Keine Aufarbeitung, keine Versöhnung
Lebenslange Haft für Beate Zschäpe. Das Urteil: Ein vermeintlicher Sieg des Rechts gegen das Unrecht. Aber die Aufarbeitung der NSU-Mordserie ist damit nicht erledigt. Viele Fragen bleiben offen, meint unser Hauptstadtkorrespondent Panajotis Gavrilis.
Ich weiß nicht, welcher Begriff meine Gefühlswelt nach diesen Urteilen im NSU-Prozess am besten beschreiben kann: Ja, Wut. Enttäuschung. Entsetzen. Ohnmacht. Ernüchterung. Aber auch Erleichterung.
Die Urteile, sie sind gesprochen. Aber was bleibt? Was bleibt nach fünf Jahren Prozess und 438 Verhandlungstagen? Was bleibt nach den zehn Morden, den Sprengstoffanschlägen und unzähligen Banküberfällen, die dem NSU zugerechnet werden? Leere. Vielleicht aber auch ein Stück Genugtuung, dass wenigstens Beate Zschäpe lebenslänglich bekommen hat. Aber: Das war es schon mit der Genugtuung. Der Neonazi André Eminger bekam nicht die geforderten zwölf Jahre wegen Beihilfe zu Mord, sondern nur zweieinhalb Jahre. Wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Der Mann, der nie einen Hehl aus seiner nationalsozialistischen Gesinnung gemacht hat, ist jetzt auf freiem Fuß. Einer, der "Die Jew Die" - also "Stirb Jude Stirb" - und einen SS-Totenkopf auf seinem Bauch tätowiert hat, ist ein freier Mann.
Protagonisten der Neonazi-Szene werden weitermachen
Das mag juristisch nachvollziehbar sein. Emotional und vor allem aus Sicht der Angehörigen ist es kaum zu ertragen. Es entsteht der Eindruck: Wer eine rechte Mördertruppe unterstützt, vor Gericht mauert, sogar mit seiner menschenverachtenden Gesinnung prahlt, der braucht den Rechtsstaat nicht zu fürchten, der kommt verhältnismäßig glimpflich davon. Und auch der Waffenbeschaffer und Unterstützer Ralph Wohlleben ist mit zehn Jahren Gefängnisstrafe wohl auch eher glimpflich davon gekommen. Zieht man die Dauer der Untersuchungshaft ab, ist auch er in wenigen Jahren wieder draußen. Zwei zentrale Figuren, ohne die der sogenannte NSU seine Taten wohl nicht hätte begehen können. Sie werden als Helden in der Neonazi-Szene gefeiert und – vermutlich weitermachen.
Die Angehörigen und ihre Unterstützer mahnen, die Aufarbeitung dürfe nicht enden. Sie haben Recht. Zu viele Fragen sind noch offen. Wer gehörte noch zum NSU-Netzwerk? Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz? Wie konnte eine rechtsterroristische Gruppe trotz unzähliger V-Männer in der militanten Neonazi-Szene jahrelang mordend durch die Republik ziehen? Was für eine Rolle spielte der ehemalige Verfassungsschutz-Mitarbeiter Temme, der unmittelbar am Tatort war, als Halit Yozgat 2006 in seinem Internetcafé in Kassel ermordet wurde? Die Liste der offenen Fragen ist lang.
Die Angehörigen und ihre Unterstützer mahnen, die Aufarbeitung dürfe nicht enden. Sie haben Recht. Zu viele Fragen sind noch offen. Wer gehörte noch zum NSU-Netzwerk? Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz? Wie konnte eine rechtsterroristische Gruppe trotz unzähliger V-Männer in der militanten Neonazi-Szene jahrelang mordend durch die Republik ziehen? Was für eine Rolle spielte der ehemalige Verfassungsschutz-Mitarbeiter Temme, der unmittelbar am Tatort war, als Halit Yozgat 2006 in seinem Internetcafé in Kassel ermordet wurde? Die Liste der offenen Fragen ist lang.
Die Aufarbeitung muss weitergehen
Gamze Kubaşık, die Tochter eines NSU-Opfers, sagte, das Urteil sei kein Trost für sie, aber ein erster und sehr wichtiger Schritt. Sie fügte aber hinzu: "Solange diese Lücken bleiben, können meine Familie und ich nicht abschließen." Diese Lücken müssen geschlossen werden. Nur dann kann eine Versöhnung gelingen, nur dann verdient es das Wort Aufarbeitung. Das sind wir alle den Opfern und ihren Angehörigen schuldig.
Das Vertrauen vieler Menschen mit Migrationsgeschichten in die Institutionen ist nicht erst nach diesem Prozess erschüttert. Jahrelang wurden sie von den ermittelnden Behörden selbst verdächtigt, zum Teil erniedrigt. Sie wurden zwei Mal Opfer. Beim ersten Mal haben Nazis ihnen ihre Liebsten genommen. Danach haben Behörden mit falschen Beschuldigungen den Familien neue Wunden zugefügt. Der Vorwurf des institutionellen Rassismus war nicht unbegründet. Die Polizei nannte ihre Sonderkommission "Bosporus". In den Medien war von "Dönermorden" die Rede, jahrelang.
Vertrauen muss zurückgewonnen werden
Niemand hat auf die Familien gehört, als sie früh darauf hinwiesen, es könnten rassistische Motive hinter den Taten stecken. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft war beim Auffliegen des NSU im Jahr 2011 überrascht: Neonazis? Rechtsterrorismus? Hier? Für viele kaum vorstellbar. Für Migrantinnen und Migranten war das keine Überraschung, sondern eine Bestätigung. Es gibt eine Kontinuität. Menschen werden aus rassistischen Motiven angegriffen und auch getötet. Ja, hier in Deutschland.
Der Staat hat die Aufgabe die hier lebenden Menschen zu schützen. Im Falle des NSU ist er dieser Aufgabe nicht nachgekommen und er hat das Vertrauen vieler Migrantinnen und Migranten verspielt. Und niemand wird nach diesem Mammut-Prozess mit Gewissheit sagen können: So etwas wie den NSU – das wird es nicht noch einmal geben. Es ist die Aufgabe aller, die multikulturelle und offene Gesellschaft zu verteidigen. Gegen ihre Feinde und gegen den alltäglichen Rassismus.