Leipzig und der Linksextremismus

Connewitz – besser als sein Ruf?

29:26 Minuten
Leipziger Stadtteil Connewitz: Der Schriftzug 'Ein Herz für Connewitz' steht an einem Haus, 2020.
Leipzig-Connewitz gilt als linksradikaler Stadtteil. Inwieweit ist dieses Image zutreffend? © imago images/Peter Endig
Von Sabine Adler |
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Immer wieder ist Leipzig-Connewitz wegen linksextremer Gewalt in den Schlagzeilen. "No Cops" steht an den Häuserwänden, die Polizeistation wird regelmäßig attackiert. Aber ist der Stadtteil wirklich ein Hort der Extremisten?
Connewitz ist bunt. Kunterbunt. So bunt, dass es vielen zu bunt wird. Meine allererste Begegnung, als ich aus der Straßenbahn steige, sind zwei Männer mit Eimer, Kanister, Leiter und Bürsten. Beide schrubben heftig an einer gelben Backsteinfassade Graffiti weg.
"Machen Sie das öfter hier?", frage ich. "Nur einmal im Jahr, haha", scherzt einer der Männer und verdreht die Augen. "Das ist das schlimmste Viertel von Leipzig, würde ich sagen. Das kannst du heute abmachen und morgen ist wieder was dran."

Polizei überwacht mit Kamera

Wenige Schritte entfernt schließt Sascha Lange sein Fahrrad an. Der Historiker mit der schwarzen Baseballkappe ist gebürtiger Leipziger und Experte der jüngeren Connewitzer Geschichte. Er wird mir das Viertel zeigen, in dem er sozialisiert wurde und das schon vor dem Mauerfall für seine Subkultur landesweit berühmt war. Für die Technoszene wegen der "Distillery", für die Punks wegen des "UT Connewitz". Die dritte Kultstätte ist das "Werk II", eines der ersten Kulturzentren, das nach der Wende in eine abgewickelte Fabrik einzog. Hier ist unser Startpunkt. Sascha Lange erklärt:
"Hier gibt es zwei Veranstaltungshallen, eine große und eine kleine. Hier ist ein kleines Theater, die Kammerspiele. Hier drüben ist ein Graffiti-Laden, 'better run'. Hier kann also der geneigte junge Mensch alle Spraydosen kaufen."

War da nicht eben was? Ich staune.
"Das heißt also, dass sich das im Kreis bewegt: Hier wird die Farbe gekauft. Da drüben wird sie drangesprüht, dann kommt eine Firma und macht es ab. Das gehört auch zum Bild in Connewitz."
Zwei Arbeiter stehen vor einer Hauswand und übermalen Graffitis.
Und täglich grüßt das Murmeltier... Kurz nachdem Graffitis von den Hauswänden entfernt wurden, werden diese oft gleich wieder neu besprüht.© Deutschlandradio / Sabine Adler
Sascha Lange ist 49, ein schmaler, flinker Typ mit dunkel gerahmter Brille. Er wendet seinen Blick Richtung Kreuzung Liebknechtstraße, Ecke Kochstraße:
"Das ist das Connewitzer Kreuz, sozusagen das urbane Zentrum. Seit mittlerweile 15 Jahren steht mitten auf der Kreuzung so ein Mast, der die Straßenbahn-Oberleitungen hält, und da oben befindet sich eine Kamera. Die Kamera ist von der Polizei dort angebracht worden. Es muss irgendeine Auseinandersetzung gegeben haben, weswegen man dann meinte, man müsste den öffentlichen Raum mit einer Kamera überwachen, um somit die Akteure in irgendeiner Art und Weise zu disziplinieren. Man muss dazu wissen, dass in der benachbarten Südvorstadt die Kriminalitätsrate höher ist, die hat aber keine Kameraüberwachung und auch keinen Polizeiposten, der hier auch gleich um die Ecke ist."
Ich höre da so ein bisschen einen Unterton, einen Vorwurf, dass Connewitz als Viertel gegängelt wird?
"Das wird nicht nur ein bisschen gegängelt, sondern Connewitz ist für bestimmte Kreise in der sächsischen Politik, nicht nur die AfD, sondern vor allen Dingen auch die sächsische CDU, ein Politikum", sagt Lange.
"Alles, was hier passiert, ist politisch aufgeladen. Jede Mülltonne, die hier irgendein verrückter Langweiler anzündet, wird politisch bewertet. Und da muss ich gerade die sächsische CDU immer wieder ins Feld führen. Die brauchen offensichtlich diesen Stadtteil, um ein politisches Feindbild zu nähren, wider besseren Wissens."

