Wie ein Buch zum Bestseller wird
Wer auf der Leipziger Buchmesse einen Preis gewinnt, darf auf einen guten Verkauf seines Werks hoffen - eine Garantie dafür gibt es allerdings nicht. Was einen Bestseller ausmacht, hat Literaturkritiker Jörg Magenau untersucht.
Dieter Kassel: Auf der Leipziger Buchmesse werden ziemlich viele Preise vergeben. Sie fing mit einer Preisvergabe gestern ja schon an, mit dem Preis für die Europäische Verständigung. Und wenn ein Buch einen Preis bekommt, wenn es vielleicht gar der Deutsche Buchpreis ist oder wenn der Autor den Nobelpreis kriegt, dann wirkt das in aller Regel verkaufsfördernd, aber eine Garantie für einen Platz auf der Bestsellerliste ist das noch lange nicht. Da müssen andere Faktoren dazukommen, und diesen Faktoren ist der Literaturkritiker Jörg Magenau auf der Spur in seinem Buch "Bestseller. Bücher, die wir liebten und was sie über uns verraten", das er natürlich unter anderem auch jetzt gerade in Leipzig auf der Messe vorstellt, weshalb wir ihn da jetzt gerade am Telefon erwischen. Morgen, Herr Magenau!
Jörg Magenau: Guten Morgen!
Kassel: Ich gebe es ehrlich zu, Ihr Buch hat mich in einem Punkt unglaublich enttäuscht, weil ich hatte mit einer Anleitung gerechnet, die mich in die Lage versetzt, selbst systematisch einen Bestseller zu verfassen. Die liefern Sie aber nicht. Weil Sie die selber nicht gefunden haben, oder weil Sie die lieber geheim halten wollen?
Magenau: Weil es sie nicht gibt, und weil, wenn es sie gäbe, die Verlage sie ja auch jederzeit anwenden würden und nichts mehr als Bestseller produzieren. Jedenfalls, das Risiko, ob es gelingt oder nicht, minimieren könnten. Und das Erfolgsrezept gibt es auch deshalb nicht, weil es nicht nur in den Büchern selbst steckt, sondern immer auch in der Gesellschaft, in der die Bücher produziert werden.
Man muss ja den richtigen Moment erwischen, man muss auf die Stimmungen im Land reagieren, man muss wissen, welche Debatten stattgefunden haben, an die man anknüpfen kann. Man muss auch wissen, welche Bücher es in den letzten Jahren gab, die vielleicht erfolgreich waren und schon bestimmte Diskursschneisen geschlagen haben in diesem Dschungel von Meinungen und Stimmungen und Ängsten und Sorgen und Hysterien und Nöten und Sehnsüchten. All das lässt sich nicht planen, und deshalb sind Bestseller immer ein großes Abenteuer.
Erster Bestseller Deutschlands - ein Buch über Archäologie
Kassel: Man darf aber bei dem, was Sie gerade gesagt haben, sich nicht dem Missverständnis hingeben, es würde für einen Autor einfach reichen, die Tageszeitung zu lesen und mal zu gucken, worüber diskutiert wird. Denn nehmen wir mal einen – es war so ziemlich der erste Bestseller in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg –, das war über Jahre hinweg, glaube ich sogar, ein Buch über Archäologie. Also insofern, was war denn das zum Beispiel damals? Wollten die Leute einfach nur ihre Gegenwart und die jüngste Vergangenheit verdrängen?
Magenau: Das war das Buch "Götter, Gräber und Gelehrte" von C.W. Ceram, das dann über Jahrzehnte hinaus ein Riesenlongseller wurde in Deutschland. Und der Verleger Ernst Rowohlt hat damals gesagt, das ist völliger Quatsch. So was braucht man gar nicht erst zu veröffentlichen, mehr als ein paar Tausend wird man davon nicht verkaufen. Ein Buch über Archäologie, so ein Irrsinn. Aber das kam 1949, kurz vor Weihnachten, war eine Geschenkausgabe, sah teuer aus, ließ sich gut verschenken, hat ein gewisses Bildungsbedürfnis auch befriedigt. Aber vor allem fiel es in eine Gesellschaft, die ja selbst zerstört war, eine Trümmerlandschaft, in der man gar nicht so viel über die eigene Geschichte zu der Zeit unbedingt wissen wollte.
