Lebenswege auf der Flucht
Die schmerzliche Erfahrung der Vertreibung mussten im 20. Jahrhundert viele Europäer erleiden. Die langjährige Polen-Korrespondentin der Wochenzeitung "Die Zeit", Helga Hirsch, hat zehn Lebenswege von Polen, Deutschen und Ukrainern nachgezeichnet, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. So entsteht anhand von Einzelschicksalen ein einfühlsames persönliches Geschichtsbild.
Mehrfach erlebten die Europäer im 20. Jahrhundert Kriege und Besatzungen. Besonders als Bewohner Mittel- und Osteuropas hatten sie darunter zu leiden. Sie wurden ausgesiedelt, umgesiedelt, "heim ins Reich geholt", deportiert, repatriiert, evakuiert. Wie immer man es nennt, sie wurden von dem Ort, an dem sie bleiben wollten, verbracht an einen, den sie nicht kannten. Hoffnung auf Rückkehr gab es nicht.
Von Menschen unterschiedlicher Nationalität und ihren erzwungenen Ortswechseln handelt das Buch der Autorin und Journalistin Helga Hirsch. Es erschließt Hintergründe von Vertreibungen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Deutschbaltin Liselotte von Stackelberg verlor gleich zweimal ihre Heimat. Seit mehr als 500 Jahren lebte ihre Familie auf einem Gut in der Nähe von Riga. Im November 1939 wurde sie "heim ins Reich" geholt und auf einem ehemals polnischen Bauernhof angesiedelt. Doch drei Jahre später wurde sie von dort vertrieben, weil man in ihrem Stammbaum einen jüdischen Urgroßvater entdeckt hatte. Mit den Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen zog sie bald darauf nach Westen.
Ihre Geschichte ist typisch für die Politik der Nationalsozialisten. Mehr als 900.000 Auslandsdeutsche aus dem Baltikum, der Bukowina, Wolhynien und Bessarabien wurden umgesiedelt. Das hatte vielfach eine doppelte Entwurzelung zur Folge. Als Kolonisten in "gesäuberten" Ostgebieten eingesetzt, mussten "Heimgeholte" nur wenige Jahre später vor der sowjetischen Armee fliehen. Taten sie das nicht, wurden sie umgebracht oder, wenn sie überlebt hatten, später von den polnischen Behörden ausgewiesen.
Helga Hirsch zeichnet aufgrund von Gesprächen und Recherchen in zehn Kapiteln zehn Lebenswege von Polen, Deutschen und Ukrainern nach. Sie kommen stellvertretend für das Schicksal von Millionen Opfern geopolitischer und militärischer Entwicklungen zu Wort. Zwischen Ende siebzig und Mitte neunzig sind die Zeitzeugen. Ihre Erlebnisberichte vermitteln den erzwungenen Verlust kultureller und sozialer Wurzeln, die Aufgabe von Muttersprache, Vaterland, familiärer Tradition und persönlichem Eigentum als existentielle Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts.
"Kaum eine Familie, die im Zweiten Weltkrieg nicht umgesiedelt wurde oder keinen Angehörigen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich schicken musste. Kaum eine Familie, die, weil sie jüdisch war, nicht ins Konzentrationslager deportiert wurde. Die, weil sie ukrainisch war, nicht aus der südpolnischen Heimat vertrieben wurde. Die, weil sie polnisch war, nicht mit Gewalt zur Ausreise aus der Ukraine, aus Weißrussland oder Litauen gedrängt wurde. Und die, weil sie deutsch war, nicht die alte ostdeutsche Heimat räumen musste, wenn sie nicht schon vor der Front geflohen war."
Helga Hirsch erzählt Geschichte in Geschichten, einfühlsam, anschaulich, kritisch. Den einzelnen Kapiteln stellt die Autorin einen Abriss der historischen Situation sowie eine geographische Karte voran. Immer wieder reflektiert sie das Gehörte, betont, dass es in den einzelnen Geschichten nicht darum geht, Leid des einen gegen das des anderen aufzurechnen. Verlust der Heimat, das wird klar, war für einen Sudetendeutschen ebenso traumatisch wie für einen Polen, für einen Ukrainer wie für einen Deutschbalten. Auch wenn der Einzelne sich im Lauf der Zeit mit seinem Schicksal ausgesöhnt hat, wirkt die kollektive Erfahrung der Vertreibung bis heute.
Ausdrücklich verweist Helga Hirsch auf die Unterschiedlichkeit nationaler Erinnerungskulturen. Gelten die Bewohner ehemaliger deutscher Ostgebiete in der Bundesrepublik als "Vertriebene", so werden sie in Polen als "Aussiedler" bezeichnet. Ebenso wie polnische Staatsbürger, die in den Westen des Landes verbracht wurden, als nach dem Zweiten Weltkrieg östliche Gebiete Polens an die Sowjetunion gefallen waren.
Klar wird auch, dass es in Gebieten, die aus westlicher Sicht lange Zeit als einheitlicher "Ostblock" galten, immer schon ein vielfältiges und spannungsreiches Zusammenleben verschiedener Volksgruppen gegeben hat. Dass Galizien, Bessarabien oder das Baltikum multikulturelle Drehscheiben waren, Haltestellen auf Lebenswegen, die quer durch Europa oder darüber hinaus führten. Dass viele kleine Nationen Opfer der Politik Hitlers und Stalins waren, doch selbst nicht zögerten, ihre Minderheiten auszugrenzen.
