Es sprachen: Anne Rathsfeld, Rosario Bona, Renate Steininger
Ton: Ralph Perz
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig
Bildungsland bald abgebrannt
28:29 Minuten
Deutsche Schulen sind auf dem Weg in eine vorhersehbare Katastrophe. Denn es gibt es viel zu wenig Lehrerinnen und Lehrer. Besonders schlimm trifft es die Grundschulen. Unterrichtsausfall, überforderte Pädagogen, volle Klassenzimmer sind die Folgen.
In Deutschland fehlen Lehrer. Mancherorts ist die Not schon so groß, dass Schulleiter zu unkonventionellen Mitteln greifen: In Bayern engagierte eine Schule im Frühjahr diesen Jahres Aushilfslehrer von der Bundeswehr, die als ehrenamtliche und unbezahlte Kräfte Aufsicht in Vertretungsstunden führten. Der öffentliche Aufschrei war groß.
Sachsen-Anhalt schickt derzeit Headhunter ins Ausland, um neue Lehrer zu finden. Die Personalfachleute suchen unter anderem in Spanien, Polen, Österreich, der Schweiz und Rumänien.
Berlin ködert Quereinsteiger aus anderen Berufen mit Geld: Wer sich für den Quereinstieg ins Lehramt entscheidet, wird mit 5700 Euro brutto im Monat entlohnt. Zum Vergleich: Hochschulprofessoren erhalten beim Berufseinstieg in Berlin rund 1000 Euro weniger.
Bis 2025 werden in Deutschland fehlen 20.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen, so die Kultusministerkonferenz (KMK). Der Bildungsforscher Klaus Klemm rechnet sogar mit 45.000. Und bis 2030 wird die Diskrepanz noch größer. Die Kultusministerkonferenz rechnet bis dahin mit 14.000 fehlenden Lehrern. Klaus Klemm geht von sage und schreibe 81.000 aus.
Für die höchst unterschiedlichen Zahlen gibt es vor allem zwei Gründe: Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, dass zwischen 2020 und 2030 insgesamt knapp 350.000 neu ausgebildete Lehrer auf den Markt kommen. „Das entscheidende Problem der KMK ist die sogenannte Angebotsberechnung“, sagt der Bildungsforscher Klaus Klemm. Er rechnet mit deutlich weniger neuen Lehrern, da die Zahl der Abiturienten in den nächsten Jahren aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge sinken wird.
Gleichzeitig wird der Bedarf an Lehrkräften Klemm zufolge deutlich steigen: Ab 2026 haben alle Erstklässler und bis 2029 dann alle Grundschüler einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. „Wenn wir wirklich Ganztag ausbauen, wenn wir wirklich Inklusion fortführen, wenn wir wirklich Schule in sozial schwierigen Lagen besonders mit Personal ausstatten, dann brauchen wir dafür noch einmal zusätzliche Lehrkräfte. Das ist gar nicht oder wenn nur marginal einberechnet.“ Klemm geht von weiteren 75.000 Lehrern aus, die hier benötigt werden. In den Statistiken der Kultusministerkonferenz tauchen diese Lehrer nicht auf.
Hoher Notendurchschnitt für Pädagogikstudium
Gründe für den Lehrermangel gibt es viele: Lange lag beispielsweise der geforderte Notendurchschnitt für das Studium vielerorts im Einserbereich. Tausenden jungen Menschen, die gerne Lehrer geworden wären, wurde dadurch der Zugang zu diesem Beruf verwehrt. Heute könnten die Schulen sie gut gebrauchen.
Inzwischen haben viele Universitäten den erforderlichen Notendurchschnitt gesenkt. Doch diese Maßnahme kommt zu spät, kritisiert Bildungsforscher Klaus Klemm. Denn bis die angehenden Lehrer fertig ausgebildet sind, dauert es im Schnitt sieben Jahre.
Kreislauf aus Mangel und Überfluss
Weil die Politik erst reagiert hat, als der Mangel bereits eingetreten war, prognostiziert Klaus Klemm bereits das nächste Problem: "Wenn die dann am Markt sind, ist der Bedarf schon wieder zurückgegangen. Und dann geht es in die nächste Runde: Weil ja kein Bedarf mehr da ist, studieren keine Leute mehr das Grundschullehramt und sieben, acht Jahre später haben wir zu wenig."