"Es wird mit zweierlei Maß gemessen"

Fakt ist auch: In Connewitz werden regelmäßig Polizisten angegriffen, auch die Polizeistation Connewitz ist ständigen Attacken ausgesetzt, immer wieder an Silvester. Sascha Lange streitet das gar nicht ab, findet aber, dass zu dem Ritual immer zwei gehören.
"Hier steht immer Polizei, weil sie genau darauf warten, dass Betrunkene dieses Feindbild wahrnehmen und sich an ihm abarbeiten. Und so entstehen dann jedes Jahr die Schlagzeilen. Was man aber zum Beispiel aus Dresden oder auch vom sächsische Ministerpräsident Kretschmer hört: 'Es ist alles ganz schlimm. Die Straftäter müssen hart bestraft werden'."
Es wird mit zweierlei Maß gemessen, glaubt Sascha Lange, wenn es um die Connewitzer geht.
"Als die sogenannten besorgten Bürger vor den Flüchtlingsheimen demonstriert haben, teilweise gewalttätig, da hat der Ministerpräsident sich die Mühe gemacht, mit denen ins Gespräch zu kommen. Als die sogenannten Corona-Leugner demonstriert haben und ihn dort beschimpft haben, da hat er sich dort hingestellt, hat sich geduldig angehört, was sie zu sagen haben. Aber hier in Connewitz, wo Leute Angst vor steigenden Mieten haben, wo Leute einfach anders leben wollen, wird das immer in die Schublade Linksextremisten geschoben. Da muss dann der Staat mit harter Hand reagieren."

Connewitz - ein Freiraum in Sachsen

Wir verlassen die Kreuzung Richtung Wolfgang-Heinze-Straße mit den vielen Cafés, Imbiss-Stuben für Veganer, kleinen Lädchen.
Der Connewitzer Sascha Lange mit Baseballkappe, Hornbrille und Bart vor einer mit Graffiti besprühten Hauswand in Leipzig-Connewitz.
Sascha Lange führt durch seinen Kiez Leipzig-Connewitz.© Deutschlandradio / Sabine Adler
Sascha Lange hat seine Jugend hier in Connewitz verbracht. Jeden Meter stolpert er jetzt über Erinnerungen. Viele Läden sehen noch wie damals aus, was für viele den Charme des Viertels ausmacht: Statt kommerzieller Großveranstalter kleine Klubs, die es schon immer gab, zum Beispiel das UT, das Union-Theater. Es ist eines der ältesten Kinos Deutschlands und war Treff für die Punks.
"Das war noch zu DDR-Zeiten. 1987/88 haben in diesem Kino Punker ein Konzert veranstaltet, und das war eine total skurrile Situation. Plötzlich standen hier überall Punker und wir fanden das als Kiddies einfach toll! Wir waren damals alle Depeche-Mode- und The-Cure- und Ärzte-Fans und liefen hier rum. Wir kamen uns wie die kleinen Kids vor und das waren die großen tollen Punker. Und da gab es noch die Platzanweiser und die guckten völlig entsetzt, was da für ein Publikum kam, und dass die plötzlich auch geraucht haben und dass die überhaupt nicht gehört haben. Und dann spielt 'Zorn', so hieß die Leipziger Punkband. Und wir waren total begeistert, dachten: Yeah, ist das toll!"
Vor dem UT-Kino schiebt ein junger Mann sein Rad auf dem Fußweg. Er wirkt schüchtern. Auf die Frage, was für ihn den Connewitzer Spirit ausmacht, hat er eine klare Antwort:
"Dass man hier so ein bisschen aussehen kann, wie man will. Man wird in Ruhe gelassen."
Er ist Student, Mitte 20. Seine Haare sind sehr lang, reichen bis weit über die Schultern. Sie sind blond, nicht gefärbt. Er trägt weder offen Tatoos noch Piercings und ist damit hier fast die Ausnahme. Trotzdem schätzt er Connewitz als eine Art Rückzugsraum. So wie viele andere, weiß Sascha Lange:
"Connewitz ist auch dadurch so groß geworden mittlerweile, dass so viele Leute hier wohnen, weil es eben im Osten Deutschlands und speziell in Sachsen relativ wenig Orte gibt, wo man sich als Punk, als Skater, als Hip-Hopper gerade in der Provinz frei bewegen kann. Aufgrund der rechten Hegemonien, die es in vielen Orten Sachsens gibt."

