Sie ist keine Künstlerin, die erst noch zu entdecken wäre. Lee Miller (1907-1977) gilt schon seit geraumer Zeit als hervorragende Fotografin und Bildreporterin, mehr noch: als Ikone weiblicher Selbstbestimmung und unerschrockene Pionierin. Große Retrospektiven in Wolfsburg, in Berlin und zuletzt (2023) in Hamburg haben ihre vielfältigen Fotografien ins rechte Licht gerückt. Mehrere Bildbände aus deutschen Verlagen präsentierten Lee Millers Fotos und Texte. Eine ZDF-Dokumentation feierte die US-Amerikanerin als "Muse, Model, Künstlerin, Kriegsfotografin" (bis 11.12.2024 in der
arte-Mediathek verfügbar). Doch einen Spielfilm, noch dazu einen mit klarer Oscar-Aspiration, gab es bislang nicht.
Am 19. September 2024 startete in deutschen Kinos der
Film "Die Fotografin" über Lee Miller, produziert von der britischen Schauspielerin Kate Winslet, die auch die Hauptrolle übernahm; im Original heißt der Film schlicht "Lee". Er konzentriert sich auf Millers Arbeit als Reporterin in Europa während des Zweiten Weltkriegs, wo einige ihrer berühmtesten Fotos entstanden.
Die Karriere als Model in Paris und New York, das es auf die Titelseiten der mondänsten Zeitschriften schaffte, wird vorneweg nur gestreift. „Ihr Leben war extrem umfangreich", sagt Kate Winslet. "Sie hat etwa zehn verschiedene Leben in einem geführt. Das war etwas entmutigend und ist auch der Grund, warum die Entwicklung des Films so lange gedauert hat. Wir mussten erst herausfinden, welches das wichtigste und prägendste Jahrzehnt in ihrem Leben war.“
Aber da geschah noch so viel mehr in einem turbulenten Leben, dessen künstlerische Hinterlassenschaft viele Jahre auf dem Dachboden verschwand, bis ihr 1947 geborener Sohn Antony Penrose diese Schatzkammer öffnete. Wer also war Lee Miller und was sind die markantesten Momente ihres Lebens?
Der Anblick einer Fotokamera war Lee Miller geradezu in die Wiege gelegt. Denn die spätere Fotografin stand schon als Kind Modell für ihren Vater, den begeisterten Amateurfotografen Theodore Miller. Der ließ seine minderjährige Tochter Elizabeth, geboren 1907 in einer Kleinstadt 140 Kilometer nördlich von New York, auch nackt posieren. Als professionelles Model entdeckt wurde sie aber legendärerweise auf der Straße, als der mächtige Verleger Condé Nast die 19-Jährige in New York vor einem Unfall bewahrte und ihr sofort einen Vertrag anbot.
Lee Miller (1907-1977) im Alter von elf Jahren. Sie wurde zunächst ein berühmtes Model und in den 30er-Jahren eine bedeutende Modefotografin, später auch Kriegsreporterin.© imago / Bridgeman Images
Bereits 1926 erschien Lee Miller mit ihren hinreißenden blauen Augen auf dem Cover der glamourösen Zeitschrift „Vogue“. Sie war von kühler Schönheit und vollkommen unkonventionell - ein Partygirl, das allerdings schon in Abgründe geschaut hatte. Als Siebenjährige war sie von einem Bekannten der Familie vergewaltigt worden.
Schnell war sie ein gefragtes Gesicht für die Titelseiten von „Vanity Fair“ und „Vogue“, sie wurde ein Star im aufregenden New York der späten 20er-Jahre. Doch nach zwei Jahren vor der Kamera und der Zusammenarbeit mit den besten Modefotografen in den USA entwickelte Lee Miller den Wunsch, selbst zu fotografieren.
1929 übersiedelte Lee Miller nach Paris, wo sie bereits Jahre zuvor einige Monate verbracht und Französisch gelernt hatte; sie stellte sich im Atelier von Man Ray vor, dem surrealistischen Fotokünstler, dessen Schülerin, Mitarbeiterin und kurzzeitig auch Geliebte sie wurde. Man Ray fertigte zahlreiche Porträts von Lee Miller wie
das ikonische „Neck“ und inszenierte ihren Körper als fototechnisch verfremdeten griechischen Torso. Beide zusammen entdeckten die radikale Technik der „Solarisation“, bei der Hell- und Dunkelwerte von Fotos umgekehrt werden.
