Leben und Werk

Shakespeare und die Lust am Tragischen

Ein bislang unbekanntes Portrait des englischen Lyrikers William Shakespeare, das im Februar 2014 in Mainz präsentiert wurde.
Ein bislang unbekanntes Porträt von William Shakespeare © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Wolfgang Schneider |
Der Anglist Hans-Dieter Gelfert bettet William Shakespeares Werke in ihre zeitgenössischen Kontexte ein - und liefert anschaulich eine Essenz des umfangreichen Wissens über den englischen Schriftsteller.
"Shakespeare in seiner Zeit": Keine spektakulären neuen Thesen will der Anglist Hans-Dieter Gelfert bieten, sondern eine Essenz des umfangreichen Wissens über Shakespeare und seine Werke. Das Ganze aber nicht als Handbuch, bei dem schon auf den ersten Seiten der Lektürefluss stockt, sondern als möglichst unakademisches, mit viel Anschauungsmaterial gewürztes Lesevergnügen.
Trotzdem werden erst einmal Geschichtslektionen über die Sonderentwicklung Englands erteilt. Die Entvölkerung durch die Pest im 14. Jahrhundert und die Dezimierung des Hochadels durch die Rosenkriege führte zu einer frühen Freisetzung des "Bürgers" aus den Bindungen der Feudalgesellschaft. Der damit eingehende soziale "Horizontalisierungsprozess" ist eine Voraussetzung für das Theater Shakespeares.
Die Kultur der Epoche wird in Schlaglichtern dargestellt: Die Ordnungs-Sehnsucht nach Jahrzehnten der Kriege und Religionswechsel, das Leben mit den Pestepidemien, die Spannung zwischen Wissenschaft und Aberglaube, das martialische Strafrecht, das Frauenbild zwischen Idealisierung und Misogynie, die Mode der Melancholie, der Sonettkult und die Besonderheiten des elisabethanischen Theaters.
Ein erhellendes Kapitel widmet sich der Lust am Tragischen und ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Warum genießen es einige Epochen so sehr, anfangs positiv gezeichneten Figuren beim selbstverschuldeten Untergang zuzuschauen? In Hollywood-Filmen kommt dieses Muster heute kaum noch vor. Vermutlich würde es das Publikum eher frustrieren.
Den Spieß umgedreht
Eher knapp fällt der Teil über Shakespeares Leben aus. Die Überlieferung ist bekanntlich spärlich. Auch deshalb wurde oft süffisant die Frage gestellt, ob ein Schauspieler überhaupt solche Menschheitswerke schreiben konnte. Gelfert dreht den Spieß um: Shakespeares herausragende Begabung, sich in Helden und Schurken, Schwärmer und Zyniker, Herrscher und Beherrschte, Frauen und Männer einzufühlen, konnte sich gerade durch seine Bühnenpraxis und Schauspielerfahrung besonders gut entwickeln.
Das Theater war eine Institution, die Menschen aus allen Schichten zusammenbrachte. Die nicht zur Ruhe kommenden Spekulationen über die Autorschaft der Werke Shakespeares verdanke sich, so Gelfert, der menschlichen Neigung zu Verschwörungstheorien.
Der vierte und längste Teil des Buches stellt die Dramen in Einzelporträts vor. Die psychologische Komplexität der Figuren wird herausgestellt. In keinem anderen Werk findet man eine solche Vielfalt der Charakterdispositionen und menschlichen Befindlichkeiten.
Werke in ihre zeitgenössischen Kontexte eingebettet
Vernunft und Leidenschaft – das ist die grundlegende Antithese in den Dramen, aus denen sich die tragische Handlungsstruktur ergibt. Shakespeares Stücke haben Momente, die wie Ausgeburten des 21. Jahrhunderts erscheinen. Wenn etwa am Ende von "Troilus und Cressida" Hektor durch das Myrmidonen-Killerkommando des Achilles abgeschlachtet wird, erscheint das wie Hohn auf das Ideal des fairen, symmetrischen Heldenkampfs.
Andererseits gibt es Motive, die wir kaum noch angemessen verstehen können: Konzepte wie das "Königtum" oder der Wert bewahrter "Jungfräulichkeit" in "Maß für Maß".
Am Ende stehen Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte. Dazu gehört die enthusiastische deutsche Aneignung Shakespeares und insbesondere des "Hamlet", die charakteristische Missverständnisse und Umdeutungen mit sich brachte. Gelferts anregendes Buch bietet da manche Richtigstellung, indem es die Werke wieder in ihre zeitgenössischen Kontexte einbettet.

Hans Dieter Gelfert: William Shakespeare in seiner Zeit
C.H. Beck, München 2014
472 Seiten, 26,95 Euro

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