Und dieses Buch wurde auch verkauft mit dem Hinweis, es sei ein Buch über Geschichte, aber über lang zurückliegende Geschichte. Man musste also nichts über den Zweiten Weltkrieg lesen, trotzdem aber erfuhr man etwas über den Untergang von Kulturen, über das, was auch übrig bleibt davon, und konnte vielleicht sogar hoffen, ganz leise, ohne dass das im Buch jemals thematisiert worden wäre, dass von der deutschen Kultur, von der europäischen Kultur, von all der Zerstörung der Gegenwart, dass da auch irgendwas auch so trümmerartig wie bei den Königsgräbern in Ägypten oder Schliemanns Troja übrig bleiben würde und in ein paar Jahrhunderten vielleicht wiederentdeckt werden könnte.
Bücher über Natur und Biologie boomen
Kassel: Das finde ich ziemlich nachvollziehbar. Aber wenn wir mal auf einen der noch relativ neuen Bestseller blicken, es ist erst ein paar Jahre her, auf das Buch nämlich "Darm mit Charme". Was soll denn das jetzt heißen? War unsere ganze Gesellschaft erst kürzlich in einer analen Phase?
Magenau: Wohl möglich. Mit Geld haben wir ja immer viel zu tun, und der Börsenboom war auch noch nicht so lange her, dass wir da ein bisschen auch wieder lernten, zurückhalten zu müssen am neuen Markt. Aber das Buch gehört grundsätzlich in eine Tendenz, die seit 1989 eigentlich die Großtendenz ist auf dem Buchmarkt, und nicht nur da, sondern in der Art unseres Denkens. Dass wir uns sehr viel mehr mit Naturphänomenen beschäftigen – Peter Wohlleben und "Das Waldbuch" ist da das allerbeste Beispiel. Aber auch der Blick des Menschen auf sich selbst geht eher ins Biologische. Wir brauchen vielleicht gar nicht mehr so sehr die Psychologie als die Biologie. Wir verstehen uns aus dem Darm heraus. Und bei Julia Enders gibt es die interessante Passage, wo sie sagt, der Darm ist eigentlich der Sitz der Seele.
Und die Seelensuche ist ja auch etwas, was immer wieder stattfindet auf dem Buchmarkt – was sind wir eigentlich, was ist der Mensch? Die ganzen populärphilosophischen Bücher von Richard David Precht bis hin zu Wolfram Eilenberger, der ja auch gerade, glaube ich, einen ganz erstaunlichen Bestseller landet mit seinem Buch über Heidegger und Wittgenstein. Die gehen dieser Frage nach, was ist der Mensch. Und da kann man durchaus auch im Darm anfangen. Dieser große Wechsel von Gesellschaftstheorie, von Politik hin zu Naturphänomenen und biologischen Phänomenen, da passt dieses Buch durchaus rein, und deshalb finde ich es nicht besonders erstaunlich, dass das so erfolgreich ist.
Unterteilung in Sachbuch und Belletristik ohne Aussage
Kassel: Sie machen in Ihren Betrachtungen "Bestseller in Deutschland 1945 bis jetzt" keinen Unterschied zwischen Sachbüchern und Belletristik – ich meine, am Ende machen Sie schon einen Unterschied, aber Sie teilen das nicht auf in zwei verschiedene Gruppen. Warum eigentlich nicht?
Magenau: Weil das oft ja auch eine willkürliche Grenze ist, die man gar nicht so klar ziehen kann, wie das diese Listen suggerieren. Fiction oder Nonfiction, Art and Artifacts, oder Erfundenes. Wo gehören zum Beispiel Autobiografien oder Biografien hin? Sind das jetzt Faktenbücher, oder sind das Erzählungen? Und die werden mal so, mal so einsortiert. Das ist – es gibt dokumentarische Romane, wie es Sachbücher gibt, die, wie Erich von Däniken 1978, wenn er über die göttlichen Astronauten der Vorzeit schreibt, Fiction sind, reine Fiction, und trotzdem als Sachbuch laufen. Also diese Grenze ist eine mehr oder weniger beliebige, die nur der Grobsortierung auf dem Buchmarkt dient.