"Laut, divers und cool"

Sarah schiebt ihr Fahrrad vorbei. Was ist für sie das Besondere an Connewitz?
"Das ist laut, es ist divers und es ist cool. Weil das immer so progressiv ist. Und natürlich ist es ein wichtiger linker Ort, deutschlandweit. Und ich glaube – und das ist in Connewitz stark –, es gibt Plätze, an denen man sich trifft, ohne sich zu verabreden."
Buchhalterin Sarah im Park.
Buchhalterin Sarah lebt gerne in Connewitz.© Deutschlandradio / Sabine Adler
Dass Sarah als Buchhalterin arbeitet, vermutet man bei der 31-Jährigen mit dem rotgefärbten Haar und den Piercings in der Nase nicht sofort.
In Connewitz wohnen keineswegs nur junge Leute. Das Zusammenleben mit den vielen alten Menschen hier klappt besser, als die Schlagzeilen über Connewitz glauben machen. Nachbarin Bräutigam lebt mit ihren 80 Jahren gern hier. Die Graffitis gehen ihr allerdings auf die Nerven.
"Gucken Sie sich mal die Häuser an! Der ist fertig mit Saubermachen und am nächsten Tag ist das wieder beschmiert. Das regt mich auf."
Aber mit denen, die die Graffitis machen, hat sie nichts zu tun:
"Überhaupt nicht. Ich bin schon über 50 Jahre hier, also ich kann nicht klagen. Ich kriege von dem Ganzen kaum was mit, wenn hier Randale ist oder so. Mein Sohn ist Polizist, der hat mir auch verschiedene Straßen verboten, die Stöckartstraße und so. Mir hat aber noch niemand was getan."

Tiefes Misstrauen gegenüber der Polizei

In der Stöckartstraße, vor der ihr Sohn sie warnt, wurde Geschichte geschrieben. Was dort geschah, steckt in der DNA der Connewitzer Alternativen, glaubt Sascha Lange.
"1990 standen hier Abrisshäuser und es sollten Plattenbauten entstehen. Und da hat sich die ‚Connewitzer Initiative‘ gegründet und die haben gesagt: Wir besetzten Häuser. Es wurden Listen ausgehängt. Sucht euch ein Haus aus, zieht dort ein und macht was draus. Und eine dieser Straßen war die Straße, in der wir hier stehen. Das ist die Stockartstraße, damals noch Stöckartstraße. Es waren dann also Hippies und Punks, die hierherkamen. Und die Häuser muss man sich alle noch komplett verfallen vorstellen. Also diese Buntheit, sowohl was die Graffitis angeht, als auch die gestalteten Fassaden, das gab es damals alles noch nicht. Und als dann bekannt wurde, dass in der Stöckartstraße Punks zu Hause waren, war das den Nazi-Gangs, die es in Leipzig ab 1987 gab, dann natürlich ein Dorn im Auge."

