Legasthenie

Warum ein Vermerk im Zeugnis diskriminierend ist

Dokument mit den Noten verschiedener Schulfächer auf einem Zeugnis.
Was darf auf dem Zeugnis stehen? Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind Bemerkungen über die Nichtbewertung einzelner Leistungen grundsätzlich geboten. © picture alliance / CHROMORANGE / Michael Bihlmayer
Wer stellt jemanden ein, in dessen Zeugnis steht, dass auf die Bewertung der Rechtschreibung verzichtet wurde? Drei ehemalige Abiturienten aus Bayern mit Legasthenie sind deswegen vor das höchste deutsche Gericht gezogen und haben Recht bekommen.
Drei ehemalige Abiturienten aus Bayern haben gegen einen Zeugnisvermerk geklagt, laut dem ihre Leistungen in Rechtschreibung wegen ihrer Legasthenie nicht bewertet wurden. Ein solcher Kommentar sei diskriminierend, argumentierten die Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Sie bekamen nun Recht.
Die Betroffenen haben sich durch alle Instanzen bis nach oben durchgeklagt. 2015 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass der "Legasthenie-Eintrag" im Zeugnis rechtens war. Das sieht das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anders. Die Hinweise auf die Legasthenie in den Abschlusszeugnissen waren verfassungswidrig, so Stefan Harbarth, Präsident des 1. Senats am Bundesverfassungsgericht.

Rund 10.000 Kinder mit Legasthenie allein in Bayern

Neu in der Rechtsprechung ist auch, dass Legasthenie als Behinderung gilt, damit greift Artikel drei des Grundgesetzes. Allerdings machten die Richter auch klar, dass im Zeugnis stehen darf, dass bestimmte Teilleistungen wie die Rechtschreibung bei Prüfungen nicht bewertet wurden. Es dürfe aber nicht auf Fälle von Legasthenie begrenzt werden, wenn auch bei Schülerinnen und Schülern mit anderen Beeinträchtigungen Teilleistungen nicht benotet wurden. Das sei diskriminierend, urteilte das Gericht. Den Klägern steht nun ein neues Abiturzeugnis ohne den Vermerk zu.
Das Urteil ist von großer Bedeutung, weil die Kläger stellvertretend für Tausende von Kindern mit Legasthenie stehen. Allein in Bayern gelten rund 10.000 Schülerinnen und Schüler als Legastheniker. In Deutschland sind laut dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie zufolge etwa zwölf Prozent der Bevölkerung von einer der beiden Störungen betroffen.

Warum ist der Zeugnisvermerk „Legastheniker“ diskriminierend?

Den Klägern waren Erleichterungen bei den Abiturprüfungen gewährt worden – die Rechtschreibung in Deutsch und teilweise auch in Fremdsprachen wurde nicht benotet. Fachärzte hatten zuvor ihre Legasthenie festgestellt. Im Zeugnis hieß es dann: „Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet.“
Stephan Harbarth, Vorsitzender des Ersten Senats beim Bundesverfassungsgericht und Präsident des Gerichts, verkündet das Urteil zu Zeugnisvermerken bei Legasthenikern.
Hinweise auf die Legasthenie in den Abschlusszeugnissen waren verfassungswidrig: Das entschieden Stefan Harbarth und seine Kollegen am Bundesverfassungsgericht.© picture alliance / dpa / Uli Deck
Wenn Prüfungserleichterungen aufgrund von Legasthenie im Zeugnis vermerkt seien, bestehe die Gefahr, dass Universitäten, Ausbildungsstätten oder Arbeitgeber solche Bewerberinnen und Bewerber aussortierten, argumentierte der Rechtsanwalt der Kläger, Thomas Schneider. Diese Gefahr sei viel größer als bei einem normalen Zeugnis.
Die Hinweise auf den sogenannten Notenschutz seien wie ein Stempel mit der Aufschrift: "Vorsicht, ich habe eine Behinderung - willst du mich wirklich als Bewerber?" erklärten die Kläger vor Gericht.
Die drei Männer bestanden ihr Abitur 2010 mit guten bis sehr guten Noten. Durch den Zeugnisvermerk befürchteten sie Nachteile auf dem Arbeitsmarkt.

