Leibeigene in Mauretanien

Wenn Sklaverei von Gott gegeben ist

Zwei verschleierte Frauen auf einer sandigen Straße in Mauretaniens Hauptstadt Nouakchott
Ketten sind in Mauretaniens Hauptstadt Nouakchott nicht nötig, um die Sklaverei am Leben zu erhalten. Sie hat sich seit Generationen in die Köpfe eingebrannt. © Alexander Bühler
Von Alexander Bühler |
Im westafrikanischen Mauretanien sollen Sklaven fünf bis 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Trotz eines gesetzlichen Verbots dienen sie seit Generationen ihren "Herren" als Hausangestellte oder Viehtreiber. Die Leibeigenen hoffen auf das Paradies und zementieren so die Vorherrschaft der hellhäutigeren Mauren. Widerstand regt sich nur langsam.
"Als ich gerade kurz vor der Pubertät war, hat mein Herr mich das erste Mal vergewaltigt. Danach hat er mich immer wieder vergewaltigt. Mein erstes Kind, meine Tochter, ist die Frucht so einer Vergewaltigung. Mein Herr hieß Brahim Selb Oulbou. Alles begann, als ich fünf Jahre alt war. Damals kam seine Mutter zu uns und sagte, dass sie sei schwanger und bräuchte für kleine Besorgungen ein Kind. Damit war ich gemeint. Was seine und meine Mutter genau besprochen haben, weiß ich nicht, aber meine Mutter hat mich der Frau mitgegeben. Seitdem hatte ich bei meinen Herren gelebt."
Mbarka Essatim ist Ende 20. Die junge Frau war bis vor einigen Jahren eine Sklavin. Eine jener Menschen, die in Mauretanien den gleichen Wert wie ein Gebrauchsgegenstand haben. Rechtlos, schutzlos, vollkommen von ihren sogenannten "Herren" abhängig. Im westafrikanischen Land hält sich die Sklaverei immer noch, wenn auch nur noch in jenen Gebieten, die weitab der Kontrolle des Staats liegen.
"Ich habe gearbeitet, soweit ich zurückdenken kann. Ich habe das ganze Haus geputzt, alles in der Küche abgespült, bin hinausgegangen, um Feuerholz zu suchen, habe angefangen zu kochen. Wenn die Herde aus Ziegen und Schafen wiederkam, habe ich ihnen Wasser gegeben. Ich habe die Lämmer bewacht, abends habe ich Zicklein und Lämmer zur Koppel gebracht und festgebunden. Und dann bin ich zu den Schafen und habe sie gemolken. Danach habe ich mit dem Abendessen angefangen, danach habe ich das Bett der Leute vorbereitet. Dann habe ich alles abgewaschen und aufgeräumt. Morgens bin ich sehr früh aufgestanden, um die Schafe und Ziegen zu melken und die Jungtiere zur Koppel zu bringen."