Als ich reingehen will, um mir das Gebäude näher anzusehen, hält mich Sascha Lange zurück. Besser nicht. Es könnte ein unfreundlicher Empfang werden. Klischee-Punks wohnten hier, die empfängen keine Besuche. Er erzählt lieber weiter von der Geschichte:
An einem Balkon ist der Schriftzug "No Cops" an die Wand gemalt.
Der Schriftzug "No Cops" - Polizei unerwünscht - ist in Connewitz häufig zu sehen.© Deutschlandradio / Sabine Adler
"Ab Sommer 1990 gab es auf dieser Straße Nazi-Überfälle mit manchmal 100 bis 200 Nazis, die hier ankamen. Ich habe das damals selber als 19-jähriger Depeche-Mode-Fan erlebt. Und das ist auch der Punkt, wo so eine Keimzelle des Misstrauens zwischen Leuten in Connewitz und dem Staat entstanden ist. Also ich stand dort auf dem Dach oben. Und dann stand an der anderen Straßenecke schon die Polizei. Weil die wussten, dass es einen Nazi-Überfall geben wird. Ich stand da oben auf dem Dach und dann fuhr die Polizei weg. Und dann kamen die Nazis und haben sich hier eine Viertelstunde an der Straße abgearbeitet."
Aus diesem Vorfall zog die Connewitzer Szene den Schluss: Die Polizei will uns nicht schützen.
"Das war aber der Plan der Nazis, all diese alternativen Projekte mittels Gewalt zu zerstören. Und dann stand man vor der Entscheidung: So, die Polizei schützt uns nicht, was machen wir jetzt? Entweder wir lassen uns alles zerkloppen oder wir wehren uns."
So wurde Connewitz zum Zentrum des Widerstands gegen die Leipziger Rechte.
Das Verhältnis zur Polizei ist bis heute tief zerrüttet, wovon unzählige Sprüche an Fassaden im ganzen Viertel erzählen. "No cops" ist noch der harmloseste. Die Nazi-Überfälle haben aufgehört, fast.
"Eine der Ursachen, warum das dann irgendwann aufhörte, war, dass die Nazis wussten, wenn sie nach Connewitz fahren, wenn sie Leute überfallen, müssen sie mit körperlicher Gegenwehr rechnen. Die Nazis kamen an, die Nazis wurden verprügelt, die Nazis gingen wieder weg."

Polizeistation ist ständiges Angriffsziel

In der Wiederbachstraße gleich am Eingang einer Einkaufspassage ist die Polizeistation von Connewitz untergebracht, die immer wieder Ziel von Angriffen ist. Mit den Beamten dort bin ich zum Gespräch verabredet.
Die Wechselsprechanlage befindet sich neben der Eingangstür, die verspiegelt ist, genau wie die Fenster der Connewitzer Polizeiwache, die hinter einem großen Gerüst fast verschwindet. Vor gut vier Wochen wurde die Außenstelle wieder einmal attackiert, dieses Mal mit Teerfarbe. Die konnte nur mit einer Speziallösung entfernt werden, die während der Säuberungsarbeiten durch die Fensterritzen in die Räume sickerte. Wegen der starken Ausdünstungen ist die Wache für Tage unbrauchbar.
Ein Einsatzwagen kommt, losgeschickt von Polizeidirektor Uwe Stöhr, der mich zu ihm in das 800 Meter entfernten Revier Leipzig Südost bringt, wo auch Pressesprecherin Mandy Heimann wartet. Und Karin Wöbbeking, die Connewitzer Bürgerpolizistin, die für einige Tage Asyl bei den Kollegen erbeten hat.
Die Anfang 50-Jährige ist eine kleine Person mit einem runden freundlichen Gesicht und offensichtlich die Ruhe selbst. Keine unwichtige Voraussetzung für ihren Einsatz auf diesem ständig attackierten Außenposten.
"Da ich schon lange in dem Stadtteil arbeite, kann ich sagen: Ja, es gab schon sehr viele Angriffe. Aber wenn die Außenstelle von außen angegriffen wird, denke ich schon, dass es symbolisch ist, dass man diese Polizei in diesem Viertel nicht haben will, dass man deswegen die Scheiben zerstört, dass man Farbe dagegen wirft. Ja, man möchte auch den Leuten Angst einjagen. Aber ich glaube nicht, dass man die Personen persönlich angreifen will."
Wie sie sich fühlt, wenn sie permanent unter diesem Druck steht, will ich wissen.
"Meine persönliche Einstellung ist: Ich stehe nicht permanent unter Druck. Ich bin tagsüber da. Ich bin für die Anwohner da. Und diese Anschläge passieren überwiegend zur Nachtzeit, in der Dunkelheit. Es ist auch nicht schön, wenn man früh kommt und man sieht die Auswirkung wieder und hört auch, was die Kollegen erlebt haben. Aber für mich ist viel wichtiger, was die Anwohner einem mitteilen, dass die froh sind, dass wir da sind, dass wir positive Gespräche haben und dass die Anwohner, mit denen wir am Tag wirklich Kontakt haben, diese Gewalt auch nicht befürworten."
Ich erwähne, dass ich noch nirgendwo so häufig die Aufschrift "No Cops" gesehen habe und auch andere, wirklich schwere Beleidigungen gegen die Polizei.
"Der Spruch 'No Cops' ist nicht schön. Aber da er wirklich fast überall steht, nimmt man ihn zur Kenntnis und ignoriert ihn. Es sind für mich nicht die Leute, die dort im Viertel wohnen, die das überall hinsprühen, sondern es ist nur ein ganz kleiner Teil der Leute, die das vertreten. Das greift mich persönlich nicht an."