Ein ewiger Kreislauf aus Mangel und Überfluss. Sinnvoller wäre es deshalb aus Klemms Sicht, in Jahren mit vielen Lehramtsabsolventen auch über Bedarf Lehrer einzustellen, damit erst gar kein gravierender Mangel entstehen kann. Für jeden Finanzminister ist diese Vorstellung ein Albtraum – und deshalb bislang auch nur eine theoretische Idee.
Lehrerberuf wenig attraktiv
Der Lehrermangel hat jedoch nicht nur mit staatlichen Planungsproblemen zu tun. Der Beruf ist für viele nicht mehr attraktiv. Das hat auch Bildungsforscher Rainer Dollase in einer Umfrage festgestellt: "Da kam eben heraus, dass die heutige Schulwirklichkeit den Lehrerberuf nicht attraktiv macht. Die klagen über Streitereien, Disziplinlosigkeit in einer Schule. Man muss sich mit den Eltern herumärgern. Die haben also aus der Beobachtung der Lehrer, die sie ja in ihrer Schulzeit kennengelernt haben, dann den Schluss gezogen: Das ist nichts für mich. Manche sagen auch: Aufgrund meiner Schulerfahrungen möchte ich nicht Lehrer werden."
Rainer Dollase ist der Auffassung, dass in den vergangenen Jahrzehnten in der Lehrerausbildung falsche Schwerpunkte gesetzt wurden. Statt Studierenden zu zeigen, wie sie eine gute Unterrichtsstunde durchführen, in der sie auch schwierige Schüler integrieren oder wenigstens zur Ruhe bringen, gehe es heute im Lehramtsstudium fast nur noch um Theorievermittlung. „Die Lehrerausbilder scheuen sich, das vorzumachen oder wirklich wirksame Tipps zu geben, warum das so ist“, so Dollase. "Ich erinnere mich zum Beispiel, dass so Größen in der Schulpädagogik wie Krämer oder Twellmann – Herausgeber des Handbuchs ‚Schule und Unterricht‘ – natürlich einmal in der Woche hinter einer Einweg-Glasscheibe den Unterricht für seine Studenten vorgemacht hat.“ Heute sei das undenkbar. „Wie ist es dazu gekommen? Weil man gedacht hat, es ist wichtig, die Theorie zu kennen. Wenn man nur weiß, warum die so sind, dann kriegt man das schon hin.“ Das sei ein Irrtum. „Das muss man lernen.“
Was gute Lehrer und ein gut geführter Unterricht bei den Schülern bewirken können, hat 2010 ein Experiment in Schweden gezeigt: Begleitet vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen unterrichteten acht preisgekrönte Pädagogen für ein Schulhalbjahr eine Klasse an einer Problemschule. Üblicherweise erlangte dort nur ein Bruchteil der Schüler einen Abschluss. Tatsächlich gelang es dem Pädagogen-Team in diesem halben Jahr, einen Großteil der Klasse zum Abschluss zu führen.
"Aber, wenn man dann liest, was die getan haben, dann kriegen natürlich deutsche Lehrer Schweißausbrüche“, sagt Dollase. „Und zwar machen die natürlich ihre Pausen nicht im Lehrerzimmer, sondern auf dem Schulhof. Die versuchen, hervorragende Beziehungen zu den Schülern zu bekommen. Das honorieren die sofort, können dann jeden ansprechen, auch im Unterricht, wenn er mal stört."
Wenig Praxis in der Lehrerausbildung
Rainer Dollase plädiert deshalb für eine Reform der Lehrerausbildung: Statt zunächst mehrere Jahre an der Universität zu verbringen und erst im Referendariat intensiv mit dem Unterrichten in Berührung zu kommen, schlägt er eine duale Ausbildung vor. Theorie- und Praxisphasen sollen sich in kürzeren Abständen abwechseln. In den Praxisphasen sollen angehende Lehrer zunächst erfahrenen Kollegen beim Unterrichten zusehen und dann schneller selbst ins Unterrichten einsteigen, um herauszufinden, ob der Lehrerberuf etwas für sie ist.
