungholt im Meer, die Berichte schwanken zwischen 100 und 200.000 Toten.
Die Oktoberflut am 11. Oktober 1634 zerreißt die riesige Insel Strand, Pellworm entsteht, 10.000 Menschen ertrinken. Die Weihnachtsflut am 24. Dezember 1717 ist die schwerste bis dahin bekannte Sturmflut, die Februarflut 1825 erreicht den höchsten bis dahin bekannten Wasserstand. Januar 1953, Februar 1962, zwei Sturmfluten im Januar 1976, die Novemberflut 1981 ...
Die Aufzählung ist lückenhaft. Hinzu kommen unzählige Unwetter und Orkane wie zuletzt "Anatol" im Dezember 1999. So viele Sturmflutwarnungen wie in den letzten zehn Jahren hat es schon lange nicht mehr gegeben. Die Jahre um 1790 sollen mit Sturmfluten so angefüllt gewesen sein wie heute.
"Ich weiß nicht, wie die auf dem Festland zusammenleben, also hier sehr gut."
Der Inseldoktor, eine gebürtige Landratte, hat sich heute mit neun Zehntel der Pellwormer Senioren zum Altencafé getroffen - mit Kaffee, Kuchen, Pastor und Gesangseinlagen.
"Die Nordsee, das Wasser, die Küste."
Die Gründe für die Abwanderung vom Festland reichten bei ihm für 19 Jahre Arbeit auf der Insel. Wasser und der Wind waren in der Zeit manchmal ungnädig.
"Ach, das habe ich nie so empfunden. Ich weiß, dass es so sein kann. Ich habe die Sturmflut 62 erlebt. Aber das vertreibt die Menschen hier auch nicht."
Und auch nach seiner Pensionierung blieb Doktor Schlitt auf Pellworm. Das Sprichwort von den alten Bäumen und verpflanzen ist nur ein Teil der Antwort.
"Weil sie daran hängen, wegen der Heimat. Die haben ein sehr starkes Heimatgefühl. Vielleicht gerade wegen der Lebensumstände, die sind hier besonders fordernd."
In die Gesichter der Alt-Pellwormer haben sich die Geschichten eingegraben – von den Unwettern, aber mehr noch vom mühseligen Tagewerk des Inselbauern. Aber darüber macht man kaum Worte.
"Ach, die Widrigkeiten sieht man nicht so. Die kommen und die nimmt man so hin, die gehören dazu."
Jeder hat seinen Teil beim Deichbau und Inselschutz eingebracht, das zählt. Nur Landratten reden da schnell von "Notgemeinschaft".
"Nee, ist ihr normales Lebensumfeld."
Vom Wasser umringt.
"Ja, aber hier leben sie doch. Und der Deich hält das Wasser ab - bis eine Sturmflut kommt, die schlimmer ist als die von 1962. Muss abwarten, was die Deiche dann sagen."
Abwarten.
"Ja, ja, genau so. Ich habe nie das Gefühl, dass ich in einer Gefahr lebe, ich müsste Angst haben. Musst vorbereitet sein, was die Nordsee kann, aber nie Angstgefühl."
Erinnerungen verdrängt.
"Man verdrängt die nicht, die erledigen sich von selbst, würde ich sagen."
Schicksalsschläge hinnehmen.
"Bis zum gewissen Grade – ja, das ist richtig. Ältere Bevölkerung hat auch noch sehr gesunde Einstellung zum Sterben. So nach dem Motto: Man hat seine Zeit gelebt und nun ist man dran. Es wird akzeptiert, auch von den Angehörigen akzeptiert, ja."
Was kommt, das kommt.
"Das kennen sie seit Generationen. Das ist nicht immer schön. Leute, die hier leben, werden damit fertig, sind es seit Generationen gewohnt. Man nimmt es hin, das ist halt so."
Stürme - selten Gesprächsstoff.
