Lebenschronik eines Anarchisten
Es geht um Geldnot, sexuelle Obsessionen und die Münchner Künstlerboheme: Die Tagebücher des Kritikers und Anarchisten Erich Mühsam sind ein spannendes Dokument über Kulturbetrieb und deutsche Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Folgt man den Aufzeichnungen von Erich Mühsam über sein Leben im Jahr 1911, kommt immer wieder die Filmkomödie "Rossini – oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief" aus dem Jahr 1997 in den Sinn: Fast ein Jahrhundert liegt dazwischen, doch an der Boheme von München-Schwabing scheint sich nichts verändert zu haben. Die Künstler-Szene existierte bereits zu Anfang des Jahrhunderts in der bayrischen Hauptstadt und schien auch damals der abendlichen Geselligkeit unter ihresgleichen einen besonders hohen Stellenwert beigemessen zu haben.
Akribisch notiert Erich Mühsam Tag für Tag die Namen derer, die er täglich im Stammlokal der Bohème, der Torggelstube, angetroffen hat. Es ist ein Who is Who der damaligen Kulturszene, das dort verkehrt: Wedekind, Feuchtwanger, Fridell, Roda-Roda, Waldau, Oppenheimer, Moissi, Thoma. Und Mühsam kennt sie alle, wird von allen gekannt. Auch wenn sein beruflicher Erfolg als bekennender Anarchist im ausgehenden Kaiserreich gebremst ist und er dem Tagebuch regelmäßig seine permanenten Geldnöte klagt.
Doch er lebt ziemlich ungeniert auf Pump. Andererseits ist er höchst freigiebig, sobald er über ausreichend Mittel verfügt, unterstützt andere in Notsituationen, ohne darüber zu klagen. Die finanzielle Zwangslage Mühsams zieht sich wie ein roter Faden durch die Tagebücher des Autors, Kritikers und Zeitschriftenherausgebers.
Dennoch verzichtet er nicht auf die Pflege seiner unglaublich zahlreichen gesellschaftlichen Kontakte, schnorrt Freikarten für abendliche Theateraufführungen und verbringt anschließend die Nächte in den Lokalen oder Cafés der Boheme mit Diskussionen, Poker oder Billard. Zur Arbeit rafft sich Mühsam augenscheinlich nur widerwillig auf. Neben privaten und beruflichen Treffen sowie umfangreicher Korrespondenz hindern ihn immer wieder körperliche Leiden an der Konzentration: Mal ist es ein nicht ausheilen wollender Tripper, mal ein Bandwurm – alles detailreich dem Tagebuch anvertraut.
Die meiste Zeit und Energie in seinem Leben widmet Mühsam, der die Ehe verachtet und losen Beziehungen nachgeht, aber offenbar den Frauen. Die Intensität der Berichterstattung darüber übertrifft jene über seine finanziellen Sorgen. Wie eine sexuelle Obsession erscheint dem Leser Mühsams promiskuitives Verhalten. Nahezu jede Frau, die er kennenlernt, wird zuerst beurteilt, ob sie für ihn koitabel sein könnte. Wie ein Trophäensammler jagt er unterschiedlichen sexuellen Abenteuern nach, wobei es in den Schwabinger Kreisen keine Rolle spielt, ob sich die jeweiligen Personen gerade in Partnerschaften befinden oder nicht. Fremdgehen wird mitunter gar nicht verheimlicht, sondern als Gesellschaftsspiel zelebriert: "Rossini" – damals wie heute.
Für den Leser mag das manische tägliche Name-Dropping erschöpfend wirken, doch lernt er auch bekannte Namen mit anderem Klang kennen, große Geschichte wird zur alltäglichen Gegenwart eines literarischen Beobachters. Mühsams politische Mission erscheint in den ersten nun auf den Markt gekommenen Tagebüchern hingegen von untergeordneter Bedeutung. Vielleicht ändert sich dies in den späteren Eintragungen, während des ersten Weltkriegs und danach.
Die Herausgeber haben rund um die geplante Herausgabe der 7000 Seiten persönlicher Chronik in 42 Heften, die Mühsam zwischen 1910 und 1924 geschrieben hatte, ein Online-Register zusammengestellt, wo die Namen aller zitierten Personen gesammelt sind und sich bei Bedarf mittels Tastendrucks in Erfahrung bringen lässt, wer sich dahinter verbirgt.
Der soeben erschienene erste Band ist ein streckenweise spannendes Dokument für jene, die der Kulturbetrieb und die Gesellschaft in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts interessieren, wenngleich die sehr speziellen, thematisch mitunter redundanten Eintragungen aus der zeitlichen Distanz für den Unbeteiligten zur Geduldprobe geraten können. Es wird vom Abwechslungsreichtum der folgenden Ausgaben abhängen, ob ein Kreis über eingefleischte Mühsam-Fans hinaus für weitere Tagebücher zu begeistern sein wird.