"Es ist wichtig, dass die Polizei präsent ist"

Die Kamera am Connewitzer Kreuz und auch die zusätzliche Polizeiwache, wo wegen der Graffitis und immer wieder brennenden Autos mehr Anzeigen als anderswo erstattet werden, sollen die Präsenz des Staates untermauern. Polizeidirektor Uwe Stöhr möchte sie als das verstanden wissen, was sie sind: Signale, dass sich die Polizei nicht zurückzieht, sondern erst recht hinschaut.
"Die Kamera auf dem Connewitzer Kreuz ist eine Kamera, die einfach eine Übersichtsaufnahme bietet. Sie ist nicht zur Strafverfolgung geeignet, sondern sie bietet uns den Blick auf einen Ort, an dem es immer wieder Straftaten gegeben hat und wo wir nicht ständig vor Ort sein wollen, sondern sehen wollen, ob dort das Leben normal funktioniert. Sicherlich ist es auch ein Zeichensetzen in dem Sinne: ‚Wir sind da‘. Ich glaube, das ist wichtig für den Bürger, vor Ort präsent zu sein."
Der Polizeidirektor widerspricht denen, die das ganze Viertel als linksextrem einstufen. Zwar räumt er ein, dass Gefahr von links droht, doch das sei nicht nur Problem von Connewitz.
"Es sind ja nur einige wenige, die diese Ideologie vertreten. Die Stadt Leipzig hat möglicherweise ein Problem mit Linksextremismus. Das ist nicht nur Connewitz, sondern Connewitz ist halt ein Stadtteil, mit der aus der Geschichte heraus geprägten Hausbesetzerszene in den 90er-Jahren. Das ist kein Stadtteil, der linksextremistisch unterwandert wäre. Das ist einfach nicht so."

Man ärgert sich über den schlechten Ruf

Knapp 20.000 Menschen leben derzeit in dem Stadtteil. Karin Wöbbeking ist hier aufgewachsen und ärgert sich nach 14 Jahren Einsatz als Bürgerpolizistin über den Ruf, der dem Stadtteil vorausgeht.
"Wenn was passiert: Man geht nach Connewitz. Man sieht es auch wirklich immer in der Presse. Wenn sonst irgendwo eine Mülltonne oder Auto brennt, dann liest man nichts davon. Aber wenn es in Connewitz ist, dann ist die Schlagzeile halt eine halbe Seite groß und ein großes, buntes Bild."
Das jüngste Ereignis, das Connewitz in die Schlagzeilen brachte, war eine Demonstration am ersten Septemberwochenende gegen die sogenannte Gentrifizierung, den forcierten Bau teurer Wohnungen. Der Marsch lief aus dem Ruder, weil Feuerwerkskörper auf einem Balkon einer frisch bezogenen Wohnung landeten. Eine Botschaft, die lautete: Dieser Zuzug ist nicht gewollt. Polizeidirektor Stöhr relativiert.
"Es sind wenige, die sich letztlich mit diesen Gedanken tragen, man müsste den einen oder anderen aus dem Stadtteil vertreiben, man müsste das Klima verändern. Aber das Klima hat sich nicht grundlegend verändert, weil die Zivilgesellschaft stark genug ist, mit solchen Dingen umzugehen. Und wir als Polizei haben mit den Bewohnern des Hauses gesprochen. Das bestärkt die eher noch, sich heimisch zu fühlen. Die haben gewusst, wohin sie gehen, und sie wollten das Flair von Connewitz. Und die haben niemandem was weggenommen. Auch das muss man sagen."