Sklaverei ist seit dem 19. Jahrhundert geächtet

Die Institution der Sklaverei ist alt, schon bei den alten Griechen und den Römern gab es sie. Und für die Eroberung und Kolonisierung der Neuen Welt spielte der transatlantische Sklavenhandel von Afrika nach Amerika eine entscheidende Rolle. Europäer kauften über Jahrhunderte hinweg in Westafrika Millionen Sklaven auf, die sie auf Segelschiffen übers Meer transportierten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Sklaverei international geächtet.
In Mauretanien allerdings, diesem Vier-Millionen-Einwohner-Land zwischen Atlantik und Sahara, wurde die letzte Sklavenkarawane noch 1967 gesichtet. Und bis heute finden sich immer wieder Fälle wie der von Mbarka Essatim, von Sklaven, die nicht wissen, dass es keine Sklaverei mehr gibt und Herren, die nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass sie keine überlegenen Menschen sind.
"Ich habe nicht mit meinen Herren gegessen oder im gleichen Raum geschlafen. Ich wusste genau, dass mein Leben nicht den selben Wert hat wie das meines Herrn. Mit meinem jetzigen Ehemann änderte sich alles. Er war damals der Fahrer einer anderen Familie. Als er bei mir ankam, fragte er mich: Was machst du hier? Ich antwortete: Ich bin hier bei meinen Eltern. Aber das sind doch nicht deine Eltern, sagte er. Aber ich kenne doch niemand anderen."
Ein Esel zieht einen Wagen in einer Straße der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott
Eine Straße im "Haratin"-Stadtteil Arafat der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott© Alexander Bühler
Jetzt lebt Mbarka Essatim in einer kleinen Hütte am Rande der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott, in einem Viertel, in dem viele Nachfahren von Sklaven leben. "Hratins" werden sie genannt, eine Bezeichnung, von der niemand weiß, woher sie genau kommt. Nur eins ist klar: In den Gesellschaften Westafrikas sind die Hratins jene Gruppe, die seit Generationen in der sozialen Hierarchie ganz unten steht.
Wieviele Sklaven es gibt, weiß niemand genau, Schätzungen liegen bei 150.000 bis 600.000. Aber im Gegensatz zu ähnlichen Formen wie Zwangsprostitution wird die Sklaverei oder Leibeigenschaft immer wieder von den Müttern zu ihren Kindern weitergegeben. Wie ein naturgegebenes Schicksal, dem man nicht entrinnen kann. Fußfesseln, Ketten sind nicht nötig, denn die Sklaverei hat sich fest in der Vorstellung der Menschen eingebrannt. Sogar Mbarka Essatims eigener Tochter wurde von ihren sogenannten "Herren" eingetrichtert, dass das ihr Weg sei.
"Wir vertragen uns nicht sehr gut. Meine Tochter ist von meiner Herrin aufgezogen worden. Auch nachdem ich befreit wurde, lebt meine Tochter noch bei ihr. Wenn ich sie jetzt treffe, verstehen wir uns nicht gut, wir haben nicht dasselbe Temperament." (sie weint)
Die Tränen, die Mbarka Essatim dann vergießt, rühren den Übersetzer. Das Verhältnis zu ihrer Tochter ist sichtbar schlecht. Und daran wird sich wohl nichts ändern. Denn die Tochter will gar nicht aus der Leibeigenschaft entkommen. Deshalb hat sie bis heute auch keine Geburtsurkunde. Und ohne dieses Dokument, kann die Tochter weder zur Schule gehen noch wählen. Das Wort der Mutter allein gilt nichts, es braucht den Vater.

Tiefe Vorstellung von der Gottgegebenheit der Sklaverei

In der festgefügten Gesellschaft Mauretaniens sind Sklaverei und Leibeigenschaft ein Teil der göttlichen Ordnung. Mbarka Essatim hatte das Glück, dass ihr späterer Mann ihr klarmachte, dass ihr Schicksal nicht naturgegeben ist, dass es illegal ist, dass sie eine Sklavin ist. Nur dadurch fand sie den Mut eine Anti-Sklaverei-Organisation anzusprechen, die sie in einer dramatischen Aktion von ihren sogenannten Herren wegholte.
Haby Rabah, die wie Mbarka Essatim eine Sklavin war, weiß, wie tief die Vorstellung von der Gottgegebenheit der Sklaverei ist:
"Ich habe Verwandte, die bei ihren Herren geblieben sind. Sie glauben, dass ihr Paradies von ihren Herren abhängt. Wenn du nach deinem Tod ins Paradies eingehen willst, musst du tun, was dein Herr dir sagt. Ihr Paradies ist garantiert, ich komme dagegen mit Sicherheit in die Hölle."
Die ehemalige Sklavin Haby Rabah und ihre beiden Söhne sitzen in ihrem dunklen Haus
Die ehemalige Sklavin Haby Rabah und ihre beiden Söhne© Alexander Bühler
Das unglaubliche ist, dass diese Vorstellung nicht nur von den Leibeigenen gefördert wird, sondern von der eigenen Familie. Ganz gleich wie weh es tat, Sklave zu sein, soll es auch das Schicksal der Kinder einer Sklavin sein, sagt Rabah. Ihre eigene Mutter weinte zwar, als sie sie in die Sklaverei übergab, aber sie wehrte sich nicht dagegen, sie gab auf.
"Ich habe nur einmal noch meine Mutter gesehen. Sie kam unter dem Vorwand, etwas abholen zu müssen. Meine Mutter war fügsam, sie hätte mir nie verziehen, wenn ich die Herrn beleidigt oder was gegen sie gesagt hätte. Als meine Mutter starb, habe ich das erst nach mehreren Monaten erfahren. Das Leben eines Sklaven hat keinen Wert."

