"Lebensformen"-Tagung in Berlin

Über die Verschiebung von Grenzen

05:50 Minuten
Ein Mann steht mit dem Rücken zum Publikum, vor ihm eine große Leinwand, auf die rote, weiße und blaue Kugeln projiziert werden, die sich in einer Kurve nach oben bewegen.
Von sich selbst organisierenden Systemen handelt die multimediale Performance-Lecture von Bronislaw Szerszynski. © Joachim Dette / HKW
Von Elisabeth Nehring |
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Welche Form nimmt das Leben an, in unserer durch Technologie geprägten Umwelt? Der Frage sind Künstler und Wissenschaftler auf einer Tagung im Haus der Kulturen in Berlin nachgegangen. Dabei ging es auch um die Verbindung zwischen Sklaven, Robotern und Literatur.
So hat man das Auditorium des Hauses der Kulturen der Welt noch nie gesehen. Der große, holzvertäfelte Saal mit Hunderten Plätzen: fast komplett unbestuhlt. Die Leere wirkt anziehend, der helle Teppich schmeichelt unter den Füßen. Der leicht abfallende Boden lädt zum lässigen Hinsetzen ein.
Wo sonst der Blick konzentriert auf die Bühne gerichtet wird, entsteht zugleich räumliche Weite und Intimität. Ideal für die Denkfreiheit, die die dreitägige Diskurs- und Performanceveranstaltung "Lebensformen" anstrebt. "Reibungsmomente zwischen Technologien, Gesellschaftssystemen und Wertevorstellungen" – nichts weniger als das soll hier analysiert werden.

Ins Unendliche weitergesponnene Fragen

Grundlage für die Gespräche und Vorträge von Wissenschaftlern, Theoretikern und Künstlern sind zehn Fragen, zum Beispiel: "Wofür arbeiten wir?", "Wo finden wir uns selbst?" oder auch "Um wen sorgen wir uns?", einfache, offene Fragen, die von den Vortragenden mitunter ins Unendliche weitergesponnen wurden.
"Kann man Care-Arbeit als eine Form des Denkens begreifen, über ihre materielle und affektive Dimension hinaus? Wenn dem so ist, woraus bestehen die Implikationen einer achtsamen Care-Arbeit, die Geschichte und Erinnerung mit einbezieht? Auf welche Weise kann Care-Arbeit selbst das Denken unterbrechen?"

Eine mittelschwere intellektuelle Überforderung

Jede einzelne dieser Fragen, die Lisa Baraitser, Psychosozialtheoretikerin aus London, in ihrem Vortrag stellte, hätte Anlass zu einem eigenen philosophischen oder gesellschaftspolitischen Exkurs gegeben. Doch die Fragen und Gedankenschleifen, die Verweise auf Texte und Vordenker und -denkerinnen nahmen kein Ende – ein Text, so verdichtet wie ein doppellagiger Pullover, durch den kein Hauch Wind mehr an die Haut dringt.
Klug, sicher, aber nicht gerade geeignet, allgemein zugängliche Breschen in komplexe Themen- und Fragestellungen zu hauen. Womit wir beim Widerhaken dieser vielversprechenden und ambitionierten Veranstaltung wären: Wer unvorbereitet kam, konnte eine mittelschwere intellektuelle Überforderung angesichts der Überfütterung aus unterschiedlichen Theorien und Wissenschaften nicht leugnen.
"Wir wollten noch einmal einen Schritt zurückgehen und versuchen, grundsätzlicher in dem zu werden, wer darüber entscheidet, was Leben ist und was nicht Leben ist, wie dieser Aushandlungsprozess vor allem in der Wissenschaft immer an bestimmte methodische Möglichkeiten gebunden ist und wie dieses wieder ausstrahlt auf unsere gesellschaftliche Vorstellung, was Leben ist", sagt die Kuratorin Katrin Klingan.

Es gab aber auch Glanzpunkte

Vereinzelte Glanzpunkte in diesem sich an den verschiedenen Perspektiven reibenden Denken, das mäanderte und spekulierte, assoziierte und sich an neuen Begriffen und Zusammenhängen versuchte, gab es natürlich auch. Zum Beispiel als der amerikanische Literaturwissenschaftler Louis Chude-Sokei auf seine Kollegin Meldoy Sue traf und beide gemeinsam über Echo und Sound nachdachten – sie aus der Perspektive der Meeresforscherin, die sich mit dem Leben von Walen beschäftigt; er in Bezug auf die Verbindungen zwischen Sklaverei, Literatur und technischer Entwicklung:
"Die Geschichte der Roboter leiht sich ihre Motive bei der Beobachtung der Sklaverei. Im ausgehenden 19. Jahrhundert werden in der Science Fiction-Literatur Roboter als Sklaven beschrieben, als eigene Rasse, die sich gegen ihre Herren erhebt und einen Bürgerkrieg entfacht. Solche Erzählungen sind definitiv davon inspiriert, was zur selben Zeit in den USA geschah, wo Sklaven zu Maschinen oder Werkzeugen degradiert wurden, die man nach Belieben benutzen konnte."
Drei Frauen sitzen auf dem Boden und lehnen sich an eine Wand an. Vor ihnen liegen mehrere Frauen auf dem Boden, die ihre Arme und Beine in die Luft strecken.
Menschen wie Herdentiere auf der Bühne: in der Choreografie von Scarlet Yu und Xavier Le Roy.© © Peter Craig
Die Momente, in denen auf der Gesprächsebene Natur und Politik, der Gebrauch und die Bestimmung von Körpern, Kolonialismus und Umweltschutz zusammenkamen, korrespondierten überraschend gut mit der formalen Seite der Veranstaltung. Denn alle Gespräche, Vorträge, Filme und Proklamationen wurden von einer Performance eröffnet und begleitet, in der 18 Tänzer – überwiegend unbekleidet, sich wie Herdentiere durch den Raum bewegen, wie Gänse schnattern oder pflanzenhaft Arme und Beine im Wind wiegen.
Gelegentlich und immer ganz am Rande entstehen intensive Gespräche zwischen Zuschauern und Performern, in denen letztere aus ihren faunischen und floralen Daseinsformen ins Menschliche zurückkehren. In diesen hybriden Gestalten, die die beiden Choreografen Scarlet Yu und Xavier Le Roy in "Temporary Title" entstehen lassen, löste sich der absichtlich unscharfe Begriff der "Lebensformen" auf ganz sinnliche – und damit auf eindrücklichste Weise ein.
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