Vom Modell zur Kriegsfotografin
Vom Modell zur Fotografin, von der "Vogue" in London ins Konzentrationslager Dachau: Die Fotografin und Reporterin Lee Miller (1907-1977) hat verschiedene Leben gelebt. Das Kunstmuseum Wolfsburg würdigt ihr Werk in einer Einzelausstellung.
Besonders brilliant ist Charlie Chaplin nicht fotografiert, aber ihm wächst ein Kronleuchter wie ein Hirschgeweih aus dem Kopf. Derart posierte Anfang der Dreißiger kaum ein Kinostar. Doch bei Lee Miller konnte selbst der melancholische König der Leinwandkomödianten nicht Nein sagen. Der Charme dieser unterkühlt eleganten Blondine muss einfach überwältigend gewesen sein.
Als Model war die gebürtige Amerikanerin hüben wie drüben, in Paris und auch in New York begehrt. Aber dann wechselte die ebenso impulsive wie draufgängerische Schönheit die Seiten. Um künftig hinter der Kamera zu reüssieren, schmiss sich Lee Miller im Wortsinne an Man Ray heran, den unorthodoxen Meister der surrealistischen Fotoavantgarde. Kurator Thomas Köhler:
"Sie näherte sich ihm, stellte sich ihm vor und sagte: 'Mein Name ist Lee Miller und ich bin Ihre neue Schülerin!' Diese Zusammenarbeit - in manchen Artikeln liest man von 'Produktionssexualität' - erstreckte sich dann über einen Zeitraum von drei Jahren. Manche Herkunft eines Bildes ist dann durchaus kontrovers aufgefasst worden. Das geht sogar so weit zu vermuten, dass Lee Miller letzten Endes es auch war, die das berühmte Solarisationsverfahren durch Zufall entdeckt hatte, als ihr nämlich in der Dunkelkammer etwas über den Fuß lief und sie das Licht angeknipst hat."
Die Männer beugten sich Millers Inszenierung
Bei der Solarisation zeichnete das einfallende Licht auf dem noch nicht ausentwickelten Negativ sehr zart und fein die Konturen nach und hinterließ in der Fläche mehr oder weniger zufällig changierende Hell-Dunkel-Effekte. Vor allem Frauenporträts hat Lee Miller auf diese Weise veredelt. Die Herren dagegen, vom New Yorker Eigenbrötler Joseph Cornell bis zum Pariser Lebemann Jean Cocteau, scheinen sich ihrer Inszenierung gebeugt zu haben - so, wie sie es selbst als Modell vor der Kamera erlebt hatte.
In den vierziger Jahren zieht die gut bezahlte Modefotografin, die vielfach begehrte Künstlermuse, in den Krieg - wird ihr surrealistisch geschultes Auge mit der blutigen Realität konfrontiert. Museumsdirektor Markus Brüderlin:
"1942 akkreditierte sie sich selbst als Kriegsreporterin und teilte der Zeitschrift Vogue mit: 'Ich gehe an die Front und von mir kriegt ihr von nun an nur noch Schreckensbilder des Krieges.'"
Selbst in der bewusst chronologischen Hängung springt wie von selbst ins Auge, was damals Lebensinhalt und künstlerische Herausforderung für Lee Miller gewesen sein muss: die kreative Verbindung von höchst artifiziellem, inszeniertem Porträt und knallharter Reportage.
Bilder von Tod und Verderben
Das beginnt ganz unspektakulär mit Luftschutzübungen unter skurrilen Gasmasken, fröhlichen Mädchen am Suchscheinwerfer und Stillleben aus verbogenen, zerborstenen Alltagsutensilien nach den ersten Bombenangriffen. Doch daneben treten immer häufiger Bilder von Tod und Verderben. Das war durchaus kein Widerspruch, erklärt Lee Millers Sohn Antony Penrose, der Nachlass und Archiv der Fotografin betreut:
"Don McCullen, der berühmte Kriegsfotograf, sagte mir, dass das Außergewöhnliche daran sei, wie noch in den schrecklichsten Momenten etwas von Schönheit aufblitzt. Für mich ist das hoffnungsvoll, ein Ausweis von Menschlichkeit, wie da jemand inmitten der Grausamkeiten auch Poetisches entdeckt."
Und in eben diesem Sinne hat Markus Brüderlin die etwa 140 Fotos für die Wolfsburger Schau ausgewählt: "Durch die gleichberechtigte Integration von Reportagefotos, die Lee Miller bei der Öffnung der KZs von Buchenwald und Dachau geschossen hat, mit den bekannten Porträts von Prominenten, die die Frage stellen, ob das die gleichen Augen waren, die die glamouröse Welt der dreißiger Jahre und die grausige Anonymität des Krieges auf die Fotoplatte bannten."
Gefallene bekommen ein Gesicht
Die Anonymität des Krieges allerdings wird von dieser Fotografin Schritt für Schritt überwunden. Zeigte sie sich anfangs mit ihrem eigenen Körper für das Foto eines Kollegen nackt - spaßhaft eingehüllt in das Gewebe eines Tarnnetzes - so rückt danach immer mehr das Motiv des toten Körpers in den Mittelpunkt: Gefallene Soldaten, Freund wie Feind, werden ganz nah gezeigt, bekommen ein Gesicht. Und schließlich überwindet sich die Fotografin bei der Befreiung eines Konzentrationslagers, dokumentiert nicht nur die Leichenberge, sondern zeigt auch hier wie mit einer Totenmaske das Antlitz eines Ermordeten.
Antony Penrose: "Viele ihrer Freunde wurden vermisst. Sie suchte nach ihnen. Aber im Konzentrationslager hatte man so viele Menschen umgebracht. So schaute sie auch in die Gesichter der Toten, ob vielleicht ein Bekannter darunter wäre. Aber ihre Nahaufnahmen sagen auch, dass es hier nicht um Zahlen geht, sondern um Einzelschicksale."
Den Endpunkt dieser einzigartigen Fotografenkarriere markiert das Bild der Künstlerkollegen Georges Limbour und Jean Dubuffet, die 1955 in Farley Farm - dem Landsitz von Lee Miller und Roland Penrose - ihre Hände gegen die Glassscheiben eines Fensters pressen, als wollten sie nach etwas Fernem, Unsichtbaren greifen.
Antony Penrose: "Im Fenster wird Lee Miller schemenhaft gespiegelt. Sie ist da - und auch nicht da. Diese unsichtbare Barriere hatte sich zwischen sie und andere Menschen geschoben, aufgebaut durch das, was diese Fotografin im Krieg durchgemacht hatte."