Leben und Sterben in Pompeji

Von Walter Bohnacker · 28.03.2013
Das Leben in der Antike hatte durchaus Ähnlichkeit mit unserem - das erfährt, wer jetzt in London ins Britische Museum geht, um dort die große Pompeji-Ausstellung zu sehen. Die rekonstruiert den Alltag – so wie er 79 nach Christi Geburt die Menschen in Italien in Atem gehalten haben mag.
In dem Roman "Auch Einer: Eine Reisebekanntschaft”, erschienen 1879, lässt Friedrich Theodor Vischer seinen Helden aus Pompeji berichten: er befasse "sich jetzt profund mit der Frage, ob die Griechen und Römer auch Hühneraugen gehabt haben.”

Nein, mit Hühneraugen kann das Britische Museum nicht dienen, aber wie wär’s mit reichlich nackter Haut, mit Erbrochenem, mit Latrinen und allerlei Obszönem und Vulgärem ohne vorgehaltene Hand? In einem Graffito im Domizil des Marcus Fabius Rufus heißt es "Venimus cupidi, multo magis ire cupimus...” und so weiter:

"Richtig scharf kamen wir hierher, aber wir müssen los. Nur: die Kleine lässt uns nicht gehen."

Daneben, auf einem Wandfresko in der Taverne des Salvius, ist der Kneipenalltag festgehalten – mit Sprechblasen wie in einem Comicstrip. Kurator Paul Roberts schildert die Szene:

"Da schüttet sich eine Frau aus einem Trinkhorn was in die Kehle und ruft ‘Macht’s euch bequem! Ich werd’ jetzt was singen!’ Und einer der Gäste erwidert: ‘Nur zu, Süße!’”"

Und dann diese enorme Warze auf der Wange des Bankers Lucius Caecilius Iucundus. Was wäre er ohne sie! Und was ohne den Bronzephallus, der die Herme schmückt, auf der die Büste ruht, und der als Schutzsymbol fungiert.

Unter der Kuppel des ehemaligen Lesesaals des British Museum soll die römische Antike wiederauferstehen, hautnah und ungeschminkt: nicht als das altbekannte Idealbild mit seinen Ensembles der Feldherren und Gladiatoren, der Triumphbögen und Statuen in strahlend weißem Marmor, sondern – sozusagen als Korrektiv zu imperialem Glanz und Gloria – als die Welt der kleinen Leute.

""Die Bühne gehört den ‘real people’. Es geht um Menschen wie du und ich, und um ihren Alltag. Nur Pompeji und Herculaneum geben uns diese Moment-aufnahmen vom wirklichen Leben der Römer."
Das gemeine Fußvolk des Imperium Romanum, die Bürger, Plebejer und Sklaven: Sie sind das Personal der "Geschichte von unten”, nach dem sich Brechts lesender Arbeiter erkundigt: "Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?”

Ein Doppelporträt zeigt den Bäcker Terentius Neo und seine Frau: er hält eine Papyrusrolle, sie posiert mit ihrem Schreibgerät. Die Freske hängt im nach-gebauten Atrium eines Domizils in Pompeji.

"Im Atrium präsentierte man sich Besuchern von seiner besten Seite. Man demonstrierte Wohlstand, soziale Stellung, guten Geschmack und Kultur. Das Fresko ist das einzige erhaltene Doppelporträt römischer Bürger. Die beiden geben sich als kultivierte, selbstbewusste Geschäftsleute zu erkennen und als absolut gleichberechtigte Partner."

Der Rundgang führt den Besucher durch die rekonstruierten Privaträume der Leute: durch Atrium, Cubiculum, Culina – die Küche – bis in den Hortus, den Garten hinterm Haus. Fresken, Schmuck, die diversen Haushaltsutensilien – vom Küchensieb bis zum Nachttopf –, das Inventar und die gesamte Kulisse: alle sind Zeugen ungebrochener Lebenslust.

Und doch: Zu verdanken haben wir dieses ganze Arrangement antiker Betriebsamkeit jenem Super-GAU an einem Augustmorgen des Jahres 79 nach Christus. Erst der Vesuv, seine Lava, sein Schutt und seine Asche machten Pompeji und Herculaneum zu dem, was die Städte heute sind: Zeitkapseln und Konserven ihrer Epoche und Kulturerbe der UNESCO.

Der fatale Ausgang der Geschichte ist bekannt. Am Golf von Neapel starben damals rund 20.000 Menschen. Die Ausstellung nähert sich den Toten mit angemessener Diskretion und Respekt.
Hier – aus dem "Haus des goldenen Armreifs” – die Gipsabgüsse einer Familie mit zwei Kindern, die in der Gluthitze erstickten; klar zu erkennen: die Kleiderspuren und Gesichtszüge eines der Kinder. Dort der sogenannte "Maultiertreiber”, den man auf der Großen Palästra fand: kauernd in Hockestellung wie ein Verdammter in Dantes "Inferno”.

"Life and death: Pompeii and Herculaneum" entlässt den Besucher aus der Leichenhalle. Und doch ist die Ausstellung keine Totenschau, sondern – ja, sagen wir ruhig: eine Live-Show, die Lebendiges, Lebhaftes inszeniert.

Gleichwohl: Man sollte sich hüten vor dem, was hier, vielleicht einen Dreh zu penetrant suggeriert wird: die distanzlose, scheinbare Vertrautheit und Nähe zum Objekt. "Ötzi” ist keiner von uns. Und selbst wenn sie Hühneraugen hatten: Marcus, Salvius, Lucius und Terentius sind es auch nicht.


Weitere Infos im Web:

British Museum
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