Denn hier verbirgt sich ein weiterer Grund für den Lehrermangel: Zu viele angehende Lehrer brechen ihr Studium ab. Deutschlandweite Zahlen gibt es nicht. Aber die Uni Potsdam hat beispielsweise intern ermittelt, dass nur jeder zweite Lehramtsanwärter bis zum Ende des Studiums durchhält.
„Und wer ist an allem schuld? Die Politik!“, so klingt es aus aller Munde. Doch die sieht sich eher als Opfer des Problems. "Unsere Ansprüche sind sehr viel höher geworden“, sagt der hessische Kultusminister Ralph Alexander Lorz. "Wir beschäftigen in Hessen mehr Lehrer als jemals zuvor, und das, obwohl die Schülerzahlen global gerechnet ungefähr gleich geblieben sind über die letzten zehn Jahre hinweg. Aber wir haben auf die Schulen so viele zusätzliche Aufgaben gegeben: Ganztag beispielsweise, Inklusion, Integration, sozialpädagogische Unterstützung – dass einfach unser Kräftebedarf sehr viel höher geworden."
Dazu kommen – so Alexander Lorz – mehrere Ereignisse, die niemand vorhersehen konnte: beispielsweise die Flüchtlingsbewegung 2015/16. „Da sind mal 50.000 Schülerinnen und Schüler mal einfach so vom Himmel gefallen – nur in Hessen.“ Dann die Pandemie. „Auch die Aufholprogramme, die wir jetzt zusätzlich fahren, verlangen zusätzliche Ressourcen, und jetzt haben wir noch die Ukraine-Krise zusätzlich am Wickel. Die hat auch vor sieben Jahren kein Mensch vorhergesehen."
Mit einer Hessen-weiten Image-Kampagne will Lorz mehr junge Leute in den Lehrerberuf bringen. Handfeste Anreize wie ein höheres Gehalt sind vorerst aber nicht vorgesehen. Stattdessen setzt der hessische Kultusminister auf die Eigenmotivation des Lehrer-Nachwuchses: "Am Ende ist das zentrale Argument für jeden sozialen Beruf und natürlich gerade für den Lehrberuf: Man muss Freude daran haben, mit anderen Menschen und vor allem eben mit jungen Menschen zu arbeiten. Man muss Freude daran haben, jungen Menschen auf ihrem Lebensweg weiterzuhelfen, ihnen sozusagen das Tor zu ihrer beruflichen oder ihrer ausbildungsmäßigen Zukunft zu öffnen. Was das wirklich bedeutet, was das für eine Befriedigung vermittelt, wenn man junge Menschen dahin bringen kann, das ist etwas, das wird bei uns in der öffentlichen Diskussion eigentlich kaum thematisiert."
Mangelnde Wertschätzung
Anna Dognin ist Grundschullehrerin in München und kämpft seit Jahren gemeinsam mit Kollegen gegen den Lehrermangel. Sie ärgert sich über das schlechte Image, das Lehrer hierzulande haben – und sieht darin einen weiteren Grund dafür, dass zunehmend weniger junge Menschen Lehrer werden. "Wenn ich mich in einer neuen Gruppe vorstelle und sage, ich bin Grundschullehrerin, dann hört man immer wieder: Das ist ja nett. Am Vormittag arbeiten. Das kann man ja super mit Familie vereinbaren“, erzählt sie. „Da schwingt ganz oft auch keine Wertschätzung mit, weil: Das ist ja was Leichtes, was man da als Job hat. Das entspricht eben überhaupt nicht der Realität."
Wie viele andere Lehrer auch empfindet Anna Dognin ihre Arbeitsbedingungen als starr und unflexibel. Sie passen nicht mehr zum Zeitgeist der heutigen jungen Generation, die sich individuelle Arbeitsmodelle und phasenweise Auszeiten wünscht und am liebsten von überall auf der Welt arbeiten möchte, statt jeden Morgen im selben Klassenzimmer zu stehen.
