Lehrbeispiel für rabiaten Antisemitismus
Der US-Rechtsanwalt und Autor Louis Begley rollt in "Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte" die Geschehnisse um den zu Unrecht als Spion und Landesverräter verurteilten Juden Alfred Dreyfus auf. Er zieht Vergleiche zwischen den Rechtsbrüchen im Fall Dreyfus in Frankreich um 1900 und denen der Regierung Bush im "Kampf gegen den Terror".
Der Fall Dreyfus hat den jüdisch-amerikanischen Autor, Rechtsanwalt und Juristen Louis Begley wohl vor allem aus drei Gründen so sehr interessiert, dass er ihn zum Thema seines jüngsten Buches "Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte" machte.
Die Affäre ist erstens ein Lehrbeispiel für rabiaten Antisemitismus. Wegen der zahlreichen Rechtsbrüche und eklatanten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ist der Fall auch juristisch höchst aufschlussreich. Und schließlich lassen sich alarmierende und beunruhigende Parallelen aufzeigen zwischen der Teufelsinsel und Guantánamo, zwischen den Rechtsbrüchen der Dritten Republik in Frankreich und den Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, die die Regierung Bush in ihrem "Kampf gegen den Terror" begangen hat, vor allem in Zusammenhang mit dem Gefangenenlager in Guantánamo sowie den geheimen CIA-Gefängnissen anderswo, in denen sogenannte "feindliche Kombattanten" ohne Rechtsgrundlage festgehalten und zum Teil gefoltert wurden.
Begley argumentiert, dass einige (keineswegs alle!) Guantánamo-Häftlinge wohlmöglich genauso unschuldig sind wie Hauptmann Dreyfus, dass die Verfahren gegen sie genauso unfair und voreingenommen waren wie das Militärgericht, das seinerzeit Dreyfus verurteilte. Damals und jetzt fehlte den Verfahren der elementare Rechtsschutz des Angeklagten: die Möglichkeit, Beweismaterial, das gegen sie verwendet wurde, zu prüfen und anzufechten; die Gelegenheit, Zeugen der Anklage ins Kreuzverhör zu nehmen und Entlastungszeugen zu benennen; das uneingeschränkte Recht auf einen Verteidiger. Hinzu kam, im Falle Dreyfus wie im Falle Guantánamo, dass das Tribunal nicht unbefangen war, sondern unter Druck von außen stand.
Zur Geschichte: Die "Affäre Dreyfus" war ein berüchtigter Justizirrtum im Frankreich des Fin de Siècle und entwickelte sich zum größten antisemitischen Skandal der Dritten Republik und schließlich zur Staatskrise, die Frankreich in den Grundfesten erschütterte und das Land in zwei Lager spaltete und über ein Jahrzehnt in Atem hielt.
Der jüdische Offizier Hauptmann Alfred Dreyfus wurde 1894 in Paris als angeblicher Spion im Dienste des Deutschen Reiches verhaftet, als angeblicher Landesverräter vor ein Kriegsgericht gestellt, öffentlich degradiert und in einem nicht-öffentlichen Prozess aufgrund gefälschter Unterlagen zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel verurteilt, obwohl er unentwegt seine Unschuld beteuerte und kein Schuldbeweis vorlag.
Als Sohn eines elsässisch-jüdischen Industriellen war Dreyfus eine ideale Zielscheibe für die antisemitischen Kräfte in Armee und Politik: Generell wurden Juden wegen ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs von Nicht-Juden mit Misstrauen und Ablehnung betrachtet. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der verheerenden französischen Niederlage bei Sedan wurden vor allem Juden aus dem Elsass in Frankreich wegen ihres deutschen Akzents als potenzielle Landesverräter beargwöhnt.
Dem Bruder des Verurteilten, Mathieu Dreyfus, gelang es schließlich, jüdische und nicht-jüdische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von der Unschuld des Alfred Dreyfus zu überzeugen. Die französischen Intellektuellen solidarisierten sich mit Dreyfus und kämpften für seine Rehabilitierung. So konnte eine Revision des Prozesses angestrengt werden.
Als Wendepunkt in der Affäre erwies sich der Zeitungsartikel "J’accuse" des Schriftstellers Émile Zola vom 13. Januar 1898. Darin legte Zola die kriminellen Machenschaften von Regierung und Militär offen, eine Intrige antirepublikanischer, antisemitischer, klerikaler, royalistischer und ultra-nationalistischer Kräfte vor allem im Generalstab, im Komplott mit dem Kriegsministerium. Der echte Spion war längst bekannt: ein illegitimer Abkömmling der Familie Esterházy. Esterházy aber wurde freigesprochen; Beamte, die der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen wollten, waren ihres Amtes enthoben worden.