"Ja, wenn sie mit dem Sturm leben, wenn das für sie nichts Besonderes ist, dann registrieren sie das unter Umständen gar nicht mehr."
Kein Stoff, aus dem Vorabendserien sind.
"Er lebt damit, Punkt. Er kennt das, akzeptiert das, er lebt damit."
Die Sturmflut-Katastrophen haben schöne Namen: Julianenflut, Marcellusflut, Walpurgisflut, Elisabethflut, Gallenflut. Die wunderbarste Ballade stammt aus der Feder von Detlev von Liliencron, der acht Jahre auf Pellworm lebte und sie 1822 – natürlich – Rungholt widmete: "Trutz, Blanke Hans".
(...) Rungholt ist reich und wird immer reicher,
Kein Korn mehr fasst selbst der größeste Speicher. (...)
Auf allen Märkten, auf allen Gassen,
Lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
Wir trotzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich!
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
Zieht leis aus dem Schlamm die Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.
(…)
Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans?
"Die reichen Bauern von Rungholt. Schiet Liliencron, ne, also ..."
Pellworms Deichgraf Baaksen mag Fakten, aber Detlev von Liliencron machte mit seiner Ballade "Trutz, Blanke Hans" das Schicksal von Rungholt bekannt, wenn auch zurechtgedichtet.
"Wenn sich hier was entwickelt, das sind Stunden. Und dann ist es vorbei."
Bei Sturm "Anatol" kam die Unwetterwarnung vor dem Abendhochwasser schon am frühen Morgen.
"Und da war es noch still, fast Totenstille. Ich habe gedacht, die spinnen. Und dann hatten wir Mittag höchste Wasserstände drei Stunden vor Hochwasserzeitpunkt. Und wenn weiter gestiegen wäre, kann ja passieren, dat wäre schlimm geworden."
Am Morgen hatte der Viehstall vom Deichgrafen noch ein Dach, am Abend um halb 6 war es weg, Baaksen hörte es nicht.
"Man hört dann nichts mehr, das ist nur ein Gebrause. Wenn das Haus umfällt, das hört man nicht."
Fünf bis zehn Mal im Jahr erreicht das Sturmwasser die Höhe, bei der die Deichwachen raus müssen. Bei 3,50 Meter über Mitteltide, also Normal, wird es kritisch. Was dann passiert?
"Weiß ich nicht, ich habe es noch nicht erlebt."
Leben mit der Sturmflut, Leben mit dem Ernstfall.
"Ganz deutlich muss man sagen: Wenn wir Sturmflut kriegen von noch nie da gewesener Stärke, dann können wir gar nichts machen, nur die Leute, das nackte Leben retten. Kann ich Plattdeutsch besser sagen. Wenn einer glaubt, Schaden am Deich in dem Moment behebbar, der hat das noch nicht gesehen."
Baaksen Deichgraf auf Pellworm. Dass die nächste Sturmflut kommt, ist gewiss, ungewiss ist nur: wann und wie und wo.
"Dat is richtig, Die Sturmfluthäufigkeit nimmt zu und die Wasserstände steigen. Das zusammen heißt, wahrscheinlich, dass es höhere Sturmfluten geben wird als bisher, wahrscheinlich."
"So, jetzt sind wir da, Kante ist angestiegen. Jetzt sind wir auf Rungholt angekommen."
Wasser und Nebel.
"54°29´33" und 8°43´29" West."
Nebel und Wasser – über Rungholt.
"Da ist nicht mehr viel zu ..."
... zu holen. Fischer Ohrt muss es wissen. Als Kind war er häufig im Watt bis Rungholt gelaufen, bei Ebbe tauchen Spuren des sagenhaften Ortes auf. Für kurze Zeit gibt die Nordsee dann frei, was sie einst unter sich begrub. Heute fischt Ohrt gelegentlich noch Scherben raus, für ihn wertloses Zeug.
"Nee, da kann keiner wat mit anfangen. Das liegt so."
Und das war´s dann.