Profiteure der Gentrifizierung

Im Asia-Imbiss am Connewitzer Kreuz wartet Paul aus Hamburg auf sein Essen. Er trägt eine Maske über seinem rötlichen Vollbart. Der Wahl-Connewitzer entdeckt immer mehr Ähnlichkeiten zwischen der Stadt an der Elbe und Leipzig an der Pleiße.
"Man kann sich frei entfalten, das finde ich sehr schön. Das Bunte. Ich komme jetzt halt von Hamburg nach Leipzig und sehe da gerade Parallelen zu der Schanze und Ähnlichem."
Ist das für ihn positiv oder negativ?
"Na gut, die Krawalle, die man mitbekommt, sind natürlich negativ. Also da würde ich mich auch immer von abgrenzen. Das nervt mich tierisch, gerade die Gewalt gegen Polizei und Ähnlichem. Ich wohne da vorne um die Ecke, da in den Neubauten, und dort hat man auch schon Polizeischutz gesehen. Das ist auch nicht alles ganz unbegründet."
Ein Skateboardfahrer im Skaterpark Conne Island.
Zum alternativen Jugendkulturzentrum Conne Island gehört auch ein Skaterpark.© Deutschlandradio / Sabine Adler
Mulmig ist es dem jungen Mann dennoch nicht geworden.
"Bei uns in der Region ist jetzt außer Graffiti an den Wänden ja auch nichts weiter passiert. Eine Farbbombe habe ich gesehen, aber ansonsten eigentlich alles relativ friedlich."
Allerdings: Er ist nur Mieter. Kein Eigentümer
"Ich habe gemietet. Einen Kauf hätte ich mir wahrscheinlich auch noch mal überlegt. Für mich ist es hier alles relativ günstig im Vergleich. Es heißt, Ur-Leipziger würden da nicht einziehen aufgrund des Mietspiegels. Ich hatte vorher eine Kaltmiete von 14 Euro in Hamburg, bin jetzt bei unter zehn und habe einen Neubau. Das ist doch eher positiv zu betrachten statt negativ, dass auch mal eine Oststadt so ein bisschen einen Hype abbekommt."
Der Klimademo am Freitag hat Paul sich angeschlossen, die sogenannte Gentrifizierung ist dagegen nicht sein Thema. Im Gegenteil, er profitiert von ihr.

Aufschwung in Leipzig kommt nicht bei allen an

Jahrzehntelang, schon seit Mitte der 1960er-Jahre schrumpfte Leipzig, besonders stark aber nach dem Ende der DDR. In den 1990er-Jahren sank die Einwohnerzahl um knapp 100.000. Jeder Fünfte verließ die Stadt. Erst nach der Jahrtausendwende kehrte sich der Trend um. Ab 2010 zog das Wachstum noch einmal an, schneller als in jeder anderen Stadt in Deutschland. Heute leben knapp 600.000 Menschen in Leipzig, das gern als Boomtown bezeichnet oder Hype-zig statt Leipzig genannt wird. Im Stadtteil Connewitz verlief die Entwicklung weit weniger dramatisch als im Rest der Stadt, weder gingen so viele fort, noch kamen so viele neu hinzu.
Annegret Haase vom Helmholtz-Institut für Umweltforschung schaut sich seit Jahren die Stadtentwicklung sehr genau an und sieht die Schattenseiten des Aufschwungs:
"Viele arbeiten in prekären Jobs und es gibt nach wie vor einen hohen Anteil an einkommensarmen Haushalten in der Stadt."
Die 46-jährige Stadtsoziologin ist für unser Interview im Straßencafé kurz dem Homeoffice entflohen. Sie kennt das Argument von den immer noch günstigen Mieten im Vergleich zu Hamburg, Stuttgart oder München.
"Aber das nützt den Leuten hier nicht viel, weil sie ähnlich viel fürs Wohnen ausgeben, gemessen am durchschnittlichen Haushaltseinkommen. Und diese relativ moderaten Steigerungen sind für viele Einkommensarme ganz schrecklich, weil selbst ein kleiner Unterschied eine große Wirkung hat. Ich würde gerne von dem Effekt der Gentrifizierung reden, der Verdrängung. Und das betrifft. einkommensärmere Haushalte entweder direkt, sie fliegen raus, oder indirekt, sie kommen gar nicht erst rein."
Wir schauen uns Videoaufnahmen vom ersten Septemberwochenende auf dem Smartphone an. Randalierer bedienten einmal mehr das linksextremistische Image des Leipziger Szeneviertels. Wieder stand Connewitz in den überregionalen Schlagzeilen als Hort linker Gewalt.
"Gewalt ist für mich ein absolutes No-Go. Sie legitimiert für mich kein Anliegen und die Leute, die meinen, dass Gewalt legitim ist, weil man sonst nicht durchkommt, die haben was nicht verstanden. Aber der Anlass ist eben immer: Wenn es zu Gewalt kommt, dann ist die Aufmerksamkeit leider größer oder manchmal auch überhaupt nur deshalb da."
Brandsätze und fliegende Steine diskreditieren das Anliegen, gemeinsam für bezahlbare Wohnungen zu kämpfen, findet Annegret Haase, weil sie vor allem die legitime Kritik und das politische Engagement linker Gruppen insgesamt in Verruf bringen, das auch Erfolge zeitigt. So habe sich die Legida-Bewegung hier nicht festigen können und auch der Erhalt vieler Freiräume geht auf das Konto der Linken, meint die Stadtsoziologin.