Helga Hirschs Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass Konflikte, wie wir sie heute wieder zwischen Letten und Russen oder Russen und Ukrainern beobachten, eine lange, europäische Geschichte haben.
Rezensiert von Carsten Hueck
Helga Hirsch: "Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug"
Edition Körber, Hamburg 2007
292 Seiten, 20,00 EUR
Ein Gespräch mit Helga Hirsch am 3. Mai um 14.07 Uhr im Radiofeuilleton von Deutschlandradio Kultur können Sie für begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Player hören.
Von Menschen unterschiedlicher Nationalität und ihren erzwungenen Ortswechseln handelt das Buch der Autorin und Journalistin Helga Hirsch. Es erschließt Hintergründe von Vertreibungen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Deutschbaltin Liselotte von Stackelberg verlor gleich zweimal ihre Heimat. Seit mehr als 500 Jahren lebte ihre Familie auf einem Gut in der Nähe von Riga. Im November 1939 wurde sie "heim ins Reich" geholt und auf einem ehemals polnischen Bauernhof angesiedelt. Doch drei Jahre später wurde sie von dort vertrieben, weil man in ihrem Stammbaum einen jüdischen Urgroßvater entdeckt hatte. Mit den Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen zog sie bald darauf nach Westen.
Ihre Geschichte ist typisch für die Politik der Nationalsozialisten. Mehr als 900.000 Auslandsdeutsche aus dem Baltikum, der Bukowina, Wolhynien und Bessarabien wurden umgesiedelt. Das hatte vielfach eine doppelte Entwurzelung zur Folge. Als Kolonisten in "gesäuberten" Ostgebieten eingesetzt, mussten "Heimgeholte" nur wenige Jahre später vor der sowjetischen Armee fliehen. Taten sie das nicht, wurden sie umgebracht oder, wenn sie überlebt hatten, später von den polnischen Behörden ausgewiesen.
Helga Hirsch zeichnet aufgrund von Gesprächen und Recherchen in zehn Kapiteln zehn Lebenswege von Polen, Deutschen und Ukrainern nach. Sie kommen stellvertretend für das Schicksal von Millionen Opfern geopolitischer und militärischer Entwicklungen zu Wort. Zwischen Ende siebzig und Mitte neunzig sind die Zeitzeugen. Ihre Erlebnisberichte vermitteln den erzwungenen Verlust kultureller und sozialer Wurzeln, die Aufgabe von Muttersprache, Vaterland, familiärer Tradition und persönlichem Eigentum als existentielle Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts.
"Kaum eine Familie, die im Zweiten Weltkrieg nicht umgesiedelt wurde oder keinen Angehörigen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich schicken musste. Kaum eine Familie, die, weil sie jüdisch war, nicht ins Konzentrationslager deportiert wurde. Die, weil sie ukrainisch war, nicht aus der südpolnischen Heimat vertrieben wurde. Die, weil sie polnisch war, nicht mit Gewalt zur Ausreise aus der Ukraine, aus Weißrussland oder Litauen gedrängt wurde. Und die, weil sie deutsch war, nicht die alte ostdeutsche Heimat räumen musste, wenn sie nicht schon vor der Front geflohen war."
Helga Hirsch erzählt Geschichte in Geschichten, einfühlsam, anschaulich, kritisch. Den einzelnen Kapiteln stellt die Autorin einen Abriss der historischen Situation sowie eine geographische Karte voran. Immer wieder reflektiert sie das Gehörte, betont, dass es in den einzelnen Geschichten nicht darum geht, Leid des einen gegen das des anderen aufzurechnen. Verlust der Heimat, das wird klar, war für einen Sudetendeutschen ebenso traumatisch wie für einen Polen, für einen Ukrainer wie für einen Deutschbalten. Auch wenn der Einzelne sich im Lauf der Zeit mit seinem Schicksal ausgesöhnt hat, wirkt die kollektive Erfahrung der Vertreibung bis heute.
Ausdrücklich verweist Helga Hirsch auf die Unterschiedlichkeit nationaler Erinnerungskulturen. Gelten die Bewohner ehemaliger deutscher Ostgebiete in der Bundesrepublik als "Vertriebene", so werden sie in Polen als "Aussiedler" bezeichnet. Ebenso wie polnische Staatsbürger, die in den Westen des Landes verbracht wurden, als nach dem Zweiten Weltkrieg östliche Gebiete Polens an die Sowjetunion gefallen waren.
Klar wird auch, dass es in Gebieten, die aus westlicher Sicht lange Zeit als einheitlicher "Ostblock" galten, immer schon ein vielfältiges und spannungsreiches Zusammenleben verschiedener Volksgruppen gegeben hat. Dass Galizien, Bessarabien oder das Baltikum multikulturelle Drehscheiben waren, Haltestellen auf Lebenswegen, die quer durch Europa oder darüber hinaus führten. Dass viele kleine Nationen Opfer der Politik Hitlers und Stalins waren, doch selbst nicht zögerten, ihre Minderheiten auszugrenzen.
Helga Hirschs Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass Konflikte, wie wir sie heute wieder zwischen Letten und Russen oder Russen und Ukrainern beobachten, eine lange, europäische Geschichte haben.
Rezensiert von Carsten Hueck
Helga Hirsch: "Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug"
Edition Körber, Hamburg 2007
292 Seiten, 20,00 EUR
Ein Gespräch mit Helga Hirsch am 3. Mai um 14.07 Uhr im Radiofeuilleton von Deutschlandradio Kultur können Sie für begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Player hören.