"Heut bin ich über Rungholt gefahren, können sie sagen."
Die Zeit drängt, ablaufendes Wasser, die Ebbe hat eingesetzt. In einer dreiviertel Stunde würde der Kahn auf Grund sitzen und die See Reste von Rungholt freigeben.
Keine schöne Aussicht für Fischer Ohrt – Nebel zwischen Hallig Südfall und Pellworm. Friesenwetter.
Literatur:
Hans Peter Duerr
Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt
Leinen mit Schutzumschlag
ISBN 3-458-17274-2
Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2005
Rungholt – Die Suche nach der versunkenen Stadt
Ein Film von Wilfried Hauke
Video, 45 Minuten
Eine Produktion der DITHO Film- & FS-Produktion
Hans-Henning Henningsen
Rungholt – der Weg in Katastrophe / Band 1 + 2
Fest
ISBN 3-88042-8530/9340
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, 1998
Jörn Hagemeister
Rungholt – Sage und Wirklichkeit
Broschiert
ISBN 3-921416-10-8
Quickborn Verlag, St. Peter Ording, 1979
Detlev von Liliencron
Gesammelte Gedichte – Zweiter Band
2., veränderte Auflage 1901
Verlegt bei Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig
Kai Möller / Marcus Petersen
Liliencron auf Pellworm
ISBN 3-88042-168-4
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, 1982
GEO-SPECIAL: Nordsee
Heft 3 / Juni 1987
Merian-Heft
2. Jahrgang / 5. Heft
Hrg.: Heinrich Leip
Hamburg, 1949
Die große Flut 1962
Broschüre / 48 Seiten
Verlag der Husumer Nachrichten
Hans Peter Duerr
Gänge und Untergänge
edition suhrkamp 2140
ISBN 3-518-12140-5
Suhrkamp Verlag Ffm, 1999
Die deutsche Nordsee
Berichte und Bilder
Leinen
Atlantis-Verlag, Berlin 1937
Prof. Dr. J. Kutzen
Das deutsche Land
Halbleder
Königliche Universitäts- und Verlags-Buchhandlung, Breslau 1900
Christian Jensen
Die nordfriesischen Inseln vormals und jetzt
Fest
Verlagsanstalt und Druckerei Actiengesellschaft, Hamburg 1891
Richard Beitl
Deutsche Volkskunde
Halbleder
Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1933
150 Jahre hatten sie den Nordseewellen getrotzt, bis der große Orkan kam und alles Leben verschlang. Die Rungholter hatten nie wirklich eine Chance gegen die tobenden Naturgewalten. Sie hatten auf weichem Schwemmland aus der vorletzten Eiszeit gesiedelt. Das Meer holte sich zurück, was ihm gehörte. Über 640 Jahre ist das her und viele Sturmfluten sollten noch folgen.
Kurs Hallig Südfall also, wo Rungholt einst aus dem Meer ragte. Es ist kalt, feucht, neblig. Kurs Südost liegt an, Steuerbord bleibt der Anleger von Pellworm zurück.
"Heute morgen war es anfangs ganz still noch."
Das ist drei Stunden her. Das Wetter kann man voraussagen, den Wind nicht. Eine schlappe Sieben, Schaumkronen. Nichts Besonderes für Edlefsen, den ehemaligen Deichgrafen von Pellworm.
"Wenn Wind jetzt ständig Südwest geht und jeden Tag stärker wird, dann bahnt sich da was an."
Der Wind zerrt an den Sachen und reißt die Worte aus dem Mund. Vielleicht ein Grund, weshalb Friesen nicht gerade als redselig verschrien sind.
"Wenn es auf Nordwest umspringt, dann kriegen wir den höchsten Wasserstand, ne."
Edlefsen schaut sich um, geht mit dem Blick den Deich ab. Der ist acht Meter hoch, liegt wie eine Teigrolle um die Insel. Deichlänge: 28 Kilometer. 28 Kilometer gegen Unwetter.
