Lebensspuren im Internet
Wiesbaden 1998: Sechzig Jahre nach dem Novemberpogrom lassen Architektur-Studenten die Synagoge am Michaelsberg wieder auferstehen: Ihre virtuelle Rekonstruktion beruht auf historischen Fotos. Eines, vermutlich aus dem Jahr 1937, zeigt eine junge Dame an der Orgel: Martha Sommer.
"Sie konnte Monate später nach Amerika auswandern. Das Schiff, auf dem ihr Gepäck war, wurde bombardiert und sank, sie hatte nur noch ihr Handgepäck. In dem Handgepäck war aber dieses kleine Fotoalbum. Deshalb hatte sie das dann in New York, und deswegen konnten wir das nutzen und bis heute dieses Bild bewundern."
Dorothee Lottmann-Kaeseler hat in Wiesbaden einen Verein für deutsch-jüdische Geschichte mitbegründet. Sie fahndet seit Jahrzehnten nach Lebensspuren jüdischer Bürger vor der Shoa.
"Oft kriegen wir die Fotos von den Nachkommen. Dann ist es eben so, dass sie das Projekt gut finden und sagen: Dafür können wir gerne unsere Fotos zur Verfügung stellen."
Nämlich in diesem Fall für ein neues Internetportal zum jüdischen Leben im Land Hessen vor der Shoa. – Viele Bilder haben lokale Aktivisten wie Dorothee Lottmann-Kaeseler beigesteuert, andere stammen aus deutschen und internationalen Archiven. Initiatorin Monica Kingreen:
"Diese Idee, mehr zu erfahren über das Alltagsleben vor der NS-Zeit und vor allen Dingen die Veränderungen dann auch in der NS-Zeit, das auf der Fotoebene zu sehen, das fand ich immer sehr faszinierend und dann habe ich das Projekt entwickelt."
Monica Kingreen ist Mitarbeiterin des Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung von Geschichte und Wirkung des Holocausts und des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main. Das neue Internetportal dokumentiert eine Zeitspanne von 1870 bis nach 1945. Jüdische Menschen als gleichberechtigte Bürger, die Zeit der Nazi-Verfolgung, das Leben kurz nach der Befreiung. Das Angebot richtet sich insbesondere an Pädagogen, die die deutsch-jüdische Geschichte nicht auf die NS-Zeit reduzieren möchten.
"Der Sinn des Portals ist ja gerade, das Lebendige auch zu zeigen, und nicht die Menschen, die man im Foto sieht, schon gleich sich als Ermordete vorzustellen, oder als Geflohene."
So Monica Kingreen. Projektmitarbeiterin Claudia Willms:
"Eines meiner Lieblingsbilder ist von einem Ausflug an den Rhein, wo eine Gruppe von jungen, befreundeten Menschen um ein Grammophon sitzen. Die Leute haben diese tollen Badeanzüge an, und die Freunde untereinander, wie sie sich eigentlich gar nicht für das Foto interessieren..! - Es ist ein Bild, wirklich so wie's war."
Und es stammt aus den 1920er-Jahren. Gerade aus solch alltäglichen Motiven liest die Kulturanthropologin Claudia Willms, wie andere aus einem Buch.
"Die Zeit zeigt einfach noch die komplette Normalität. Dass sich einfach niemand Gedanken darüber gemacht hat, wer ist jetzt jüdisch, wer ist jetzt nicht jüdisch? Oder so was. Und das sieht man an diesen Bildern sehr stark. Das sieht man auch in den Schulfotos oder Soldaten, natürlich, keiner hat sich gefragt, welcher ist denn jetzt hier der jüdische Soldat, welcher ist der nichtjüdische? Das war einfach ein Soldat!"
Überdurchschnittlich viele Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Hessen. Ein neues Online-Portal präsentiert nun das jüdische Leben in diesem Bundesland mit mehr als 1000 historischen Fotografien aus diesen Gemeinden.