Die Vereinbarkeit von Familie und dem Lehrerdasein sei jedenfalls nicht unbedingt gegeben, so Dognin. „Die hängt an der einzelnen Schulleitung. Ich kann meine Tochter seit der ersten Klasse nicht selber in die Schule bringen, weil ich um halb acht selber in der Schule sein muss. Man kann, wenn die eigene Schulleitung dann nicht kulant ist, nicht auf die Einschulung der eigenen Kinder gehen, weil man am ersten Schultag da sein muss, und im Bild der Gesellschaft hat man einen Halbtagsjob, der schön ist, weil man es ja mit netten kleinen Kindern zu tun hat.“ In der Realität sei es ein Vollzeitjob, der psychisch immer wieder auch belastend und im Vergleich zu anderen Lehrämtern nicht so gut bezahlt ist. „Dadurch entsteht auf jeden Fall Unzufriedenheit."
Mehr Unterrichtsstunden, weniger Bezahlung
28 Unterrichtsstunden muss ein Grundschullehrer in Vollzeit geben. Ein Lehrer an einer weiterführenden Schule dagegen nur zwischen 23 und 27. Die genaue Anzahl hängt von der Fächerkombination ab. Trotzdem verdient ein Lehrer an einer Grundschule etwa 500 Euro weniger.
Die geringere Bezahlung interpretieren viele Lehrer als Ausdruck mangelnder Wertschätzung. In anderen Ländern ist gerade der Beruf des Grundschullehrers hoch angesehen. In Japan beispielsweise werden sie als Professoren bezeichnet und auch entsprechend gut bezahlt, weil sie die ersten und damit aus Sicht vieler Japaner wichtigsten Weichen einer jeden Schulkarriere stellen. Pro Woche müssen sie nur 17 Stunden unterrichten. Ein Traum für deutsche Grundschullehrer.
Zusatzämter werden nicht honoriert
"Erstmal bin ich Grundschullehrkraft und bin aber auch Medienbeauftragte an unserer Schule und Datenschutzbeauftragte“, stellt sich Saskia Niechzial vor. Sie arbeitet an einer Grundschule in Niedersachsen und bloggt unter ihrem Künstlernamen liniert.kariert bei Instagram über ihren Alltag.
"In der Grundschule ist es so, dass diese Ämter nicht in irgendeiner Art und Weise honoriert oder vergütet werden“, erzählt sie. „Zum einen tatsächlich mit dem ganz klaren Ausdruck: Das ist halt nicht so anstrengend, als wenn man jetzt auf einem Gymnasium oder einer anderen weiterführenden Schule Medienbeauftragter oder Medienbeauftragte ist. Deswegen: In der Grundschule ist das ja nicht so viel Arbeit. Ich musste während Corona eine ganze Schule durchdigitalisieren, und es war eine Heidenarbeit – ganz alleine."
200 Tablets schaffte Saskia Niechzial zu Beginn der Pandemie an, nachdem sie mehrere Angebote eingeholt und miteinander verglichen hatte. Sie richtete jedes einzelne selbst ein, prüfte die Apps auf Datenschutzkonformität, informierte die Eltern darüber, wie die Geräte funktionierten, half den Kollegen, sich in die Technik einzuarbeiten und setzte mit Unterstützung eines Rechtsanwalts juristisch wasserdichte Verträge auf, damit Schülerinnen und Schüler die Tablets ausleihen konnten. All das erledigte sie in Dutzenden Stunden ehrenamtlich – neben ihren normalen Unterrichts- und Vorbereitungszeiten.
Saskia Niechzial fühlt sich ausgenutzt und unter Druck gesetzt. "Wenn wir solche Sachen wie Medienbeauftragter ablehnen und damit auch digitale Fortschritte an der Schule nicht in dem Maße implementieren können, dann ist völlig klar, dass am Ende die Unterrichtsqualität darunter leidet, wir Kindern wichtige digitale Lernchancen nehmen, wir immer wissen: Wenn wir das jetzt nicht machen, dann ist das blöd für die Kinder. Das ist unglaublich gemein, immer mit dieser Krux leben zu müssen aus: Eigentlich will man einmal ein Zeichen setzen und sagen: Nein, das machen wir jetzt mal nicht! Oder nur, wenn wir dafür auch irgendwie in irgendeiner Art und Weise eine gewisse Anerkennung bekommen."