"Man freut sich, wenn es links und rechts vorbeigeht, ne. (lacht) Ja, ja, so ist das, ne."
Pellworm liegt tief, ungewöhnlich tief, ohne Deich würde die Insel zwei Mal am Tag von normalem Hochwasser überflutet werden. Und der Inselboden sackt immer mehr ab.
"Es sinkt wohl. Das Sinken bringt nichts, aber das der Wasserstand steigt, nich."
Der Deich soll nochmals um 50 Zentimeter erhöht werden, das sieht der neue Katastrophenplan vor. Dann ist die Oberkante erreicht, mehr geht nicht, mehr kann der Deichboden nicht tragen. Die Hoffnung der Leute, dass schon nichts passieren wird, ist größer als der Deich.
"In dem Moment ist fast nichts zu machen."
Edlefsen wendet den Blick vom Deich kurz zum Inselinneren. Neuerdings werden nicht mehr alle Häuser auf Warften gebaut, auf Hügeln. Und jüngere Leute, so ist zu hören, seien nicht mehr wach genug, fühlten sich sicher. Die letzte schlimme Sturmflut von 1962 ist lange her. Die Mahnungen der Alten reißen nicht ab, die Sturmflutwarnungen der Experten nehmen zu.
"Tja, die Gefahr ist immer da."
Kurs Rungholt. Der Wind hat auf Nordost gedreht, vielleicht drei bis vier. Der Nebel ist geblieben, die Sonne hat keine Macht mehr, also bleibt der Nebel, trübe Sicht. Egal, über Rungholt soll es heute gehen.
Sturmfluten verschlangen Rungholt, schufen Pellworm und formten eine neue Geographie: das Wattenmeer. Vor allem die zweite "Grote Mandränke". Sie riss zwei Drittel der großen Insel Strand ins ewige Wasser, die kleine Insel Nordstrand ist ein Rest davon. Hier kann der "Blanke Hans" bei Sturm ungehindert wüten.
Das Land der Friesen liegt immer im Wind, Pellworm liegt immer im Wind und Meer. An herbstlich-winterlichen Tagen eine sturmumtoste und wellenbedrängte Insel, daher die harte Landschaft und der herbe Menschenschlag. Vom Festland geschieden, den Meeresgewalten ausgesetzt.
"Nee, das hab ich nicht?"
Der Gast vom Radio hatte es gewagt, nach O-Tönen von Sturmfluten auf Pellworm zu fragen. Die gibt es natürlich nicht, bei Sturmflut wird jede Hand gebraucht.
"So ist das Leben, joh."
Vom davor und danach gibt es genug Bildmaterial – in 8000 Fotos kann Clausen kramen, wenn er nach Belegen zur Geschichte befragt wird.
"Ist schon 1981 – da steh ich. War von der Feuerwehr eingesetzt."
An der Straßenecke, im Wasser.
"Ist leider ein bisschen unscharf. Hier geht Welle rüber, so hoch wie das Fenster, zwei Meter höher als das Wasser hier. "
Aber zurück zu Rungholt, das ist das Thema der Verabredung.
"Genau. Die Pastoren haben verbreitet, die Insel sei untergegangen, weil sie so sündig lebten. Ist Unsinn. Wollten auf Leute Druck ausüben, unter Kirche halten."
Aber Rungholt stand nicht auf festem Grund und ein Friese lässt sich nicht so schnell beeinflussen.
"Nicht so sehr stark, hat nicht immer funktioniert, wie die Kirche sich das vorgestellt hat."
Geblieben sind die Legende und der Name – Rungholt.
"Ja, heißt soviel wie Krüppelgehölz oder niedriges Holz. Gab früher Wald hier. Heute noch im Watt viele Baumstämme zu finden oder Baumwurzelgeflechte."
Mit anderem ist es da schon schwerer. Die Legende berichtet, dass der Pastor von Rungholt und drei junge Mädchen die Sturmflut überlebten. Und auf Nordstrand, erzählt mancher, sollen heute noch Nachfahren leben.
