Robert Boecker: "Ich fürchte, Herr Pastor, wir sind bestohlen" Kölner Dom. Geschichten und Geheimnisse
J.P. Bachem Verlag
128 Seiten, 24,95 Euro
Kaspar, Melchior und der Tote von Waterloo
Im Kölner Dom recken alle die Hälse nach dem Schrein der heiligen drei Könige. Doch vor 200 Jahren hing dort die Gedenktafel eines unbekannten Soldaten. Robert Boeker schrieb seine Geschichte auf - und weitere Legenden rund um den Dom.
"1821 ist ein Domführer erschienen", sagt Robert Boecker, "und in diesem beschreibt der Autor einen Rundgang durch den Dom, beschreibt die ganzen Grabmäler und Gedenktafeln und nennt unter anderem eine Gedenktafel an den einzigen Kölner, der bei Waterloo gefallen ist."
Der hieß Lorenz Call und sorgte bei Robert Boecker für große Verwunderung. Denn noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert war der einfache Soldat nicht "denkmalsfähig". Das hieß, dass die gefallenen Soldaten einer Schlacht in aller Regel ohne großen Aufwand in Massengräbern bestattet und ihre Namen vergessen wurden. Doch warum, so fragte sich Boecker, war das bei Lorenz Call anders?
"Wie kommt es, dass ein ganz einfacher Soldat eine Gedenktafel im Dom bekommt, wo normalerweise nur Bischöfe, Fürsten, Prälaten und Domkapitulare gewürdigt werden?"
Weshalb verschwand die Gedenktafel?
Noch seltsamer war, dass diese Gedenktafel im Dom bereits einige Jahre später verschwunden war und in keinem der nachfolgenden Domführer je wieder erwähnt wurde. Was, so fand Boecker heraus, wohl mit der Trotzreaktion des amtierenden Dompfarrers zu tun hatte:
"Waterloo war 1815. Danach ist Köln preußisch geworden und der preußische König hat eine Anordnung erlassen, wonach alle Helden, die im Großen Krieg gegen Napoleon gefallen sind, in den jeweiligen Pfarrkirchen mit einer Gedenktafel geehrt werden sollten. Man muss wissen: Zu dieser Zeit war der Dom eine ganz normale, einfache Pfarrkirche, denn Napoleon hatte ja das Erzbistum aufgehoben."
Recherche auf dem Schlachtfeld
Der – natürlich katholische – Dompfarrer hatte offenbar nur auf Druck des protestantischen Königs die Tafel für Lorenz Call im Dom aufgehängt. Um sie ein paar Jahre später klammheimlich wieder entfernen zu lassen! All das lässt Robert Boecker keine Ruhe.
Er braucht "Anschauungsmaterial" und reist an den Ort von Napoleons letzter Schlacht: "Ich wollte wissen, wo Lorenz Call gestorben ist und bin dann nach Waterloo gefahren und habe mir dort das Schlachtfeld angesehen. Ich wollte einfach diesem Mann einen Namen geben."
Ein Dieb lässt sich im Dom einschließen
Weshalb das entsprechende Kapitel in Boeckers Buch auch "Der Tod hat einen Namen" heißt. Diese Begebenheit ist eine von insgesamt zehn Geschichten in dem farbig-spannendem Buch, das den Titel trägt: "Ich fürchte, Herr Pastor, wir sind bestohlen".
"Das ist ein Zitat des damaligen Kaplans Gumpertz, der 1821 am Dom war", sagt Boecker. "Gumpertz bereitet den Gottesdienst vor, geht zum Dreikönigenschrein in der Dreikönigskapelle und sieht plötzlich, dass am Schrein Zerstörung ist: Sachen abgebrochen, das Gitter aufgebrochen, und er rennt völlig aufgelöst in die Sakristei und schreit: ‚Ich fürchte, Herr Pastor, wir sind bestohlen’."