Doch zumindest die finanzielle Anerkennung bleibt aus. Auch jenseits der Corona-Ausnahmesituation verbringt Saskia Niechzial im Schnitt fünf unbezahlte Stunden pro Woche mit ihrem Amt als Medienbeauftrage. Dazu kommen noch einmal etwa zwei bis drei unbezahlte Stunden für ihre Arbeit als Datenschutzbeauftragte. Denn gerade an kleineren Grundschulen übernehmen Lehrer häufig mehrere solcher Ämter – bis hin zum Brandschutzbeauftragten. "Da müssen dann Lehrkräfte nachmittags auch da sitzen in den Schulen und Begehungen machen mit den entsprechenden Fachexpertinnen und da bewerten, wie die Klassenzimmer ausgestattet sind. Abstrus!"
Körperliche und mentale Erschöpfung
In den vergangenen zweieinhalb Jahren hat sich die Situation für viele noch verschärft. Laut einer Studie des Deutschen Schulbarometers fühlen sich vier von fünf Lehrkräften derzeit stark oder sehr stark belastet. Sie klagen über körperliche und mentale Erschöpfung und darüber, dass sie sich in ihrer Freizeit kaum noch erholen können. Drei von vier Lehrern arbeiten regelmäßig am Wochenende. 13 Prozent der Befragten wollen ihre Arbeitszeit reduzieren – was wiederum zu noch größerem Lehrermangel führen wird.
Als Gründe für ihre Erschöpfung geben die Lehrer den allgemeinen Personalmangel, immer mehr verhaltensauffällige Schüler und die gestiegene Belastung durch die Corona-Pandemie an.
"Wenn du eine erste Klasse übernimmst, hast du heute nicht mehr 30 schulreife Kinder vor dir sitzen, die sich an alle Regeln halten können, sondern die sind vielleicht gar nicht richtig im Kindergarten gewesen oder nur wenig im Kindergarten gewesen“, sagt Anna Seitz. Sie ist seit sieben Jahren Grundschullehrerin im Ruhrgebiet. Sie heißt eigentlich anders, möchte aber nicht erkannt werden, da sie als Beamtin Ärger von ihrem Schulleiter fürchtet, wenn sie sich öffentlich kritisch äußert.
Im vergangenen Schuljahr war Anna Seitz Klassenlehrerin einer ersten Klasse. "Die sind nicht so umsichtig im Verhalten mit anderen. Die müssen erstmal die vernünftige Kommunikation oder die Interaktion in der Gruppe lernen, die müssen lernen, sich zurückzunehmen.“ Dann könne der eine noch nicht mit der Schere umgehen, der andere habe noch den Faustgriff mit dem Stift. „Das sind unheimlich viele Baustellen, die eigentlich jedes Kind hat. Das kann man gar nicht nur an einem Kind festmachen. Man hat da nicht schulreife Kinder sitzen, sondern am Anfang des letzten Schuljahres noch ein Kindergarten.“
Ein Berufsstand im Ausnahmezustand
Auf dem Papier sieht die Personalsituation in Seitz Schule gar nicht so schlecht aus. Doch viele ihrer Kollegen sind dauerhaft krankgeschrieben. Ihre Stellen wurden als befristete Vertretungsstellen ausgeschrieben, „aber darauf bewirbt sich natürlich niemand. Wieso sollte auch jemand eine befristete Stelle annehmen, wenn es im ganzen Land unzählige unbefristete freie Stellen gibt."
Seitdem Anna Seitz vor sieben Jahren an ihrer Schule anfing, hat sie ihren Berufsstand nur im Ausnahmezustand erlebt. "Wir haben diese Situation schon seit Jahren. Vor Corona gab es einmal eine sehr heftige Situation. Da waren wir an einem Vormittag noch fünf Lehrer – für damals zehn Klassen. Eigentlich müsste jede Klasse einen Kopf haben und dann sollte es noch zwei, drei Personen mehr geben."