Ab 1933 zeigen Bilder etwa von arisierten Geschäften oder den Massendeportationen 1941 die NS-Verfolgung. Doch diese spiegelt sich auch in weniger offensichtlichen Motiven, berichtet Claudia Willms.
"Da muss man gucken, ach, ist ja interessant, das ist eine öffentliche Schule, 1933, da ist schon die erste Hakenkreuzfahne dann zu sehen. Dann muss man die Bilder genauer angucken. Wo stehen da unsere Hauptpersonen? Oder wie sehen sie in die Kamera? Was ist da für ein Blick, was ändert sich?"
Viele Familienfotos nach 1933 wirken auf Claudia Willms ernsthafter als solche aus den 20er-Jahren: Wahrscheinlich wurden sie anlässlich einer bevorstehenden Auswanderung gemacht. Solche "Abschiedsfotos" sammelt das Portal unter "Reaktionen auf die Nazi-Verfolgung". Diese Rubrik zeigt, wie aktiv die jüdischen Bürger während der NS-Zeit waren: Sie gründeten etwa eigene Vereine und erlernten Handwerksberufe für einen Neustart in Palästina. Die zentrale Funktion des Internetportals sieht Monica Kingreen in der lokalen Suchmaschine.
"Dass man schauen kann, was ist in diesen kleinen Mini-Dörfchen dort und dort, oder wo ich wohne oder wo ich zur Schule gehe, oder wo ich neulich einen ganz tollen Typen kennengelernt habe: Was ist da? Und die andere Ebene erscheint auch, der heutigen Ortsnamen, das war mir ganz ganz wichtig, dass dieser Zugriff über den Ort möglich ist."
So bieten sich Pädagogen vielfältige Herangehensweisen. – Ein möglicher Ansatz könnte die Weiterbeschäftigung mit den Biografien der ehemaligen jüdischen Bürger sein. 300 hessische Gemeinden sind bereits auf dem Internetportal vertreten, jüdisches Leben ist aber aus rund 400 Orten dokumentiert.
"Insofern ist es schon interessant, mal zu schauen, ob man noch was findet, dazu. Man muss in der Regel nicht sehr weit gehen, um herausfinden, wo in der Nähe die nächste jüdische Gemeinde beziehungsweise die nächste jüdische Familie gewohnt hat."
Dorothee Lottmann-Kaeseler hat in Wiesbaden einen Verein für deutsch-jüdische Geschichte mitbegründet. Sie fahndet seit Jahrzehnten nach Lebensspuren jüdischer Bürger vor der Shoa.
"Oft kriegen wir die Fotos von den Nachkommen. Dann ist es eben so, dass sie das Projekt gut finden und sagen: Dafür können wir gerne unsere Fotos zur Verfügung stellen."
Nämlich in diesem Fall für ein neues Internetportal zum jüdischen Leben im Land Hessen vor der Shoa. – Viele Bilder haben lokale Aktivisten wie Dorothee Lottmann-Kaeseler beigesteuert, andere stammen aus deutschen und internationalen Archiven. Initiatorin Monica Kingreen:
"Diese Idee, mehr zu erfahren über das Alltagsleben vor der NS-Zeit und vor allen Dingen die Veränderungen dann auch in der NS-Zeit, das auf der Fotoebene zu sehen, das fand ich immer sehr faszinierend und dann habe ich das Projekt entwickelt."
Monica Kingreen ist Mitarbeiterin des Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung von Geschichte und Wirkung des Holocausts und des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main. Das neue Internetportal dokumentiert eine Zeitspanne von 1870 bis nach 1945. Jüdische Menschen als gleichberechtigte Bürger, die Zeit der Nazi-Verfolgung, das Leben kurz nach der Befreiung. Das Angebot richtet sich insbesondere an Pädagogen, die die deutsch-jüdische Geschichte nicht auf die NS-Zeit reduzieren möchten.
