Leïla Slimani: "Das Land der Anderen"
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Verlag, München 2021
383 Seiten, 22 Euro
Selbst für "Mischlinge" ist kein Platz mehr
06:34 Minuten
Der Liebe wegen verlässt Mathilde das Elsass und geht nach Marokko. Dort erlebt sie strenge Traditionen, harte Arbeit, körperliche Gewalt und sieht sich schließlich den Anfeindungen gegen die Kolonialmacht ausgesetzt. Erster Teil einer Familiensaga.
Auch marokkanische Kolonialsoldaten kämpften 1944 für die Befreiung Frankreichs von den nationalsozialistischen Besatzern. Für den dunkelhäutigen Kämpfer Amine Belhaj endete der Krieg im Elsass. Die Bevölkerung feierte die Befreier mit Festgelagen. Am Tisch eines Geschäftsmannes verliebt Amine sich in dessen lebenshungrige Tochter Mathilde.
Sie ist einen halben Kopf größer als er und genau die Frau, mit der er glaubt, im Hinterland von Meknès den Wunsch seines Vaters verwirklichen zu können: Orangenbäume, Wein und Getreide anbauen, eine Familie gründen. Im April 1947 zieht Mathilde in ein dürftiges Zuhause auf unfruchtbaren Hügeln und wie schon zuvor, nach der Ankunft im Haus der Schwiegermutter, begreift sie, dass sie "eine der Gnade der anderen ausgelieferte Fremde" war.
Erstes Buch einer Trilogie über Marokko
"Das Land der Anderen" ist das erste Buch einer Trilogie, in der Leïla Slimani die Geschichte Marokkos zwischen 1945 und 2015 aufrollen will. Der Band umspannt das erste Nachkriegsjahrzehnt und endet mit Anschlägen auf Einrichtungen der Protektoratsbehörden und auf Höfe französischer Grundbesitzer. Nationalistische Partisanen erzwangen 1955 die Unabhängigkeit von Frankreich.
Während der Unruhen kursierten Listen mit den Namen mutmaßlicher einheimischer Verräter. Amine, der als Soldat von den Freien Französischen Streitkräften zwangsrekrutiert worden war, ist potentiell verdächtig. Und seine Frau, die die achtjährige Aïcha auf eine von Nonnen geführte katholische Schule in Meknès schickt, konvertiert aus Furcht vor Vergeltungsschlägen zum Islam. Aus Mathilde wird Mariam.
Gegen patriarchales Gebaren
Slimani verknüpft den Rückzug der französischen Kolonialmacht in Marokko eng mit der individuellen Entwicklung des "gemischten" Paares. Im "Land der Anderen" führt kein Weg an der Assimilation vorbei. Anhand alltäglicher Szenen zeigt Slimani, wie schwer es fällt, kulturelle Verschiedenheit auszuhalten. Mathilde widert es an, dass Landarbeiter Tiere misshandeln; sie stört sich an den Sprichwort-Repliken, mit denen ihr Mann Konflikten ausweicht und sie begleitet ihn – wider seinen Willen – zu Männerabenden in der Stadt.
Mathilde bleibt aber auch fremd unter den privilegiert lebenden Europäerinnen. Ihr Mann wiederum versinkt in Scham, wenn er neben einer geschmückten Pinie den Weihnachtsmann spielt und möchte weglaufen, wenn Franzosen beim Essen seine Tischmanieren beäugen. Wie weit die Französin die moralischen Gebote der marokkanischen Gesellschaft nach zehn Jahren verinnerlicht hat, beweist ihre Reaktion auf einen Machtkampf. Ihre jugendliche Schwägerin begehrt offen gegen patriarchales Gebaren und die Verfügungsgewalt des älteren Bruders auf. Die lebenslustige Minderjährige pfeift auf Konventionen. Mathilde billigt, dass ihr Mann seine Schwester entrechtet und sie mit einem ehemaligen Kriegskameraden zwangsverheiratet.
Abkehr von der Welt der weißen Europäer
Im Schlussbild setzt die Autorin einen weiteren klaren Akzent. In bestürzender Schlichtheit beschreibt Slimani, wie Amines und Mathildes Tochter während des Aufruhrs 1955 den Brand auf benachbarten Plantagen beobachtet. Wortlos solidarisiert sich das unter ihren französischen Mitschülerinnen fremd gebliebene Mädchen mit den marodierenden Rebellen und wünscht "den Anderen" im Land den Tod. Die Grenze ist gezogen. Den Weg dahin beschreibt die Autorin mit einem äußerst feinen Gespür für gedankenlose und bösartige Herabsetzungen, die bei einer heranwachsenden Generation eine radikale Abkehr vom Christentum und der Welt der weißen Europäer bewirken. "Mischlinge kündigen das Ende der Welt an", behauptet eine Figur lapidar und spricht aus, was Marokkaner wie Franzosen in jenen Jahren glaubten.