Gesinnungstest für Zuzügler?

Den Schauplatz der jüngsten Ausschreitungen zeigt mir Sascha Lange, der Historiker, der die Connewitzer Zeitgeschichte genau verfolgt.
Jetzt sind wir an dem Ort, an dem die letzte Auseinandersetzung stattgefunden hat und die wieder für Schlagzeilen gesorgt hat, weil in diesem neu bezogenen Bau Nebelkerzen oder Bengalos auf dem Balkon gelandet sind.
"Das ist dieser hochpreisige Neubau, eines der Gebäude, die jetzt hier in letzter Zeit errichtet worden sind."
Fassade eines Neubaus in Leipzig-Connewitz, der an der Stelle einer alten Villa errichtet wurde, von der nur noch ein Balkon übriggeblieben ist.
Stein des Anstoßes: ein Neubau in Connewitz, der von Gentrifizierungsgegnern mit Bengalos beworfen wurde.© Deutschlandradio / Sabine Adler
Früher stand hier eine alte Villa mit Garten.
"Der eine Balkon ist noch erhalten geblieben, der Rest ist ein zweckmäßiger Bau und sieht furchtbar aus. Im Gegensatz zu früher, hier standen vorher schöne alte Bäume. Es war ein verwunschener Park. Der Punkt ist, dass es wieder so ein hochpreisiges Gebäude ist, was am Bedarf im Stadtteil komplett vorbei gebaut worden ist, wo es also darum geht, Geld zu machen und nicht Wohnraum für alle zu schaffen."
"Muss man also, um in Connewitz zu leben, einen Gesinnungstest machen?" frage ich. "Und was ist mit dem Recht der freien Wohnungs-, Orts- und Platzwahl? Es gibt Gewalt gegen die Leute, die hier eingezogen sind, es gibt Gewalt gegen Polizei. Das sind Methoden, die hier nicht von Rechtsextremen, sondern von Linksextremen angewendet werden."
"Es interessieren sich alle Leute immer nur für Connewitz, wenn Gewalt ausgeübt wird, was natürlich dann den Gewalttätern umso mehr in die Karten spielt. Wenn ich eine Demonstration mache gegen steigende Mieten, nimmt das niemand war. Wenn ich aber Steine gegen ein Haus werfe, dann nehmen das plötzlich Leute wahr. Das ist nicht schön. Ich würde mir auch in jedem Falle wünschen, dass politische Konflikte anders gelöst werden. Aber es ist leider gerade die gesellschaftliche Tatsache."