Jenseits der Belastung, die der Personalmangel für Anna Seitz persönlich mit sich bringt, sieht sie die Schulkarrieren vieler Kinder in Gefahr. "Ich werde den Schülern einfach nicht mehr gerecht“, sagt sie. „Ich habe eine Klasse mit 30 Erstklässlern. Wenn man sich das hochrechnet, wie viel Zeit man innerhalb einer Unterrichtsstunde allein für einen Schüler hat, dann schafft man das nicht, in einer Arbeitsphase noch zu allen hinzugehen. Wenn man dann zwei Klassen gleichzeitig beaufsichtigt, dann bedeutet das ja immer auch, dass ein anderer Unterricht ausfällt."
Grundrecht auf Bildung in Gefahr
Gerade die Kinder, die zu Hause niemanden haben, der mit ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen übt, leiden am meisten. Denkt man dieses Szenario weiter, kann schon der Lehrermangel in der Grundschule Folgen für ein ganzes Leben haben. Wer sich hier schon schwertut oder gar den Anschluss verliert, wird möglicherweise die ganze Schulzeit über mit Problemen kämpfen, einen schlechteren Abschluss oder gar keinen machen und dadurch eingeschränkte berufliche Möglichkeiten haben.
Langfristig wird die Bildungsschere durch den Lehrermangel also immer weiter auseinandergehen. Das Grundrecht auf Bildung, das in Deutschland sogar verfassungsrechtlich verankert ist, scheint schon heute mancherorts kaum noch aufrecht zu erhalten, und die Situation spitzt sich weiter zu, denn in den nächsten Jahren werden viele Lehrer in den Ruhestand gehen.
Der ehemalige Gymnasiallehrer und heutige Schulentwicklungsberater Michael Felten hat ebenfalls Ideen, was sich gegen den Lehrermangel unternehmen ließe. „Man könnte als kurzfristige Maßnahme die Schulen noch mit mehr nicht fertigen Lehrkräften versorgen“, sagt er. „Man könnte potenzielle Lehrer, die an der Hochschule oder im Referendariat sind, zusätzlich eigenverantwortliche Aufgaben anbieten, die aber noch nicht das volle Fähigkeitsspektrum erfordern."
Konkurrenz zwischen den Bundesländern
Viele Bundesländer versuchen inzwischen mit allen Mitteln, Lehrkräfte anzuwerben: Weil Bildung Ländersache ist und jedes Bundesland sich offenbar selbst das nächste ist, schreckt auch niemand davor zurück, Lehrer aus anderen Bundesländern abzuwerben. So wirbt beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern in der Sommersaison gezielt um urlaubende Lehrkräfte aus anderen Bundesländern: mit großflächigen Plakaten und einem Propellerflugzeug, das samt Banner den Strand des Ostseebades Boltenhagen überfliegt.
Auf Facebook und Instagram werden zuziehende oder rückkehrende Lehrer außerdem mit kostenlosen Service-Angeboten gelockt. Kosten der Kampagne: rund eine Million Euro.
Manche Ministerien schreiben Lehrkräfte im Ruhestand an und bitten sie um Rückkehr in den Schuldienst. Es kommen zwar welche, aber es sind zu wenige. Und ganz offensichtlich gehen den Ministerien auch potenzielle Kandidaten durch die Lappen, wie das Beispiel von Michael Felten selbst zeigt. "Ich war so jemand, der eigentlich sehr viel Lust hatte, noch weiter zu unterrichten“, sagt er. Er sei aber nicht angeschrieben worden. „Es wäre ein Leichtes gewesen, werbende, verlockende Anschreiben an pensionierte Kolleginnen und Kollegen zu schicken. Das ist bei mir zumindest nicht angekommen."
Quer- und Seiteneinsteiger
In deutschen Schulen trifft man auch auf immer mehr Quereinsteiger. In Sachsen-Anhalt ist es mittlerweile jeder Dritte, in Berlin 60 Prozent. In Bayern werden Quereinsteiger derzeit sogar verbeamtet – in der Regel bis zu einer Altersgrenze von 45 Jahren.
