Leïla Slimani: "All das zu verlieren"
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand, München 2019
220 Seiten, 22,00 Euro
Weibliches Objekt inmitten der männlichen Meute
06:32 Minuten
Adèle führt in Paris mit Richard ein bürgerliches Durchschnittsleben. Was er lange nicht weiß: Adèle lebt mit anderen Männern ihre sexuellen Obsessionen aus. "All das zu verlieren" von Leïla Slimani ist kein Buch für romantische Seelen, urteilt unser Kritiker.
Das ist kein Buch für romantische Seelen, keines für Leserinnen und Leser, die in Liebesromanen jenen zarten erotischen Kitzel suchen, der ihnen im eigenen Leben abgeht. Leïla Slimani, 1981 im marokkanischen Rabat geboren und seit langem in Paris lebend, wurde allenthalben bekannt, als sie 2016 für ihren Roman "Chanson douce" (in der deutschen Ausgabe: "Dann schlaf auch du") mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde.
Schon das war ein schonungsloser Text, der mit dem Satz "Das Baby ist tot" einsetzte und in der Folge in die Pariser Untiefen vermeintlicher Saturiertheit führte.
Zwei Jahre zuvor hatte Slimani mit dem nun auf Deutsch vorliegenden Roman "All das zu verlieren" debütiert, der die Qualitäten dieser Autorin und ihren sezierenden Blick in gesellschaftliche Abgründe sofort zeigt. Der weichgespülte deutsche Titel freilich verharmlost, wovon Slimani erzählt. Im Original heißt das Buch "Dans le jardin de l’ogre" – ein Bild, das in einer zentralen Passage aufgegriffen wird:
Zwei Jahre zuvor hatte Slimani mit dem nun auf Deutsch vorliegenden Roman "All das zu verlieren" debütiert, der die Qualitäten dieser Autorin und ihren sezierenden Blick in gesellschaftliche Abgründe sofort zeigt. Der weichgespülte deutsche Titel freilich verharmlost, wovon Slimani erzählt. Im Original heißt das Buch "Dans le jardin de l’ogre" – ein Bild, das in einer zentralen Passage aufgegriffen wird:
"Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden. Sie will in die Brust gekniffen, in den Bauch gebissen werden. Sie will eine Puppe im Garten eines Ungeheuers sein."
Sie giert danach, ein Sexualobjekt zu werden
"L’ogre", das ist im Französischen nicht zuletzt der Menschenfresser, und Slimanis "Sie", die danach giert, Sexualobjekt zu werden, ist die Journalistin Adèle. Die scheint auf den ersten Blick all das zu besitzen, was zu einem gutbürgerlichen Leben am Fuße des Montmartre gehört: eine großzügige Wohnung, einen Ehemann namens Richard, der sich als Arzt auf Magen-Darm-Krankheiten spezialisiert hat, und ein Kind, das der Kleinfamilie den finalen Segen geben soll.
Doch Adèle kann mit diesem bourgeoisen Scheinfrieden, mit den soignierten Essenseinladungen und dem damit verbundenen Smalltalk nichts anfangen. Ihr Interesse gilt allein ihren sexuellen Obsessionen. Sie ist permanent angetrieben, sich wahllos Männern hinzugeben, an beliebigen Orten, auf eine oft brutale, erniedrigende Weise, die ihre Begierde noch stärker werden lässt.
Doch Adèle kann mit diesem bourgeoisen Scheinfrieden, mit den soignierten Essenseinladungen und dem damit verbundenen Smalltalk nichts anfangen. Ihr Interesse gilt allein ihren sexuellen Obsessionen. Sie ist permanent angetrieben, sich wahllos Männern hinzugeben, an beliebigen Orten, auf eine oft brutale, erniedrigende Weise, die ihre Begierde noch stärker werden lässt.
Von wem sie sich vögeln, lecken oder schlagen lässt, ist gleichgültig: Ihr routinierter Blick erkennt in jedem noch so mediokren Mann einen willigen Sexgefährten – ein Alltag, der sie dazu zwingt, ein kompliziertes Doppelleben zu führen, um ihren lange ahnungslosen Mann nach Strich und Faden zu betrügen.
Der Grund für Adèles Handeln bleibt im Dunkeln
Was Adèle dazu bringt, alle bürgerlichen Sexualnormen zu sprengen, bleibt im Dunkeln. Schon als Jugendliche sah sie in der Erotik eine Möglichkeit, die "Trivialität, die Nichtigkeit der Dinge" zu verbergen, sich selbst in freudlosen Spermaorgien zu verlieren.
Dahinter liegt jedoch eine tiefe existenzielle Einsamkeit, die Slimanis (im Jahr 2010/11 spielender) Roman lapidar und grausam zugleich offenlegt – in einer nicht immer überzeugenden Erzählkonstruktion von Rückblenden und Sprüngen.
"All das zu verlieren" gliedert sich ein in die sehr lebendige aktuelle französische Gegenwartsliteratur, schreibt fort, was Catherine Millet oder Virginie Despentes in den letzten Jahren vorlegten. Und ist natürlich eine moderne Umkehrung und Radikalisierung von Flauberts "Madame Bovary".
"All das zu verlieren" gliedert sich ein in die sehr lebendige aktuelle französische Gegenwartsliteratur, schreibt fort, was Catherine Millet oder Virginie Despentes in den letzten Jahren vorlegten. Und ist natürlich eine moderne Umkehrung und Radikalisierung von Flauberts "Madame Bovary".
Auch Adèles Richard, Arzt wie Charles Bovary, will, als er den unzähligen Sexaffären seiner Frau auf die Schliche kommt, einen "klaren Schnitt" machen und ein befriedetes Leben mit ihr auf dem Land führen. Dass er damit Erfolg haben könnte, glaubt ihm indes kein Leser – und schon gar keine Leserin.