Clausen, der Alleskundige, kramt zwischen Zeitungsartikeln, Urkunden und Stammbäumen.
"Nee, hier kann das auch nicht sein. Aber irgendwo habe ich Unterlagen. Aber mit Vorsicht zu genießen, wer kann seine Familienchronik schon bis 1362 zurückverfolgen?!"
Das Gebiet der nordfriesischen Inseln ist die Gegend der Sturmfluten und Feuersbrünste, untergegangener Orte und auferstandener Geschichten.
"Was soll man dagegen machen, können wir nichts gegen machen, nich."
Der Nebel wird immer dichter. Irgendwo da vorne muss Rungholt liegen. Das Echolot zeigt eine Bruchkante im Wattenstrom an, sie fällt auf 24 Meter ab. Das versunkene Rungholt ist erreicht, wenn es an der Kante wieder steil hochgeht. Davon ist noch nichts zu sehen.
Die Chronik schwerer Sturmfluten ist sehr lang, die der Sturmflut-Katastrophen nicht gerade kurz. Die Julianenflut vom 17.Februar 1164 ist die bedeutendste des 12. Jahrhunderts, Chroniken berichten von 20.000 Toten. Im 13. Jahrhundert reißt die Erste Marcellusflut am 16. Januar 1219 rund 36.000 Menschen in den Tod. Ebenfalls am 16. Januar, wir schreiben inzwischen das Jahr 1362, bei der Zweiten Marcellusflut, versinkt Rungholt im Meer, die Berichte schwanken zwischen 100 und 200.000 Toten.
Die Oktoberflut am 11. Oktober 1634 zerreißt die riesige Insel Strand, Pellworm entsteht, 10.000 Menschen ertrinken. Die Weihnachtsflut am 24. Dezember 1717 ist die schwerste bis dahin bekannte Sturmflut, die Februarflut 1825 erreicht den höchsten bis dahin bekannten Wasserstand. Januar 1953, Februar 1962, zwei Sturmfluten im Januar 1976, die Novemberflut 1981 ...
Die Aufzählung ist lückenhaft. Hinzu kommen unzählige Unwetter und Orkane wie zuletzt "Anatol" im Dezember 1999. So viele Sturmflutwarnungen wie in den letzten zehn Jahren hat es schon lange nicht mehr gegeben. Die Jahre um 1790 sollen mit Sturmfluten so angefüllt gewesen sein wie heute.
"Ich weiß nicht, wie die auf dem Festland zusammenleben, also hier sehr gut."
Der Inseldoktor, eine gebürtige Landratte, hat sich heute mit neun Zehntel der Pellwormer Senioren zum Altencafé getroffen - mit Kaffee, Kuchen, Pastor und Gesangseinlagen.
"Die Nordsee, das Wasser, die Küste."
Die Gründe für die Abwanderung vom Festland reichten bei ihm für 19 Jahre Arbeit auf der Insel. Wasser und der Wind waren in der Zeit manchmal ungnädig.
"Ach, das habe ich nie so empfunden. Ich weiß, dass es so sein kann. Ich habe die Sturmflut 62 erlebt. Aber das vertreibt die Menschen hier auch nicht."
Und auch nach seiner Pensionierung blieb Doktor Schlitt auf Pellworm. Das Sprichwort von den alten Bäumen und verpflanzen ist nur ein Teil der Antwort.
"Weil sie daran hängen, wegen der Heimat. Die haben ein sehr starkes Heimatgefühl. Vielleicht gerade wegen der Lebensumstände, die sind hier besonders fordernd."
In die Gesichter der Alt-Pellwormer haben sich die Geschichten eingegraben – von den Unwettern, aber mehr noch vom mühseligen Tagewerk des Inselbauern. Aber darüber macht man kaum Worte.
