Raufen und Schweigen
Am 11. März 2009, also heute vor fünf Jahren, fand in dem kleinen schwäbischen Städtchen Winnenden ein Amoklauf statt. An diesem Tag erschoss ein Jugendlicher neun Schülerinnen und drei Lehrerinnen in der Albertville Realschule, tötet auf seiner Flucht noch einmal drei Menschen und verletzte 13 weitere schwer. Ein Trauma für Schüler, Angehörige und Stadt. Vieles hat sich seitdem verändert.
Mit dick gepolsterten, bunten Schaumstoffschlägern drischt die 12-jährige, zarte, blonde Antonia kichernd auf den viel größeren, der 14-jährigen Leonidas ein. Die beiden Jugendlichen leiten den so genannten Raufclub. Bevor gleich in der Pause die Mitschülermeute einfällt, toben sich die beiden schon mal selbst aus.
"Das soll ein Antigewaltprojekt werden. Wenn man mal sauer ist, oder mal irgendwo drauf schlagen will, kann man hier runter kommen, sich halt austoben. Wir haben jetzt auch seit neuestem, dass den schnellsten Box in 30 Sekunden, wie viel Schläge man hin kriegt zu machen."
"Und der Rekord liegt bei 100 Schlägen, das war ein Fünftklässler das ist richtig krass."
Der Raufclub ist nur eine von zahlreichen Veränderungen, die die Albertville-Realschule seit dem Amoklauf hinter sich hat. So wurden zum Beispiel aus den drei Klassenzimmern, in denen besonders viele Kinder starben, ein Gedenkraum für die Opfer, eine Bibliothek und eine Schülerfirma. Unterricht findet hier nicht mehr statt. Neu sind auch die Alarmknöpfe in jedem Klassenzimmer und die schnelle Türverriegelung per Knopfdruck. Doch das Allerwichtigste, findet Schulleiter Sven Kubick, sind nicht neue Wände und Sicherheitskonzepte, sondern neue Inhalte an seiner Schule. Die vielen Mitmach- und Anti-Gewalt-Projekte, die zahllose AGs - sie alle haben nur ein Ziel: das Verantwortungsgefühl und das Miteinander der Jungen und Mädchen zu stärken.
"Das ist ein ständiger Prozess. Wir können nicht sagen, jetzt haben wir irgendwann mal Streitschlichter gehabt und jetzt ist es erledigt damit oder wir haben irgendwann mal eine Aktion gemacht zusammen mit einer anderen Schule und da haben wir was Tolles auf die Beine gestellt im Bereich der sozialen Zusammenarbeit und dann war es das. Sondern es ist eine ständige Herausforderung und diese Herausforderung nehmen wir hier gerne an an der Schule."
Zum Quatschen gehen sie in den Raum der Stille
Während die jüngeren Schüler in der Pause raufen, haben sich ein paar ältere Mädchen und Jungs zum Quatschen in den Raum der Stille zurückgezogen, auch Oliver. Der 16-Jährige geht in die zehnte Klasse, engagiert sich in der ökumenischen Schulgemeinschaft, die sich in dem Raum regelmäßig trifft und gemeinsame Ideen bespricht: ein Hilfsprojekt für Namibia, Pilgerreisen und Gottesdienste, Besuche im nahen Altenheim. Auch hierbei geht es immer um mehr Miteinander.
"Ja, natürlich achtet man da jetzt schon ein bisschen mehr drauf, wie die sich verhalten. So was taucht halt meistens im Untergrund auf, meistens bemerkt man es nicht, aber ich denke, wenn sich jetzt ein Kumpel von mir wirklich, wirklich auffällig verhalten würde, würde ich schon mal danach gucken, ob der nicht ein bisschen durchdreht."
Viele Projekte an der Albertville-Realschule werden von der Stiftung gegen Gewalt an Schulen finanziert, die Gisela Mayer leitet. An diesem Vormittag sitzt sie in einem hellen Dachgeschossbüro der Stiftung mitten in Winnenden, liest wie immer ihre zahlreichen Mails. Eltern und Pädagogen aus ganz Deutschland suchen bei der 50-Jährigen Rat. Gisela Mayer hat beim Amoklauf ihre 24-jährige Tochter Nina verloren, die als Referendarin an der Albertville Realschule gearbeitet hat. Seitdem ist sie im Dauereinsatz.
"Das alte Leben ist in gewisser Weise mit meiner Tochter gestorben und es ist so, dass man hinter diesen Tag auch nicht zurückkommen kann. Das heißt, ich kann jetzt nicht zurück in irgendeine Art Normalität und irgendwo weiter machen. Das hat sich verändert. Es war nicht freiwillig, aber es ist so."
Nie wieder soll aus einem Jungen ein Mörder werden!
Gisela Mayer ist Mitte 50, sehr schlank, sorgfältig gekleidet und strahlt eine große Kraft aus. Man merkt ihr schnell an, dass auch sie unbedingt etwas verändern will: Nie wieder soll aus einem einfachen Jungen ein brutaler Mörder werden.
"Dieser Junge wurde hier in einer Nachbargemeinde geboren und er wurde nicht als Mörder und nicht als Monster geboren. Und das ist zugleich der Auftrag an uns, so haben wir es verstanden, hier nachzufragen. Was um Gottes Willen ist eigentlich passiert, dass einer von Unseresgleichen, denn es ist ein Junge, der hier aufgewachsen ist, plötzlich zu einem Mörder werden kann?"
Vorsichtig räumt Birgit Schweitzer ein paar verwelkte Blumen von dem Grab ihrer 15-jährigen Tochter Selina. Direkt nach ihrem Tod war sie fast täglich hier. Jetzt lässt die 52-Jährige ihr Leben nicht mehr nur von der Trauer um ihr Kind bestimmen, kommt seltener.
"Es geht schon in einen Alltag über. Klar. Muss man auch. Kannst nicht dauernd von einem Tag zum anderen leben. Das geht nedda. Gut, das war ja fast vier Jahre so. Und jetzt ist es so, dass dieser Schmerz durch den Verlust nicht mehr so präsent ist. Er ist zwar da, aber er verblasst."
Am Anfang hat auch Birgit Schweitzer wie Gisela Mayer für Veränderungen gekämpft. Dafür reicht ihre Kraft heute nicht mehr. Zu den Forderungen steht sie aber immer noch. Mit ein paar anderen Müttern war sie 2009 beim damaligen Innenminister Schäuble in Berlin. Die Frauen forderten, dass Großkaliberwaffen für Privatpersonen verboten werden und Sportschützen ihre Munition nicht mehr Zuhause lagern dürfen. Passiert ist nichts.
"Ich weiß nicht, warum diese Politiker vor dieser ganzen Waffenlobby sich so was von in die Hose machen. Es sind ja nur zwei Prozent von der ganzen Bevölkerung: Also ich verstehe es nicht."
Derzeit gibt es in Baden-Württemberg rund 150.000 Waffenbesitzer mit rund 760.000 Waffen. Bei Kontrollen, die als einzige Maßnahme nach dem Amoklauf eingeführt wurden, verstießen 13,2 Prozent der Überprüften gegen die Aufbewahrungsvorschriften. Auf alle Besitzer hochgerechnet bedeutet dies, dass alleine in Baden-Württemberg über 100.000 Waffen nicht sicher aufbewahrt werden.