Und zwar von einem Dieb namens Heinrich Becker, der sich nachts im Dom hatte einschließen lassen: "Er hat die Schätze, die er im Dom geklaut hat, zum größten Teil vergraben. Man hat sie weitgehend wiedergefunden, aber der Schaden, den er angerichtet hat, war immens."
Allerdings ließ Heinrich Becker die Art von Ganovenehre vermissen, die ein "Kollege" von ihm rund 160 Jahre später durchaus besaß: Die Rotlichtgröße Heinrich Schäfer, wegen seines ungeheuren Riechorgans auch "Schäfers Nas" genannt:
"‘Schäfers Nas‘, eine der Kölner Unterweltgrößen, der in den sechziger und siebziger Jahren hier das Milieu beherrscht hat, war ein Urkölner. Und als 1987 jemand aus der Domschatzkammer ein Vortragekreuz hat mitgehen lassen, gab es in Köln große Aufregung. Der damalige Dompropst Bernard Henrichs, ein sehr netter Mann aber ein Schlitzohr vor dem Herrn, hatte eine Belohnung von 3000 DM damals ausgesetzt zur Wiederbeschaffung dieses Kreuzes."
Das gestohlene Kreuz in der Sporttasche
Henrichs war zunächst wie vom Donner gerührt, als er aus einer Sitzung im Generalvikariat herausgerufen wurde, weil ein Herr von beeindruckender Statur mit einer Sporttasche dort aufgetaucht war und ihn umgehend zu sprechen wünschte: "Schäfers Nas"! Und der holte aus der Tasche das gestohlene Kreuz:
"‘Schäfers Nas‘ sagte: ‚D’r Dom beklaut mer nit!‘ Das ging gegen die Ganovenehre, den Dom zu beklauen", erklärt Boecker. "Er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Kreuz wiederzubeschaffen, denn er verfügte über beste Kontakte zur Unterwelt. Und als der Dompropst ihm dann die ausgesprochene Belohnung von 3000 DM überreichen wollte, hat ‚Schäfers Nas’ das empört abgelehnt und stattdessen darum gebeten, doch bitte beim nächsten Gottesdienst für ihn zu beten. Und das hat Henrichs dann auch gemacht."
Eine Geschichte, die so wohl nur in Köln passieren konnte. Ganz so wie andere Geschichten, die Boecker erzählt. So ist die 1998 von der berühmten Firma Klais in Bonn gebaute Schwalbennest-Orgel im Kölner Dom mit einer echt kölschen Besonderheit ausgestattet: Der Registerzug Nummer 35 ist mit den Worten "Loss jonn" beschriftet. Was soviel heißt wie "Lass gehen" oder "Nun aber los".
Orgel mit Jecken-Register
Dieses Register wird allerdings nur zweimal im Jahr gezogen: beim Karnevalisten-Gottesdienst im Januar und am Karnevalssonntag. Und dann kommt dabei die Figur eines Karnevalsjecken mit Narrenkappe zum Vorschein. Und es erklingt das Lied: "Mer losse d‘r Dom in Kölle."
"Der Dom ist ein riesiges Fass voller Geschichten und ich habe erst eine winzigkleine Kelle rausgeholt", sagt Boecker. Etwa die Geschichte einer sogenannten "Judaspuppe", die noch bis ins frühe 19. Jahrhundert während der Osterliturgie verbrannt wurde, die von der gestohlenen Blutreliquie von Papst Johannes Paul II., die nie wieder auftauchte oder die von den drei Fussboden-Mosaiksteinchen in Blau, Grün und Gold, die in einer Pappschachtel aus Amerika den Dom erreichten. Eine junge Amerikanerin hatte sie im 19. Jahrhundert von einem Handwerker im Dom geschenkt bekommen.
Robert Boecker belebt längst vergessene Geschehnisse neu und macht deutlich: Der Dom ist voller Mythen und Geheimnisse, ein Magnet für Besucher aus aller Welt. Und doch ist und bleibt er zuallererst ein lebendiges Gotteshaus.