"Ach, die Widrigkeiten sieht man nicht so. Die kommen und die nimmt man so hin, die gehören dazu."
Jeder hat seinen Teil beim Deichbau und Inselschutz eingebracht, das zählt. Nur Landratten reden da schnell von "Notgemeinschaft".
"Nee, ist ihr normales Lebensumfeld."
Vom Wasser umringt.
"Ja, aber hier leben sie doch. Und der Deich hält das Wasser ab - bis eine Sturmflut kommt, die schlimmer ist als die von 1962. Muss abwarten, was die Deiche dann sagen."
Abwarten.
"Ja, ja, genau so. Ich habe nie das Gefühl, dass ich in einer Gefahr lebe, ich müsste Angst haben. Musst vorbereitet sein, was die Nordsee kann, aber nie Angstgefühl."
Erinnerungen verdrängt.
"Man verdrängt die nicht, die erledigen sich von selbst, würde ich sagen."
Schicksalsschläge hinnehmen.
"Bis zum gewissen Grade – ja, das ist richtig. Ältere Bevölkerung hat auch noch sehr gesunde Einstellung zum Sterben. So nach dem Motto: Man hat seine Zeit gelebt und nun ist man dran. Es wird akzeptiert, auch von den Angehörigen akzeptiert, ja."
Was kommt, das kommt.
"Das kennen sie seit Generationen. Das ist nicht immer schön. Leute, die hier leben, werden damit fertig, sind es seit Generationen gewohnt. Man nimmt es hin, das ist halt so."
Stürme - selten Gesprächsstoff.
"Ja, wenn sie mit dem Sturm leben, wenn das für sie nichts Besonderes ist, dann registrieren sie das unter Umständen gar nicht mehr."
Kein Stoff, aus dem Vorabendserien sind.
"Er lebt damit, Punkt. Er kennt das, akzeptiert das, er lebt damit."
Die Sturmflut-Katastrophen haben schöne Namen: Julianenflut, Marcellusflut, Walpurgisflut, Elisabethflut, Gallenflut. Die wunderbarste Ballade stammt aus der Feder von Detlev von Liliencron, der acht Jahre auf Pellworm lebte und sie 1822 – natürlich – Rungholt widmete: "Trutz, Blanke Hans".
(...) Rungholt ist reich und wird immer reicher,
Kein Korn mehr fasst selbst der größeste Speicher. (...)
Auf allen Märkten, auf allen Gassen,
Lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
Wir trotzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich!
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
Zieht leis aus dem Schlamm die Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.
(…)
Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans?
"Die reichen Bauern von Rungholt. Schiet Liliencron, ne, also ..."
Pellworms Deichgraf Baaksen mag Fakten, aber Detlev von Liliencron machte mit seiner Ballade "Trutz, Blanke Hans" das Schicksal von Rungholt bekannt, wenn auch zurechtgedichtet.
"Wenn sich hier was entwickelt, das sind Stunden. Und dann ist es vorbei."
Bei Sturm "Anatol" kam die Unwetterwarnung vor dem Abendhochwasser schon am frühen Morgen.
"Und da war es noch still, fast Totenstille. Ich habe gedacht, die spinnen. Und dann hatten wir Mittag höchste Wasserstände drei Stunden vor Hochwasserzeitpunkt. Und wenn weiter gestiegen wäre, kann ja passieren, dat wäre schlimm geworden."
Am Morgen hatte der Viehstall vom Deichgrafen noch ein Dach, am Abend um halb 6 war es weg, Baaksen hörte es nicht.
"Man hört dann nichts mehr, das ist nur ein Gebrause. Wenn das Haus umfällt, das hört man nicht."
Fünf bis zehn Mal im Jahr erreicht das Sturmwasser die Höhe, bei der die Deichwachen raus müssen. Bei 3,50 Meter über Mitteltide, also Normal, wird es kritisch. Was dann passiert?
"Weiß ich nicht, ich habe es noch nicht erlebt."