Neben den Quereinsteigern, die zwar ursprünglich ein anderes Studium absolviert haben, sich aber dann in einem 18- bis 24-monatigen Referendariat für das Lehramt qualifizieren, gibt es auch noch die Seiteneinsteiger. Sie absolvieren einen mehrwöchigen Crashkurs und lernen alles Weitere direkt im Job. So wie Sandy Klausnitzer, die sich hauptsächlich um Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund kümmert, die Deutsch als Zweitsprache (DaZ) lernen. "Ich habe als DaZ-Lehrerin angefangen, weil ganz viele Flüchtlinge auf einmal aus der Gemeinschaftsunterkunft an die Grundschule gekommen sind. Ich habe mich da reingefuchst, mir ein ganzes Netzwerk aufgebaut, mit Dolmetschern.“ Vor sechs Jahren habe sie angefangen, „die letzten zwei Jahre dann auch Klassenleitung von vierten deutschen Klassen übernommen und habe trotzdem die ganze DaZ-Koordination nebenbei noch gemacht."
Seiteneinsteiger gelten vielerorts als letztes Mittel im Kampf gegen den Lehrermangel. Obwohl Sandy Klausnitzer, die ursprünglich Betriebswirtschaft studiert hat, dringend als Lehrerin gebraucht wird, ist ihre Arbeitssituation prekär. Bislang hat sie immer nur befristete Verträge erhalten.
Der Vertrag an ihrer jetzigen Schule ist nun sogar ganz ausgelaufen. Um weiter beschäftigt zu werden hätte sie nur eine Möglichkeit gehabt: „Der letzte Vorschlag vom Schulamt war, dass ich Germanistik drei Jahre studiere, in Vollzeit natürlich. Ich bin 45. Ich habe eine Familie. Ich habe ein Haus, was abzuzahlen ist. Ganz ehrlich: Ich kann es mir nicht leisten, drei Jahre jetzt einfach mal zu studieren. Das geht nicht."
Sandy Klausnitzer ärgert sich zwar darüber, wie man mit ihr umgeht, doch der Lehrermangel macht es ihr leicht, eine neue Stelle zu finden. "Ich habe es jetzt in Sachsen-Anhalt probiert und habe tatsächlich heute eine E-Mail bekommen, dass ich für eine Regelschule in die nähere Auswahl gekommen bin. Mal gucken, ob es da klappt in Sachsen-Anhalt."
Unterrichtsausfall wegen Krankheit
Die derzeitige Situation macht viele Lehrer krank. So wie Nele Benningsen. Auch sie heißt eigentlich anders und möchte nicht erkannt werden, weil sie Ärger mit ihrem Schulleiter fürchtet.
Wochenlang schleppte Benningsen sich kürzlich in die Schule, obwohl sie völlig erschöpft und ausgelaugt war. "Krank ist bei uns tatsächlich nicht krank, denn du bist ja dafür zuständig, dass der Laden weiterläuft“, sagt sie. „Das heißt, du bereitest Sachen vor, die die machen können. Die Kinder sind da – irgendjemand wirft es unters Volk und am Schluss, wenn du länger krank bist, bügelst du es quasi aus, weil du dann da reinkommst und dieses Chaos wieder in den Griff kriegen musst. Deshalb ist eigentlich besser, gar nicht erst zu fehlen."
Doch irgendwann ging es nicht mehr. Als sie morgens kaum noch aufstehen konnte, ließ Nele Benningsen sich für drei Wochen krankschreiben. "In dieser Zeit musste dann zwischendurch mal eine andere Klasse an unserer Schule zu Hause bleiben, damit deren Lehrer in meiner Klasse Vertretung machen konnte. Das mag man sich kaum vorstellen."
Mit Meldungen, die Überschriften tragen wie „Das Wohl unserer Kinder ist in Gefahr!“ schlägt der Grundschullehrerverband schon lange Alarm. Dass es an deutschen Schulen so nicht weitergehen kann, muss nicht extra erwähnt werden. Was wir brauchen ist deshalb nicht weniger als ein gesellschaftlicher Wandel. Der Lehrerberuf muss wieder attraktiv werden. Lehrer dürfen nicht länger diejenigen sein, auf die von der Digitalisierung bis zur Inklusion unentgeltlich immer mehr Probleme abgewälzt werden.