Schwarze stehen unten in sozialer Pyramide

Wir sind am Strand in Nouakchott. Ein Fischmarkt. Meist gefangen von Fischern aus dem benachbarten Senegal. Sie mieten mauretanische Boote und werden oft von den Besitzern um ihren Lohn betrogen. Wenn die Senegalesen dann aufbegehren, schiebt sie die mauretanische Polizei einfach ab. Das ist ein anderes Beispiel für die soziale Hierarchie in Mauretanien – in der die Senegalesen als Schwarze ganz unten stehen. In der gesellschaftlichen Pyramide stehen die hellhäutigeren Mauren ganz oben, alle anderen tief unter ihnen.
Die Ethnologin Mariella Villasante Cervello beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Mauretanien und den gesellschaftlichen Konflikten im Land. Ursprünglich stammt sie aus Peru. Den dortigen zentralen Konflikt zwischen Indianern, die in der Gesellschaft ganz unten stehen und den Mestizen, die angesehener sind, sieht sie so ähnlich in Mauretanien. In den letzten Jahren hat sie in Mauretanien noch eine weitere Gruppe neben den Mauren und den Hratins ausgemacht, die für Diskussionsstoff sorgt: sunnitische Islamisten. Ihr Einfluss wachse:
"Die Islamisten, die von Saudi-Arabien bezahlt werden, stacheln zu einer Revolte auf, rufen zur Verteidigung des Propheten auf. Das ist alles Teil einer islamistischen Radikalisierung, die im Land vor sich geht, die immer stärker wird."
Tatsächlich gibt es Dokumente von Al-Kaida, die zeigen, dass das Terrornetzwerk wohl mit der mauretanischen Regierung verhandelt hat. Der Deal sollte demnach darin bestehen, dass Al-Kaida Bewegungsfreiheit in Mauretanien genießt und im Gegenzug das Land nicht, wie den Nachbarn Mali, mit Terroranschlägen überzieht. Mit dem willkommenen Nebeneffekt, dass die herrschende Clique um den Präsidenten Mohamed Ould Abdelaziz ihre Macht zementieren kann. Auch wenn diese Verhandlungen ohne Ergebnis blieben, äußern sich radikale Sunniten immer lauter in Mauretanien.

Sunnitische Extremisten sind präsent

Regelmäßig gehen Radikalen freitags in der Hafenstadt Nouabdhibou demonstrieren und fordern die Hinrichtung eines jungen Mannes. Sie rufen laut "Mohamed Cheikh Ould Mkhaitir". Er ist ein Anti-Sklaverei-Aktivist, der auch den Koran aufgreift. 2013 kritisierte der junge Mann, dass im Koran die Sklaverei nicht verurteilt wird. Für diese Kritik am Koran wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt.
In Mauretanien gibt es noch die Todesstrafe, auch wenn sie seit 30 Jahren nicht mehr vollstreckt wird. Aber genau das wollen die radikalen Sunniten, die Mohamed Cheikh Ould Mkhaitir lieber heute als Morgen als Kritiker des Propheten am Galgen baumeln sehen wollen. Deshalb demonstrieren sie wöchentlich.
"Man statuiert am Blogger Mohamed Cheikh Ould Mkhaitir ein Exempel. Denn von seiner Sorte gibt es viele. Seit etwa einem Jahrzehnt gibt es eine Bewegung junger Leute die Demokratie und Meinungsfreiheit wollen - auch zu sexuellen Themen, auch zum Islam - die Möglichkeit den Islam zu kritisieren - alles was mit der Religion zusammenhängt. Man hat den Aktivisten Mkhaitir als Exempel gewählt, weil er einer bestimmten sozialen Gruppe angehört, die in ganz Westafrika existiert. Diese Gruppe wird schon immer diskriminiert, daher kann man ihn leicht anklagen, ohne dass die Gesellschaft ihm beisteht."

Mauretaniens Labyrinth aus Identitäten

Ethnologin Villasante hat sich lange en Detail mit der mauretanischen Gesellschaft beschäftigt. Sie erklärt, dass das Wüstenland in Nordwestafrika die Heimat von mehreren Ethnien ist: den nordafrikanischen Mauren, den schwarzafrikanischen Peul, den Soninke und den Wolof. Innerhalb jeder dieser Ethnien existiert eine weitere traditionelle Hierarchie, innerhalb der die Hratins – also die Nachfahren der Sklaven - ganz unten stehen.
Ein Labyrinth aus Identitäten und sozialem Status, das sehr wenig mit unseren europäischen Vorstellungen zu tun hat. Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass es Sklaverei wie die Europäer sie sich vorstellen, in Mauretanien kaum noch gäbe, sagt Villasante:
"Mit der großen Sahara-Dürre in den 1970er Jahren veränderte sich das. Von 80 Prozent der mauretanischen Bevölkerung, die alle Nomaden waren, sind es jetzt weniger als zehn Prozent. Als Nomaden sind die Menschen früher durchs ganze Land gezogen. Heute lebt ein Viertel sesshaft im Osten - in der Hauptstadt Nouakchott. Es war also die Trockenheit, die die Leibeigenen befreit hat. Die Herren konnten die Sklaven nicht mehr ernähren, es gab nichts mehr zu essen oder zu trinken. Daher haben sie gesagt: Geht, wir können nicht mehr. Denn alle waren betroffen, die gesamte Sahelzone. Tausende sind verhungert. Das war in den 1970er bis 1990er Jahren. Damals glaubte man, das wären schlechte Jahre. Man wusste nichts über den Klimawandel, man glaubte der Regen kommt wieder. Aber nein, es war vorbei. Die Wüste hat sich ausgedehnt."