Aktion gegen steigende Mieten eskaliert

Von der attackierten Villa zur Abgeordneten Juliane Nagel von der Partei Die Linke ist es nur ein Katzensprung. Die Linken-Politikerin kam in Connewitz zur Welt. Zweimal hat sie ihr Landtagsmandat direkt gewonnen. Außerdem ist die 42-jährige Stadträtin für den Leipziger Süden in einer rot-rot-grünen Mehrheit. Die Abgeordnete tritt aber immer noch auch als Aktivistin auf, war am ersten Septemberwochenende, als die Lage eskalierte, selbst unterwegs.
Juliane Nagel auf einem Fahrrad
Linken-Politikerin Juliane Nagel stammt aus Connewitz.© Deutschlandradio/Sabine Adler
"Am Freitagabend war ich persönlich bei einer versuchten Hausbesetzung. Menschen haben versucht, genau das Eckhaus Stöckart-Straße/Ecke Biedermann-Straße zu besetzen. Ein Haus, das jetzt seit zwei Jahren leer steht, entmietet wurde, also eigentlich auch ein geeigneter Ort ist, um so eine symbolische Aktion zu machen. Das war alles friedlich. Die Polizei hat es relativ schnell beendet, aber da gab es keine Auseinandersetzungen. Und drei Stunden später gab es einen kurzen eruptiven Ausbruch von Gewalt. Für mich ist es jetzt – so von außen betrachtet – vielleicht auch eher eine selbstvergewissernde Geste gewesen. So gegenüber der Polizei: ‚Das ist unser Stadtteil. Wir wollen nicht, dass ihr hier seid. Oder wir wollen nicht, dass ihr sozusagen unsere Aktivitäten beeinflusst. Da spürt ihr mal sozusagen, was wir können.‘"
Juliane Nagel wird zitiert mit einem Vorschlag, den sie angeblich gemacht hat: Man sollte die Polizei abschaffen. Darauf angesprochen reagiert sie abwehrend.
"Also ich vertrete diese Position gar nicht. Vielleicht zum Hintergrund: Wir haben vor einem Jahr eine Podiumsdiskussion gemacht zu der Frage: Funktioniert eine Gesellschaft ohne Polizei? Wo man wirklich mal die Frage grundsätzlich erörtern wollte, ob sich eine Gesellschaft auch anders regulieren kann, mit friedlichen Mitteln, ob es sozusagen Kommunikations-, Moderations-, Kriseninterventionsformate gibt. Eine Zivilisierung der Gesellschaft. Ich würde mich nicht hinstellen und sagen: Polizei raus oder Polizei abschaffen."
Auch Juliane Nagel findet, dass Connewitz stigmatisiert wird.
"Eine Kriminalisierung des Viertels, eine übermäßige Polizeipräsenz, verdachtsunabhängige Kontrollen und regelmäßige Streifen – das alles ist eine Provokation für den Stadtteil."

Immobilienmaklerin ist unerwünschte Person

Die Politikerin klagt, dass sie sich ständig rechtfertigen und gegen linke Gewalt abgrenzen muss, obwohl sie damit gar nichts zu tun habe. Aber wie fühlt es sich dann an, wenn Demonstrationen damit enden, dass jemand ein Bengalo auf seinen Balkon kriegt?
"Das finde ich nicht gut. Also man macht ja eine Demonstration, um ein Thema zu verhandeln, öffentlich zu machen. Und das ist ein vollkommen falsches Mittel. Man sollte sich nicht gegen die Leute in Stellung bringen, die hierherziehen. Auf der anderen Seite fragt man sich, wer kann sich das überhaupt leisten hierherzuziehen? Und man stolpert darüber, dass Immobilienfirmen mit diesem Image von Connewitz werben, was man sozusagen selbst produziert hat, und dann aber Leute herziehen, die vielleicht dieses Image oder diese Kultur, dieses Lebensgefühl auslöschen."

Ein Phänomen, das sich nicht nur in Leipzig-Connewitz zeigt, sondern in vielen Großstädten. Aber nicht überall kämpft man mit gleichen Mitteln gegen Gentrifizierung.
Die Schaufenster des Büros der Linken-Politikerin Juliane Nagel in Leipzig-Connewitz. Darin zahlreiche Plakate und Flugblätter, außerdem ein Transparent "Mietstreik".
Die Linken-Politikerin Juliane Nagel hat hier ihr Büro in Leipzig-Connewitz.© Deutschlandradio / Sabine Adler
"Hier gibt es einen Neubau, die Wassermühle. Das ist der Fall, wo die Mitarbeiterin quasi zu Hause aufgesucht wurde und dort bedroht wurde. Geschlagen wurde sogar."
Es handelte sich um eine Immobilienmaklerin.
"Und der Chef hat sich an mich gewendet und er hat ganz klar gesagt: Sozialer Wohnungsbau kommt für mich nicht in Frage. Rentiert sich nicht. Aber wenn man in so ein Viertel kommt und so einen großen Neubau hierhin setzt, muss man vielleicht auch ein bisschen an das soziale Gefüge in dem Stadtteil denken."
Die Connewitzerin Juliane Nagel findet Gewalt nicht gut, aber sie unterscheidet ganz klar.
"Gewalt hat ja auch immer eine Ursache. Ein Angriff auf eine Asylunterkunft ist ja auch ein Gewaltakt. Und da würde ich jetzt sagen, ich lehne die Motivation ab. In so einem Fall, wenn Menschen hier wirklich eskaliert haben wegen der teuren Neubauten, würde ich sagen: Für das Grundanliegen habe ich Verständnis."
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