Diese produktive und komplizierte Künstlergemeinschaft hat die US-amerikanische Autorin Whitney Scharer 2019 in dem Roman "Die Zeit des Lichts" zu schildern versucht.
Lee Miller fotografierte viele befreundete Pariser Künstler wie Pablo Picasso, Max Ernst und Jean Cocteau. Außerdem arbeitete sie für die französische „Vogue“ vor und hinter der Kamera. Dabei lernte sie, dass der Umgang mit den Menschen weitaus wichtiger sei als alle technische Virtuosität. Und: "Beim Porträt kommt es darauf an, die Persönlichkeit vor der Kamera regelrecht zu absorbieren." Zwar verwendete Lee Miller auch typische Stilmittel der Surrealisten wie Überbelichtung, radikale Ausschnitte und Unschärfen, doch fand sie schnell zu einer eigenen Bildsprache, die sich vom typisch männlichen Blick emanzipiert hatte.
Lee Miller: Selbstporträt, New York Studio, New York, USA, 1932© © Lee Miller Archives, England 2006. All rights reserved
Bei Lee kann ich absolut nachvollziehen, dass sie es satthatte, durch den männlichen Blick fotografiert zu werden und nicht mitreden zu dürfen. Deswegen verstehe ich, warum sie lieber fotografiert hat, als fotografiert zu werden, denn so hatte sie die Kontrolle über jede einzelne Erzählung. Und sie hat immer auf eine sehr verschmitzte, nuancierte, einfühlsame Art und Weise fotografiert.
Kate Winslet, Hauptdarstellerin und Produzentin des Films "Die Fotografin"
Mit 25 Jahren verließ Lee Miller Paris und Man Ray. Sie ging 1932 zurück nach New York und eröffnete ein erfolgreiches Fotostudio, porträtierte Berühmtheiten aus Kultur und Gesellschaft. Ihr gelang der einzigartige Coup, der "Vogue" als Model und als Fotografin ein Cover zu liefern, also ein Selbstporträt. Mit ihrem großartigen künstlerischen Ausdruck hielt sie Menschen, Mode und die ägyptische Wüste fest, durch die sie Ende der 30er-Jahre reiste.
Lee Miller hatte 1934 Aziz Eloui Bey geheiratet und war ihm nach Kairo gefolgt. Doch die Verbindung mit dem Ägypter hielt nur wenige Jahre; 1937 kehrte Lee Miller nach Paris zurück und war seither mit dem britischen Maler Roland Penrose liiert. Ab 1939 lebte sie mit Penrose in England. Die Folgen der Bombardierung Londons durch die deutsche Luftwaffe hielt sie 1940 in apokalyptischen Bildern fest: etwa das einer unbeschädigten Hausfassade, aus deren Tür meterhoch der Schutt quoll, oder das einer Kirche, die nur noch aus drei griechischen Säulen bestand.
Lee Miller ließ sich 1944 von der US-Armee als Militärkorrespondentin akkreditieren und lieferte der "Vogue" zahlreiche Reportagen in Bild und Text über das Kriegsgeschehen zunächst in Frankreich, etwa aus dem befreiten Paris, dann auch aus Deutschland. Sie dokumentierte das Zusammentreffen der amerikanischen und sowjetischen Soldaten an der Elbe in Torgau und die Einnahme von Hitlers Hof auf dem Obersalzberg.
Lee Miller als Kriegsreporterin in Uniform der US-Armee 1944 in England© imago / Pond5 Images / LIFE Picture Collection
Millers Fotos nach der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau zeigten das Elend der Inhaftierten und das Grauen über den Massenmord; sie scheute sich nicht, die Leichen der Opfer wie der Täter zu fotografieren. Miller war eine der ersten Fotografen, die Bilder vom zerstörten Westdeutschland, etwa der Ruinen von Köln publizierten. Für die besiegten Deutschen, die sie als gefühllos und verlogen unterwürfig gegenüber den Siegern beschrieb, hatte sie nur Verachtung übrig.
