Lebenshilfe-Ratgeber, als Prosa getarnt

Rezensiert von Uwe Stolzmann |
Der Psychiater Jorge Bucay aus Buenos Aires heilt seine Patienten mit Geschichten, die er aus der Weltliteratur zusammenklaubt. Weil das so erfolgreich ist, probt er die Zweitverwertung in Buchform. Das Buch ist eine Sammlung kleiner, netter und etwas umständlich formulierter Botschaften, ein Lebenshilfe-Ratgeber, als Prosa getarnt.
Demian, ein junger Mann aus Buenos Aires, steckt in einer so tiefen Lebenskrise, dass er einen Arzt aufsucht. Der Psychiater Jorge Bucay ist ein dicker und gemütvoller, auch etwas durchtriebener Herr Mitte Fünfzig. Dass er die Klienten kumpelhaft duzt, sorgt für eine familiäre Atmosphäre. Sein Patient zu sein bedeutet, geduldig zu sein. Der Dicke setzt sich im Schneidersitz in einen seiner "fürchterlichen blauen Polstersessel", lächelt, sieht dem Gegenüber in die Augen und sagt mit tiefer Stimme: "Komm, ich erzähl dir eine Geschichte."

So heißt auch das Buch von Jorge Bucay, und schon legt der Herr Doktor los mit der Parabel vom angeketteten Elefanten oder den "Fröschlein in der Sahne", mit dem "Traum des Sklaven" oder dem Gleichnis vom "König, der angebetet werden wollte". Märchen, Sagen, Anekdoten – Jorge kennt jede Menge wegweisender Weisheiten. Nein, er hat sie nicht alle erfunden. Viele hat er dem gut bestückten Archiv der Weltliteratur entnommen.

Ein wenig Sufi und ein wenig Saint-Exupéry, dazu ein paar verfremdete Fabeln des Jean de La Fontaine: In seiner psychiatrischen Praxis war und ist der argentinische Arzt Jorge Bucay (Jahrgang 1949) damit sehr erfolgreich – so erfolgreich, dass er sich vor Kundschaft offenbar kaum retten kann. "Im Moment übernimmt Dr. Bucay keine Konsultationen", liest man auf seiner Website (www.bucay.com). "Deine Nachricht wird an einen Therapeuten seines Teams weitergeleitet." Was liegt bei derartigem Zuspruch näher als die Zweitverwertung?

Auf dem Literaturmarkt besteht eine starke Nachfrage nach sinnstiftenden Geschichten, und so wurde der Schriftsteller Jorge Bucay rasch populär. In mehreren Ländern Lateinamerikas gelangten seine Bücher auf die Bestsellerlisten, Auszüge sind auf Video und als Hörbuch erhältlich. Viele Leser mögen Fingerzeige dieser Art: "Gib dich nicht verloren, bevor du verloren bist." Oder: "Eine Geschichte ist eine Brücke, die direkt zu den Gefühlen führt."

Sich selbst porträtiert Bucay in seinen Büchern als narzisstischen Weisen, als "Guru" – den Leser verweist er auf den Platz von Demian, dem rat- und hilflosen Patienten und Ich-Erzähler von "Komm, ich erzähl dir eine Geschichte".

Das Buch ist eine Sammlung kleiner, netter und etwas umständlich formulierter Botschaften. Ein Lebenshilfe-Ratgeber. Das Kleine Einmaleins der Psychologie, als Prosa getarnt und vom Ammann-Verlag wie große Literatur verpackt.

Wer die einfachen Wahrheiten eines Paulo Coelho liebt, wird auch die von Jorge Bucay mögen. Demian, den Musterpatienten, erretten sie übrigens aus seiner Depression. Ob die Therapie auch in Buchform anschlägt, muss jeder Leser im Selbstversuch erproben.

Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte
Aus dem Spanischen von Stephanie von Harrach.
Ammann Verlag, Zürich 2005.
288 S., Leinen, 18,90 Euro.