Leben mit der Sturmflut, Leben mit dem Ernstfall.
"Ganz deutlich muss man sagen: Wenn wir Sturmflut kriegen von noch nie da gewesener Stärke, dann können wir gar nichts machen, nur die Leute, das nackte Leben retten. Kann ich Plattdeutsch besser sagen. Wenn einer glaubt, Schaden am Deich in dem Moment behebbar, der hat das noch nicht gesehen."
Baaksen Deichgraf auf Pellworm. Dass die nächste Sturmflut kommt, ist gewiss, ungewiss ist nur: wann und wie und wo.
"Dat is richtig, Die Sturmfluthäufigkeit nimmt zu und die Wasserstände steigen. Das zusammen heißt, wahrscheinlich, dass es höhere Sturmfluten geben wird als bisher, wahrscheinlich."
"So, jetzt sind wir da, Kante ist angestiegen. Jetzt sind wir auf Rungholt angekommen."
Wasser und Nebel.
"54°29´33" und 8°43´29" West."
Nebel und Wasser – über Rungholt.
"Da ist nicht mehr viel zu ..."
... zu holen. Fischer Ohrt muss es wissen. Als Kind war er häufig im Watt bis Rungholt gelaufen, bei Ebbe tauchen Spuren des sagenhaften Ortes auf. Für kurze Zeit gibt die Nordsee dann frei, was sie einst unter sich begrub. Heute fischt Ohrt gelegentlich noch Scherben raus, für ihn wertloses Zeug.
"Nee, da kann keiner wat mit anfangen. Das liegt so."
Und das war´s dann.
"Heut bin ich über Rungholt gefahren, können sie sagen."
Die Zeit drängt, ablaufendes Wasser, die Ebbe hat eingesetzt. In einer dreiviertel Stunde würde der Kahn auf Grund sitzen und die See Reste von Rungholt freigeben.
Keine schöne Aussicht für Fischer Ohrt – Nebel zwischen Hallig Südfall und Pellworm. Friesenwetter.
Literatur:
Hans Peter Duerr
Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt
Leinen mit Schutzumschlag
ISBN 3-458-17274-2
Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2005
Rungholt – Die Suche nach der versunkenen Stadt
Ein Film von Wilfried Hauke
Video, 45 Minuten
Eine Produktion der DITHO Film- & FS-Produktion
Hans-Henning Henningsen
Rungholt – der Weg in Katastrophe / Band 1 + 2
Fest
ISBN 3-88042-8530/9340
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, 1998
Jörn Hagemeister
Rungholt – Sage und Wirklichkeit
Broschiert
ISBN 3-921416-10-8
Quickborn Verlag, St. Peter Ording, 1979
Detlev von Liliencron
Gesammelte Gedichte – Zweiter Band
2., veränderte Auflage 1901
Verlegt bei Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig
Kai Möller / Marcus Petersen
Liliencron auf Pellworm
ISBN 3-88042-168-4
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, 1982
GEO-SPECIAL: Nordsee
Heft 3 / Juni 1987
Merian-Heft
2. Jahrgang / 5. Heft
Hrg.: Heinrich Leip
Hamburg, 1949
Die große Flut 1962
Broschüre / 48 Seiten
Verlag der Husumer Nachrichten
Hans Peter Duerr
Gänge und Untergänge
edition suhrkamp 2140
ISBN 3-518-12140-5
Suhrkamp Verlag Ffm, 1999
Die deutsche Nordsee
Berichte und Bilder
Leinen
Atlantis-Verlag, Berlin 1937
Prof. Dr. J. Kutzen
Das deutsche Land
Halbleder
Königliche Universitäts- und Verlags-Buchhandlung, Breslau 1900
Christian Jensen
Die nordfriesischen Inseln vormals und jetzt
Fest
Verlagsanstalt und Druckerei Actiengesellschaft, Hamburg 1891
Richard Beitl
Deutsche Volkskunde
Halbleder
Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1933