Lee war eine Vorkämpferin für andere Frauen. (…) Lee war phänomenal in der Hinsicht, und deshalb wollten wir diese Geschichte aus diesem Jahrzehnt erzählen. Denn das war ihre Art, jemanden zurechtzuweisen, der etwas so Falsches getan hat: ein Verbrechen gegen die Menschheit. Sie hatte den Mut, im Krieg und im Konzentrationslager nach der Befreiung zu fotografieren.
Kate Winslet, Produzentin und Hauptdarstellerin des Films "Die Fotografin"
Am 30. April 1945, exakt an dem Tag, an dem der deutsche "Führer" auf dem Weg in den Untergang Selbstmord beging, drang Lee Miller mit einer Gruppe von US-amerikanischen Soldaten in Hitlers verlassene Wohnung in München ein. Sie betrat das Badezimmer und legte sich in die gefüllte Badewanne. Ihre Armeestiefel stehen vor der Wanne, im Hintergrund ist ein Porträt von Hitler zu sehen. Dieses sorgfältige Arrangement hielt ihr Kollege David Scherman für die Nachwelt fest.
Lee Miller in Hitlers Badewanne in München, betrachtet von einer Besucherin der Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg 2006.© picture-alliance / dpa
„Lee Millers Inszenierung in der Badewanne von Adolf Hitler ist wahrscheinlich das komplexeste und das schwierigste Bild in ihrem Oeuvre", sagt der Kurator Walter Moser, der 2016 eine Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau über Lee Miller verantwortete. „Miller hat mit ihrem Humor das Bild sehr praktisch erklärt: Sie wollte einfach nach langer Zeit wieder einmal ein heißes Bad nehmen. Tatsächlich visualisiert sie aber durch das Eindringen in den Privatraum einen radikalen Akt der Machtumkehrung.“
So wie ich Lee Miller aus dem Material kennengelernt habe, ist mir total klar, dass sie in Hitlers Badewanne steigen würde. Es ist so typisch für ihre wunderbare, schamlose, spontane Kunstfertigkeit.
Kate Winslet, Hauptdarstellerin und Produzentin des Films "Die Fotografin"
Nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich Lee Miller auf eine Farm in East Sussex zurück, die zum Künstlertreffpunkt wurde. Hier entstanden humorvolle Porträts prominenter Gäste, die in der Küche oder im Garten helfen: Oskar Kokoschka mit Schürze, der Philosoph Alfred Ayer beim Holzholen oder Alfred H. Barr, Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, der im Anzug und mit Krawatte die Schweine füttert. Aus diesen Bildern wurde Lee Millers letzter Foto-Essay für die "Vogue" mit dem Titel "Working Guests". Am 21. Juli 1977 starb Lee Miller. In ihren letzten Lebensjahren litt sie an Depressionen und Alkoholismus.
Ihr Sohn Antony Penrose arbeitete in den 2000er-Jahren den auf einem Dachboden verstauten künstlerischen und privaten Nachlass von Lee Miller auf. Penrose war Mitbegründer der
Lee Miller Archives (LMA), in denen man nicht nur eine hochkarätige Auswahl ihrer Fotos, sondern auch Arbeiten anderer Fotografen aus ihrem Umfeld finden kann, etwa von Roland Penrose und dem "Life"-Reporter David E. Scherman. Außerdem war Millers Sohn eng an der Entwicklung des Drehbuchs für den Film "Lee" und als künstlerischer Berater für Kate Winslet beteiligt.
Antony Penrose, der Sohn von Lee Miller, bei der Filmpremiere von "Die Fotografin" in London am 3.9.2024. Im Hintergrund sind Fotografien von Lee Miller zu sehen.© imago / Famous / James Warren
Antony Penrose hütet ihr Vermächtnis außerordentlich gut. Ihm ist sehr daran gelegen, dass die Geschichte in die richtigen Hände kommt und auch er selbst kreativ berücksichtigt wird. (…) Er hat uns an Geschichten teilhaben lassen, von denen einige öffentlich zugänglich sind, aber auch solche, über die noch nie zuvor gesprochen wurde.“
Kate Winslet, Produzentin und Hauptdarstellerin von "Die Fotografin"