Lehrkräftemangel
Die Kultusministerkonferenz geht von 14.000 fehlenden Lehrkräften bis 2030 aus. Doch es könnten deutlich mehr sein. © imago / Ikon Images / Nick Shepherd
Wer unterrichtet in Zukunft die Kinder?
07:29 Minuten
Der Fachkräftemangel ist längst in deutschen Klassenzimmern angekommen. Doch eine neue Studie des Verbands Bildung und Erziehung zeigt: Was wir aktuell erleben, könnte nur das harmlose Vorspiel für eine viel dramatischere Situation sein.
Auf die Kultusministerkonferenz, die KMK, ist Udo Beckmann derzeit nicht allzu gut zu sprechen. Beckmann ist Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung, kurz VBE. Sein Vorwurf an die Ministerinnen und Minister: Sie rechnen sich den Lehrermangel in Deutschland schön. Der VBE habe deshalb eine eigene Studie zum Lehrkräftebedarf in Auftrag gegeben:
"Wir haben seit Langem erhebliche Zweifel daran, dass die Berechnung der Kultusministerkonferenz, die ja einen eher moderaten Lehrkräftemangel bis 2030 ausweisen, nicht der Realität entsprechen", sagt Beckmann.
"Ihr Zustandekommen ist in Teilen weder transparent noch nachvollziehbar. Elementare Einflussfaktoren zur Berechnung von tatsächlichem Bedarf und Angebot fehlen."
"Eine riesige Mogelpackung"
Bisher geht die Kultusministerkonferenz von knapp 14.000 fehlenden Lehrerinnen und Lehrern bis 2030 aus. Viel zu wenig, haben der VBE und der Essener Bildungswissenschaftler Klaus Klemm ermittelt.
Sie kommen für denselben Zeitraum zu einem dramatisch anderen Ergebnis: Demnach werden nicht nur 14.000, sondern 81.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen – die Lücke wäre also fast sechs Mal so groß wie bisher angenommen. Vor allem, weil zu wenig Nachwuchs aus den Universitäten kommt. Alarmierend sei das, sagt Udo Beckmann. Und ein massives Politikversagen:
"Was die Kultusministerkonferenz an Zahlen vorlegt, ist für mich nichts anderes als eine riesige Mogelpackung."
Unerwarteter Anstieg der Geburtenzahlen
Hinzu kommt: Wenn man Reformvorhaben wie die Inklusion oder den Ganztagsanspruch für Grundschulkinder ab 2026 mit einplane, dann wachse die Lücke sogar auf über 150.000 Lehrkräfte an, schätzt Klaus Klemm, seit Jahrzehnten einer der prominentesten Schulforscher in Deutschland.
"Wenn man jetzt die augenblickliche Situation ansieht, ist eine eindeutige Verursachung festzustellen: Wir hatten in den Jahren von 2012/13 bis 2016 einen Anstieg der jährlichen Geburtenzahlen um 110.000 deutschlandweit. 110.000 Kinder wurden 2016 mehr geboren als 2012. Diesen Anstieg - das muss man fairerweise sagen - hat keiner vorhergesehen, ich auch nicht.
Wir haben eben die Familienpolitik, die darauf abzielte, dass mehr Eltern Kinder bekommen, mehr junge Frauen Kinder bekommen. Durch Ganztagsschulen, durch Krippen, durch U3-Versorgungen, durch viele andere Maßnahmen wurden mehr Kinder geboren. Und als das dann passiert war, hat die Politik gesagt: Das haben wir nicht so gedacht. Das ist im Grunde das, was hier passiert ist."
Mehr Studienplätze allein lösen das Problem nicht
Der Erfolg der Familienpolitik im vergangenen Jahrzehnt ist also zu einem Problem für die Schulpolitik des aktuellen Jahrzehnts geworden. Aber was sollen die Bundesländer jetzt tun? Woher sollen sie die Lehrkräfte nehmen?
Eine Option wäre, mehr Studienplätze anzubieten. Nur: Frühestens in sieben Jahren wäre das auch auf dem Arbeitsmarkt spürbar, so lange dauern Studium und Referendariat. Außerdem habe es solche Versuche bereits gegeben, sagt Klaus Klemm. Erfolgreich waren sie nicht.