"Der Sinn des Portals ist ja gerade, das Lebendige auch zu zeigen, und nicht die Menschen, die man im Foto sieht, schon gleich sich als Ermordete vorzustellen, oder als Geflohene."
So Monica Kingreen. Projektmitarbeiterin Claudia Willms:
"Eines meiner Lieblingsbilder ist von einem Ausflug an den Rhein, wo eine Gruppe von jungen, befreundeten Menschen um ein Grammophon sitzen. Die Leute haben diese tollen Badeanzüge an, und die Freunde untereinander, wie sie sich eigentlich gar nicht für das Foto interessieren..! - Es ist ein Bild, wirklich so wie's war."
Und es stammt aus den 1920er-Jahren. Gerade aus solch alltäglichen Motiven liest die Kulturanthropologin Claudia Willms, wie andere aus einem Buch.
"Die Zeit zeigt einfach noch die komplette Normalität. Dass sich einfach niemand Gedanken darüber gemacht hat, wer ist jetzt jüdisch, wer ist jetzt nicht jüdisch? Oder so was. Und das sieht man an diesen Bildern sehr stark. Das sieht man auch in den Schulfotos oder Soldaten, natürlich, keiner hat sich gefragt, welcher ist denn jetzt hier der jüdische Soldat, welcher ist der nichtjüdische? Das war einfach ein Soldat!"
Überdurchschnittlich viele Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Hessen. Ein neues Online-Portal präsentiert nun das jüdische Leben in diesem Bundesland mit mehr als 1000 historischen Fotografien aus diesen Gemeinden.
Ab 1933 zeigen Bilder etwa von arisierten Geschäften oder den Massendeportationen 1941 die NS-Verfolgung. Doch diese spiegelt sich auch in weniger offensichtlichen Motiven, berichtet Claudia Willms.
"Da muss man gucken, ach, ist ja interessant, das ist eine öffentliche Schule, 1933, da ist schon die erste Hakenkreuzfahne dann zu sehen. Dann muss man die Bilder genauer angucken. Wo stehen da unsere Hauptpersonen? Oder wie sehen sie in die Kamera? Was ist da für ein Blick, was ändert sich?"
Viele Familienfotos nach 1933 wirken auf Claudia Willms ernsthafter als solche aus den 20er-Jahren: Wahrscheinlich wurden sie anlässlich einer bevorstehenden Auswanderung gemacht. Solche "Abschiedsfotos" sammelt das Portal unter "Reaktionen auf die Nazi-Verfolgung". Diese Rubrik zeigt, wie aktiv die jüdischen Bürger während der NS-Zeit waren: Sie gründeten etwa eigene Vereine und erlernten Handwerksberufe für einen Neustart in Palästina. Die zentrale Funktion des Internetportals sieht Monica Kingreen in der lokalen Suchmaschine.
"Dass man schauen kann, was ist in diesen kleinen Mini-Dörfchen dort und dort, oder wo ich wohne oder wo ich zur Schule gehe, oder wo ich neulich einen ganz tollen Typen kennengelernt habe: Was ist da? Und die andere Ebene erscheint auch, der heutigen Ortsnamen, das war mir ganz ganz wichtig, dass dieser Zugriff über den Ort möglich ist."
So bieten sich Pädagogen vielfältige Herangehensweisen. – Ein möglicher Ansatz könnte die Weiterbeschäftigung mit den Biografien der ehemaligen jüdischen Bürger sein. 300 hessische Gemeinden sind bereits auf dem Internetportal vertreten, jüdisches Leben ist aber aus rund 400 Orten dokumentiert.
"Insofern ist es schon interessant, mal zu schauen, ob man noch was findet, dazu. Man muss in der Regel nicht sehr weit gehen, um herausfinden, wo in der Nähe die nächste jüdische Gemeinde beziehungsweise die nächste jüdische Familie gewohnt hat."