Besprochen von Stefan May
Erich Mühsam: Tagebücher 1. 1910-1911
Verbrecher Verlag, Berlin 2011
352 Seiten, 28 Euro
Akribisch notiert Erich Mühsam Tag für Tag die Namen derer, die er täglich im Stammlokal der Bohème, der Torggelstube, angetroffen hat. Es ist ein Who is Who der damaligen Kulturszene, das dort verkehrt: Wedekind, Feuchtwanger, Fridell, Roda-Roda, Waldau, Oppenheimer, Moissi, Thoma. Und Mühsam kennt sie alle, wird von allen gekannt. Auch wenn sein beruflicher Erfolg als bekennender Anarchist im ausgehenden Kaiserreich gebremst ist und er dem Tagebuch regelmäßig seine permanenten Geldnöte klagt.
Doch er lebt ziemlich ungeniert auf Pump. Andererseits ist er höchst freigiebig, sobald er über ausreichend Mittel verfügt, unterstützt andere in Notsituationen, ohne darüber zu klagen. Die finanzielle Zwangslage Mühsams zieht sich wie ein roter Faden durch die Tagebücher des Autors, Kritikers und Zeitschriftenherausgebers.
Dennoch verzichtet er nicht auf die Pflege seiner unglaublich zahlreichen gesellschaftlichen Kontakte, schnorrt Freikarten für abendliche Theateraufführungen und verbringt anschließend die Nächte in den Lokalen oder Cafés der Boheme mit Diskussionen, Poker oder Billard. Zur Arbeit rafft sich Mühsam augenscheinlich nur widerwillig auf. Neben privaten und beruflichen Treffen sowie umfangreicher Korrespondenz hindern ihn immer wieder körperliche Leiden an der Konzentration: Mal ist es ein nicht ausheilen wollender Tripper, mal ein Bandwurm – alles detailreich dem Tagebuch anvertraut.
Die meiste Zeit und Energie in seinem Leben widmet Mühsam, der die Ehe verachtet und losen Beziehungen nachgeht, aber offenbar den Frauen. Die Intensität der Berichterstattung darüber übertrifft jene über seine finanziellen Sorgen. Wie eine sexuelle Obsession erscheint dem Leser Mühsams promiskuitives Verhalten. Nahezu jede Frau, die er kennenlernt, wird zuerst beurteilt, ob sie für ihn koitabel sein könnte. Wie ein Trophäensammler jagt er unterschiedlichen sexuellen Abenteuern nach, wobei es in den Schwabinger Kreisen keine Rolle spielt, ob sich die jeweiligen Personen gerade in Partnerschaften befinden oder nicht. Fremdgehen wird mitunter gar nicht verheimlicht, sondern als Gesellschaftsspiel zelebriert: "Rossini" – damals wie heute.
Für den Leser mag das manische tägliche Name-Dropping erschöpfend wirken, doch lernt er auch bekannte Namen mit anderem Klang kennen, große Geschichte wird zur alltäglichen Gegenwart eines literarischen Beobachters. Mühsams politische Mission erscheint in den ersten nun auf den Markt gekommenen Tagebüchern hingegen von untergeordneter Bedeutung. Vielleicht ändert sich dies in den späteren Eintragungen, während des ersten Weltkriegs und danach.
Die Herausgeber haben rund um die geplante Herausgabe der 7000 Seiten persönlicher Chronik in 42 Heften, die Mühsam zwischen 1910 und 1924 geschrieben hatte, ein Online-Register zusammengestellt, wo die Namen aller zitierten Personen gesammelt sind und sich bei Bedarf mittels Tastendrucks in Erfahrung bringen lässt, wer sich dahinter verbirgt.
Der soeben erschienene erste Band ist ein streckenweise spannendes Dokument für jene, die der Kulturbetrieb und die Gesellschaft in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts interessieren, wenngleich die sehr speziellen, thematisch mitunter redundanten Eintragungen aus der zeitlichen Distanz für den Unbeteiligten zur Geduldprobe geraten können. Es wird vom Abwechslungsreichtum der folgenden Ausgaben abhängen, ob ein Kreis über eingefleischte Mühsam-Fans hinaus für weitere Tagebücher zu begeistern sein wird.
Besprochen von Stefan May
Erich Mühsam: Tagebücher 1. 1910-1911
Verbrecher Verlag, Berlin 2011
352 Seiten, 28 Euro