Die Affäre nahm damit das Ausmaß einer Staatskrise an, da die Regierung den Justiz-Skandal gedeckt und vertuscht hatte. Klar wurde die opportunistische Bereitschaft des Staates, wissentlich einen jüdischen Bürger zu opfern, als Kotau vor einer antisemitischen Pogrom-Stimmung im Lande. "J’accuse" gilt als eine Art Gründungsdokument der französischen Intellektuellen: als Geburtsstunde und zugleich als Sternstunde der Intellektuellen, die sich streitbar öffentlich engagieren, Missstände anprangern und sich meinungsbildend in gesellschaftliche Vorgänge einschalten.
Ein Regierungswechsel 1899 ermöglichte Alfred Dreyfus die Rückkehr nach Frankreich und einen zweiten Prozess vor einem Militärgericht in Rennes. Dieses verurteilte ihn erneut, aufgrund gefälschter und erfundener Dokumente. Wegen "mildernder Umstände" wurde die Haftstrafe jedoch auf zehn Jahre reduziert. Dieses juristisch unhaltbare Urteil (Hochverrat bei mildernden Umständen) löste internationale Proteste aus.
Aus Angst vor einem dritten Prozess, der die kriminellen Kabalen und Ränkespiele der Behörden offen gelegt hätte, begnadigte der Staatspräsident Dreyfus im September 1899. Formell rehabilitiert wurde er erst im Juli 1906. Damit hatte der republikanische Rechtsstaat über die judenfeindlichen Kräfte in der Gesellschaft obsiegt.
Aus diesen Debatten entstanden einerseits die sozialistische und die radikale Partei in Frankreich sowie der Gewerkschaftsbund CGT; andererseits entstand die "Action Française", ein mächtiges reaktionäres Sammelbecken monarchistischer, katholisch-konservativer, rassistischer und antisemitischer Kräfte, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einflussreich blieb.
Machart dieses historisch-politischen Großessays: Louis Begley lässt sich auf die feinsten Verästelungen der Dreyfus-Intrige ein und kann die komplexen Verwicklungen des Falles bewundernswert klar und übersichtlich darstellen. Zudem charakterisiert er sehr prägnant das beteiligte Personal, all die hohen Offiziere, Generäle und Minister sowie deren Handlanger, die das Komplott ausheckten, steuerten und deckten. Ebenso plastisch werden die "Dreyfusards", die Widersacher der Intrige, die Aufdecker des Skandals, die Kämpfer für Wahrheit, Recht und Freiheit.
Die Hauptperson, das Opfer Alfred Dreyfus, wird von Begley differenziert und keineswegs unkritisch gesehen. Vor allem die Unfähigkeit oder Blindheit oder der Unwille von Dreyfus, den Judenhass als das treibende Motiv für seine Verfolgung zu erkennen, gibt dem Autor zu denken.
Besprochen von Sigrid Löffler
Louis Begley: Der Fall Dreyfus. Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte
Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
251 Seiten, 19,80 Euro
Die Affäre ist erstens ein Lehrbeispiel für rabiaten Antisemitismus. Wegen der zahlreichen Rechtsbrüche und eklatanten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ist der Fall auch juristisch höchst aufschlussreich. Und schließlich lassen sich alarmierende und beunruhigende Parallelen aufzeigen zwischen der Teufelsinsel und Guantánamo, zwischen den Rechtsbrüchen der Dritten Republik in Frankreich und den Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, die die Regierung Bush in ihrem "Kampf gegen den Terror" begangen hat, vor allem in Zusammenhang mit dem Gefangenenlager in Guantánamo sowie den geheimen CIA-Gefängnissen anderswo, in denen sogenannte "feindliche Kombattanten" ohne Rechtsgrundlage festgehalten und zum Teil gefoltert wurden.
Begley argumentiert, dass einige (keineswegs alle!) Guantánamo-Häftlinge wohlmöglich genauso unschuldig sind wie Hauptmann Dreyfus, dass die Verfahren gegen sie genauso unfair und voreingenommen waren wie das Militärgericht, das seinerzeit Dreyfus verurteilte. Damals und jetzt fehlte den Verfahren der elementare Rechtsschutz des Angeklagten: die Möglichkeit, Beweismaterial, das gegen sie verwendet wurde, zu prüfen und anzufechten; die Gelegenheit, Zeugen der Anklage ins Kreuzverhör zu nehmen und Entlastungszeugen zu benennen; das uneingeschränkte Recht auf einen Verteidiger. Hinzu kam, im Falle Dreyfus wie im Falle Guantánamo, dass das Tribunal nicht unbefangen war, sondern unter Druck von außen stand.
Zur Geschichte: Die "Affäre Dreyfus" war ein berüchtigter Justizirrtum im Frankreich des Fin de Siècle und entwickelte sich zum größten antisemitischen Skandal der Dritten Republik und schließlich zur Staatskrise, die Frankreich in den Grundfesten erschütterte und das Land in zwei Lager spaltete und über ein Jahrzehnt in Atem hielt.
