Lehren aus der Wahl

Abschied vom alten Lagerdenken

Francois Hollande und Angela Merkel
Sollten wieder mehr vorangehen: Frankreichs Präsident Hollande und Kanzlerin Merkel. © dpa/picture-alliance/Julien Warnand
Von Stephan Detjen, Hauptstadtstudio |
Nach der Europawahl müssen Berlin und Paris wieder die Initiative ergreifen und Europa voranbringen, findet Stephan Detjen. Dazu müssten sie nicht zuletzt bei der Wahl des Kommissionspräsidenten Einigkeit zeigen.
Als gestern Abend die letzten Wahllokale geschlossen wurden, öffnete sich für Europa ein Zeitfenster historischer Möglichkeiten – aber auch erheblicher Risiken. Es reicht bis in das Jahr 2017, in dem in Deutschland die Amtszeit Angela Merkels und in Frankreich die Francois Hollandes regulär enden.
Drei Jahre, in denen die beiden zentralen Leitmächte Europas ohne den unmittelbaren Druck nationaler oder gesamteuropäischer Wahlen agieren können. Es sind nicht zuletzt viele der kleineren Länder Europas, die darauf warten, dass Deutschland und Frankreich der Union wieder gemeinsame und kraftvolle Impulse geben.
Wie wichtig das Zusammenwirken Deutschlands und Frankreichs für ganz Europa ist, haben die letzten beiden Jahre auf quälende Weise illustriert. Das deutsch-französische Verhältnis war nach der Wahl von Francois Hollande zunächst eingefroren, dann durch die Bundestagswahlen gelähmt.
Hollande steht mittlerweile vor den Trümmern seines politischen Kurses, der sich als Schlingern zwischen sozialistischen Heilsversprechungen und Reformankündigungen nach deutschem Vorbild erwiesen hatte.
Europapolitik als letzte politische Überlebenschance Hollandes
Heute ist es wahrscheinlich die letzte politische Überlebenschance für den französischen Präsidenten, seine Gestaltungsrolle an der Seite der deutschen Kanzlerin auf europäischer Bühne zu finden. Merkel und Hollande müssten dazu eine Lager und Grenzen übergreifende große Europakoalition bilden. Die Frage, wer als Nachfolger von Jose Manuel Barroso ab Herbst an der Spitze der EU-Kommission stehen wird, ist für das Funktionieren des Europäischen Motors von erheblicher Bedeutung. Als pure Achse Paris-Berlin wird er jedenfalls nicht ins Laufen kommen.
Martin Schulz wäre vor diesem Hintergrund ein geeigneter Kandidat für das Brüsseler Spitzenamt. Er kennt die französischen Sozialisten und namentlich Francois Hollande so gut wie wenige andere außerhalb Frankreichs. Und er hat in seiner Amtszeit als Präsident des Europaparlaments eine gute Beziehung zu Angela Merkel aufgebaut. Beide respektieren und schätzen sich.
Der europäische Lack an der glänzenden Spitzenkandidatur von Martin Schulz aber bröckelte schon in der Schlussphase des Wahlkampfes. Die Sozialdemokraten zogen die nationale Karte, priesen ihn als "deutschen Patrioten" und erklärten den Wählern, nur wer Schulz wähle, sorge dafür, dass das Brüsseler Spitzenamt in deutsche Hand gelange. Schulz war als großer Europäer gestartet und ist als deutscher Sozi aus Würselen gelandet.
Chance zur europäischen Einigung
Dass der christdemokratische Parteienverbund EVP zur stärksten Fraktion im Europarlament wurde, bedeutet indes keineswegs, dass deren Spitzenkandidat Jean Claude Juncker Chef der EU-Kommission in Brüssel wird. Die jetzt nötige Koalitionsbildung in Rat und Parlament ist komplizierter, als man Mehrheitsbildungen zumindest in Deutschland gewohnt ist.
Das Versprechen, die Parlamentswahl sei so wie auf nationaler Ebene automatisch auch ein Bürgerentscheid über die europäische Exekutive, könnte sich schnell als demokratisch schillernde Seifenblase erweisen.
In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob sich Europa an den Bruchlinien seiner politischen Lager spaltet, die geografisch auch entlang der deutsch-französischen Grenze verlaufen. Hier die Fähigkeit Europas zur Einigung zu beweisen, ist zugleich die historische Chance, die mit der gestrigen Wahl eröffnet ist.
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