Warum befürworten manche den Zeugniseintrag „Legasthenie“?

Die Befürworter des Zeugnisvermerks „Legasthenie“ sehen die Chancengleichheit von anderen Schülerinnen und Schülern sowie die Transparenz gefährdet. Das Abitur gelte als objektiver Maßstab. Wenn davon abgewichen werde, müsse dies vermerkt werden, sagt etwa Bayerns Kultusminister Michael Piazolo.
Das sahen bisher auch Verwaltungsgerichte so; zuletzt lehnte das Bundesgericht in Leipzig die Klagen ab. Legasthenie sei zwar juristisch als Behinderung anerkannt, aber wenn eine Prüfung erleichtert werde, dürfe das trotzdem im Zeugnis stehen. Das sei keine Benachteiligung, denn es gehe nicht darum, Behinderung zu dokumentieren, sondern darum, das Zeugnis transparenter zu machen.

Was ist Legasthenie und wie gehen Schulen damit um?

Legasthenie ist der Weltgesundheitsorganisation zufolge eine Entwicklungsstörung, die nichts mit verminderter Intelligenz zu tun hat. Betroffene lesen schlechter und langsamer als andere Menschen und machen mehr Fehler bei der Rechtschreibung.
Anders als bei einer bloßen Lese- und Rechtschreibschwäche, die vorübergehend sein kann und andere Ursachen habe, bleibe Legasthenie ein Leben lang, sagt Tanja Scherle vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie. Legasthenie kann auch zu psychischen Problemen führen. Betroffene haben Angst vor der Schule oder Prüfungsangst und ziehen sich zurück.

Nachteilsausgleich und Notenschutz

Schulen können betroffenen Kindern und Jugendlichen neben Förderung auch Prüfungserleichterungen gewähren. Beim sogenannten Nachteilsausgleich werden Prüfungsbedingungen verändert, so erhalten Schülerinnen und Schüler etwa mehr Zeit bei schriftlichen Prüfungen.
Beim „Notenschutz“ wird der Bewertungsmaßstab einer Prüfung verändert, indem die Rechtschreibung nicht oder nur teilweise benotet wird. In Bayern gibt es den "Notenschutz" sogar bis zum Abitur.

Welche Folgen hat das Urteil?

Mit seiner Entscheidung gibt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe den Klägern Recht: Sie seien benachteiligt worden, weil es bei Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen keine Zeugnisvermerke gab, obwohl einzelne Teilleistungen bei ihnen ebenfalls nicht bewertet wurden, wie 2010 in Bayern geschehen. Den Klägern steht nun ein neues Abiturzeugnis ohne den Vermerk zu.
Das Gericht betonte aber auch, dass es im Sinne der Chancengleichheit und der Transparenz geboten sei, Prüfungserleichterungen im Zeugnis zu vermerken. Werden entsprechende Zeugnisvermerke bei allen Behinderungen vorgenommen, die zu eingeschränkten Prüfungsleistungen führen, sei daran verfassungsrechtlich nichts herumzumäkeln.

Notenschutz soll auch künftig im Zeugnis stehen

Die Reaktionen auf das Urteil sind gemischt. Welche Behinderungen sollen zukünftig als Bemerkungen im Abiturzeugnis stehen? Hier sieht Susanne Lin-Klitzing (*), die Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, die Kultusministerkonferenz in der Pflicht.
Tanja Scherle vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie hätte sich hingegen gewünscht, dass Zeugnisbemerkungen künftig gar nicht nicht mehr notwendig sind.

tha
* Anmerkung der Online-Redaktion: Wir haben die Schreibweise des Namens korrigiert.
Mehr zum Thema