"Das Heraufschrauben der Zahlen von auszubildenden Lehrkräften sichert ja nicht, dass welche dazukommen. Wir haben das vor zwei, drei Jahren schon sehen können in einem Bundesland. Da wurden wegen des Mangels für die Sekundarstufen I – das waren Haupt- und Realschullehrer in Bayern damals – wurden mehr Studienplätze geschaffen. Aber die blieben leer, weil keine jungen Leute diese Fächer studieren wollten."
Die Politik sieht hilflos zu
Und so stehen die Bundesländer dem dramatischen Mangel an pädagogischen Fachkräften derzeit ziemlich hilflos gegenüber. Ihnen bleibt derzeit kaum etwas anderes übrig, als auf Menschen wie Vanessa Dähn zu hoffen. Die 38-Jährige aus der Nähe von Köln, die lange als Journalistin arbeitete, hatte sich nach der Geburt ihres Sohns entschieden, als Quereinsteigerin ins Klassenzimmer zu wechseln.
"Ich habe mich dann direkt an die Schule gewandt beziehungsweise an die Schulleitung, habe kurzfristig einen Termin bekommen zu einem Vorstellungsgespräch, und das war sehr nett. Ein paar Tage später hab ich dann den Anruf bekommen: Sie können erst mal als Vertretungslehrerin anfangen. Dann war ich von jetzt auf gleich an der Schule, mit zwölf Unterricht Stunden in der Woche, und war natürlich wahnsinnig aufgeregt, weil ich ja noch nie vorher vor einer Klasse gestanden habe. Ich habe aber auch glücklicherweise ganz tolle Unterstützung von meinen Kollegen bekommen."
Nach einem halben Jahr wurde die Vertretungslehrerin dann in ein Programm aufgenommen, in dem sie parallel zur normalen Arbeit an der Schule ihr Referendariat nachholte.
Aus den Fehlern der Vergangenheit lernen
Maike Finnern, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sieht Quereinsteigerinnen wie Vanessa Dähn jedoch nur als kurzfristige Übergangslösung für den akuten Lehrkräftemangel. Um voll ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer in ausreichender Zahl zur Verfügung zu haben, müssten die Bundesländer endlich aus der Vergangenheit lernen.
"Wenn man viele Jahre zurückblickt, haben wir immer schon das, was man 'Schweinezyklus' genannt hat. Das heißt also, wir haben ja auch in den Neunzigerjahren schon mal Phasen gehabt, wo wir viel zu viele Lehrkräfte ausgebildet haben, die dann gar nicht in den Schuldienst gekommen sind", sagt die GEW-Vorsitzende.
"Und jetzt sind wir in so einer Phase, wo wir viel zu wenig haben. Das heißt, ich glaube, die Steuerung der Ausbildung ist sicherlich eine Frage. Und die andere Frage ist die: Wie attraktiv ist es denn, in die Schulen zu gehen? Das ist, glaube ich, schon ein großer Punkt: Wie attraktiv sind Arbeitsbedingungen? Und welche Konkurrenzen gibt es da?"
Besseres Image und mehr Gehalt
Aus Sicht der Gewerkschafterin geht es dabei unter anderem um das Berufsimage und eine bessere Bezahlung. Und es geht darum, niemanden vom Studium abzuschrecken, ergänzt Bildungsforscher Klaus Klemm.
"Wir haben in Münster eine Situation vor ein paar Jahren gehabt, wo man nur eine Zulassung zum Studium eines Grundschullehrers mit der Durchschnittsnote 1,9 hatte. Wer ein schlechteres Abitur als 1,9 hatte, stand vor der Uni Münster und kam nicht rein und konnte nicht Grundschule studieren", so Klemm.
"Und das ist nicht nur Münster gewesen, das ist überall in der Republik: Wir haben einen hohen Numerus clausus im Grundschullehramt gehabt, mit der Folge, dass Hunderte, Tausende von jungen Frauen – Grundschullehramt sind meistens Frauen – Hunderte und Tausende, wenn man bundesweit sieht, von jungen Frauen am Grundschullehramtsstudium qua Politik gehindert wurden, die uns jetzt fehlen."
Die KMK hält sich bedeckt
Und die Kultusministerkonferenz? Die reagierte auf die dramatisch abweichenden Schätzungen zur Lehrkräftelücke nur sehr zurückhaltend. Man brauche „weitere Anstrengungen, um die Lehrkräftegewinnung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht weiterzuentwickeln“, erklärte Karin Prien, CDU-Bildungsministerin in Schleswig-Holstein und derzeit Präsidentin der KMK. Nach einem ausgereiften Plan klingt das noch nicht.