Der jüdische Offizier Hauptmann Alfred Dreyfus wurde 1894 in Paris als angeblicher Spion im Dienste des Deutschen Reiches verhaftet, als angeblicher Landesverräter vor ein Kriegsgericht gestellt, öffentlich degradiert und in einem nicht-öffentlichen Prozess aufgrund gefälschter Unterlagen zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel verurteilt, obwohl er unentwegt seine Unschuld beteuerte und kein Schuldbeweis vorlag.
Als Sohn eines elsässisch-jüdischen Industriellen war Dreyfus eine ideale Zielscheibe für die antisemitischen Kräfte in Armee und Politik: Generell wurden Juden wegen ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs von Nicht-Juden mit Misstrauen und Ablehnung betrachtet. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der verheerenden französischen Niederlage bei Sedan wurden vor allem Juden aus dem Elsass in Frankreich wegen ihres deutschen Akzents als potenzielle Landesverräter beargwöhnt.
Dem Bruder des Verurteilten, Mathieu Dreyfus, gelang es schließlich, jüdische und nicht-jüdische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von der Unschuld des Alfred Dreyfus zu überzeugen. Die französischen Intellektuellen solidarisierten sich mit Dreyfus und kämpften für seine Rehabilitierung. So konnte eine Revision des Prozesses angestrengt werden.
Als Wendepunkt in der Affäre erwies sich der Zeitungsartikel "J’accuse" des Schriftstellers Émile Zola vom 13. Januar 1898. Darin legte Zola die kriminellen Machenschaften von Regierung und Militär offen, eine Intrige antirepublikanischer, antisemitischer, klerikaler, royalistischer und ultra-nationalistischer Kräfte vor allem im Generalstab, im Komplott mit dem Kriegsministerium. Der echte Spion war längst bekannt: ein illegitimer Abkömmling der Familie Esterházy. Esterházy aber wurde freigesprochen; Beamte, die der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen wollten, waren ihres Amtes enthoben worden.
Die Affäre nahm damit das Ausmaß einer Staatskrise an, da die Regierung den Justiz-Skandal gedeckt und vertuscht hatte. Klar wurde die opportunistische Bereitschaft des Staates, wissentlich einen jüdischen Bürger zu opfern, als Kotau vor einer antisemitischen Pogrom-Stimmung im Lande. "J’accuse" gilt als eine Art Gründungsdokument der französischen Intellektuellen: als Geburtsstunde und zugleich als Sternstunde der Intellektuellen, die sich streitbar öffentlich engagieren, Missstände anprangern und sich meinungsbildend in gesellschaftliche Vorgänge einschalten.
Ein Regierungswechsel 1899 ermöglichte Alfred Dreyfus die Rückkehr nach Frankreich und einen zweiten Prozess vor einem Militärgericht in Rennes. Dieses verurteilte ihn erneut, aufgrund gefälschter und erfundener Dokumente. Wegen "mildernder Umstände" wurde die Haftstrafe jedoch auf zehn Jahre reduziert. Dieses juristisch unhaltbare Urteil (Hochverrat bei mildernden Umständen) löste internationale Proteste aus.
Aus Angst vor einem dritten Prozess, der die kriminellen Kabalen und Ränkespiele der Behörden offen gelegt hätte, begnadigte der Staatspräsident Dreyfus im September 1899. Formell rehabilitiert wurde er erst im Juli 1906. Damit hatte der republikanische Rechtsstaat über die judenfeindlichen Kräfte in der Gesellschaft obsiegt.
Aus diesen Debatten entstanden einerseits die sozialistische und die radikale Partei in Frankreich sowie der Gewerkschaftsbund CGT; andererseits entstand die "Action Française", ein mächtiges reaktionäres Sammelbecken monarchistischer, katholisch-konservativer, rassistischer und antisemitischer Kräfte, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einflussreich blieb.
Machart dieses historisch-politischen Großessays: Louis Begley lässt sich auf die feinsten Verästelungen der Dreyfus-Intrige ein und kann die komplexen Verwicklungen des Falles bewundernswert klar und übersichtlich darstellen. Zudem charakterisiert er sehr prägnant das beteiligte Personal, all die hohen Offiziere, Generäle und Minister sowie deren Handlanger, die das Komplott ausheckten, steuerten und deckten. Ebenso plastisch werden die "Dreyfusards", die Widersacher der Intrige, die Aufdecker des Skandals, die Kämpfer für Wahrheit, Recht und Freiheit.
Die Hauptperson, das Opfer Alfred Dreyfus, wird von Begley differenziert und keineswegs unkritisch gesehen. Vor allem die Unfähigkeit oder Blindheit oder der Unwille von Dreyfus, den Judenhass als das treibende Motiv für seine Verfolgung zu erkennen, gibt dem Autor zu denken.
Besprochen von Sigrid Löffler
Louis Begley: Der Fall Dreyfus. Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte
Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
251 Seiten, 19,80 Euro