Machtkampf zwischen Mauren und Schwarzen

Hamady Lehbouss ist Sprecher der Anti-Sklaverei Organisation IRA in Mauretanien. Letztes Jahr musste er für seinen Kampf gegen die Sklaverei, ins Gefängnis. Denn die IRA ist der Regierung ein Dorn im Auge. Schließlich will der Gründer der Organisation, Biram Dah Abeid, bei der nächsten Wahl gegen den amtierenden Präsidenten antreten. Und mit seiner Rhetorik von den unterdrückten Nachfahren der Sklaven, von der Unterdrückung der Schwarzen insgesamt, erreicht er viele.
Der Sprecher der Anti-Sklaverei-Organisation sieht, wie Mauretanien von diesem Machtkampf zerrissen werden könnte:
"Die Hratin sind ein wichtiges Thema geworden, weil es einen Machtkampf gibt. Zwischen den Mauren und den schwarzen Mauretaniern: Den Peul, den Soninke und den Wolof. Die sagen, dass die Hratins – die Nachfragen der Sklaven - auch Schwarze sind, ihre Brüder. Da sagen die Mauren, dass die Hautfarbe keine Rolle spielt, wir seien alle Araber."
Hamady Lehbouss sieht in dieser Argumentation den verzweifelten Versuch, die Dominanz der Mauren zu verteidigen, die nur eine Minderheit der Einwohner darstellt. Mit dem Stichwort Araber wird von der mauretanischen Regierung auch die Unterstützung der Saudis eingeworben, sowohl finanziell als auch religiös. Lehbouss ist empört, dass der Staat nur ganz kleine Schritte gegen die Sklaverei unternimmt:
"Meine Eltern waren Sklaven, meine Großeltern waren Sklaven. Bis heute hat meine Familie Verbindungen zu unseren ehemaligen Herren. Die Sklaverei ist präsent. Das Sklavereisystem ist im Staat verankert und wird von ihm perpetuiert. Bis heute ist die Rolle der Hratins, den Herren zu gehorchen. Sie sind Wächter, Laufboten, Fahrer. Das Gefühl der Minderwertigkeit entsteht schon in der Schule. Dort repräsentiert man die Hratins als jene, die zu dienen haben."

Diskriminierung verhindert jegliche Entwicklung

Diese Erfahrung, der Bodensatz der Gesellschaft zu sein, prägt, meint Lehbouss. Es habe ihn geprägt - und vor allem diejenigen, die sich als höherstehend betrachten. Die alltägliche Diskriminierung werde einfach hingenommen.
"Ich fühle mich nicht minderwertig, aber marginalisiert. An den Rand gedrängt. In meinem Alter sind Lehrer wie ich normalerweise Schuldirektoren. Aber ich komme nicht an die Position ran. Weil ich Hratin bin. Ich soll das nicht sein. Ich kann im Staats nichts werden, wenn mein Herr mir nicht beisteht. Nicht mal umziehen kann ich."
Viele Hratins teilen diese Erfahrungen mit Hamady Lehbouss. Doch nur wenige haben sich dazu entschieden, so offen dagegen zu agieren. Wer kann, verlässt das Land. Von Modernisierung ist kaum etwas zu sehen, kaum jemand hat Arbeit - die Arbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent, die einzigen Einkommen entstehen aus verpachteten Fischgründen, aus den Minen im Norden und dem wenigen Tourismus.
Die Diskriminierung lähmt die Gesellschaft und behindert jegliche Entwicklung, meint der Sprecher der Anti-Sklaverei Organisation IRA, dessen Gründer Präsident werden will. Bisher verbleibt jegliche politische Macht und die finanziellen Ressourcen bei der Clique um den aktuellen Präsidenten Mohamed Ould Abdelaziz.
"Ich bin als Hratin ein Opfer der Sklaverei, ein Opfer aus jener Klasse, die lange unterdrückt worden ist. Die Intellektuellen unter den Hratins müssen sich an diesem Kampf beteiligen, sie müssen Nein zum System sagen, das sie heute noch zurückdrängt und marginalisiert zum Wohl des Staats."
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