Deshalb habe ich die nicht mitgemacht. Und ich fand das jetzt auch irrelevant für mein Thema. Wenn es darum geht, Stimmungen im Land zu erkunden – was hat uns jeweils umgetrieben zu einer bestimmten Zeit und wie spiegelt sich das in den Büchern, die wir gelesen und geliebt haben, wider, dann ist dieser Unterschied marginal. Das ist also etwas, was man tatsächlich nur so verkaufstechnisch betreiben kann, aber nicht jetzt für eine Stimmungsgeschichte Deutschlands.
Anfangs waren Bestseller-Listen verpönt
Kassel: Sie beschreiben ja auch die Entstehung und die Geschichte dieser Bestsellerlisten. Da gehen Sie allerdings auch noch vor das Jahr '45. Es ging wenig überraschenderweise los in den USA, gab einen kurzen Versuch in Deutschland, der sich nicht durchgesetzt hat. Und dann kam, eine ganze Weile nach dem Zweiten Weltkrieg der "Seller-Teller" der "Zeit", also der Wochenzeitung, die es bis heute gibt. Das war der Versuch, eine Bestsellerliste zu etablieren, ohne dass jemand merkt, dass es wirklich eine ist, oder?
Magenau: Das war der Versuch, einen Empfehlungsteller zu präsentieren, den aber alle schon für eine Bestsellerliste gehalten haben, und deshalb war der Protest in den 50er-Jahren sehr groß gegen "Die Zeit". Man empfand das als einen Sündenfall des Geistes in den Markt. Sich überhaupt mit solchen Phänomenen wie "was verkauft sich gut" zu beschäftigen, weil das ein hohes Feuilleton nicht zu interessieren habe. Das war dann im "Spiegel" etwas besser Anfang der 60er-Jahre, als "Der Spiegel" seine Bestsellerliste präsentierte, die dann auch wirklich eine Bestsellerliste war, während dieser Seller-Teller der "Zeit" auf die ausgewählten Buchhandlungen der "Zeit"-Redaktion zurückgingen. Das waren Empfehlungen von sieben Buchhändlern in Deutschland, wo man nie so genau wusste, was empfehlen die eigentlich. Vielleicht ja auch nur die Bücher, die sie selbst gern noch ein bisschen verkaufen möchten, weil sie so viele davon auf Lager haben.
Tatsächlich hat sich die Bestsellerliste dann aber mit dem "Spiegel" und später mit dem "Focus" etabliert. Und wichtig war auch das Jahr 1968. Nicht, weil 1968 sich auf der Bestsellerliste tatsächlich gespiegelt hätte, sondern weil man damals anfing, sich mit Massenkultur und Pop-Phänomenen auch an der Universität zu beschäftigen und die Hinwendung dann zu solchen Phänomenen wie Bestsellern dann tatsächlich auch salonfähig wurde.
Bestseller "Das Parfüm" überzeugt bis heute
Kassel: Haben Sie eigentlich einen ganz persönlichen, als Leser – weder als Autor noch als Kritiker – als Leser einen persönlichen Lieblingsbestseller?
Magenau: Ich habe erstaunlich viele Bücher gefunden jetzt in dieser langen Zeit, in der ich mich damit beschäftigt habe, die doch sehr stark und haltbar sind. Dazu gehört zum Beispiel von Patrick Süskind "Das Parfüm". Das fand ich einen außerordentlich spannenden, gut geschriebenen Roman mit einem klaren Thema. Auch diese Figurenzeichnung, Grenouille, dieser gebuckelte, eigentlich doch depravierte Typ, der dann über sein Genie mit der Nase dann zum Sonderfall wird. Also das fand ich ein sehr faszinierendes Buch. Und es gibt viele solche Bücher. Das war eine der Grunderfahrungen eigentlich. Bestseller sind keineswegs irgendwie der Massenschund und Ramsch, sondern da kommt immer wieder tolle Bücher durch. Und darüber freue ich mich dann sehr, dass also Bestseller doch wirklich auch die Vielfalt dessen, was möglich ist zu lesen und zu wissen und zu erfahren, wiedergeben. Also das ist nicht nur jetzt irgendwie die internationale Bestsellerromanmanufaktur, sondern da sind viele Titel drauf, die sich zu lesen lohnen, und man muss auf die gegenwärtige Bestsellerliste gucken, da findet man auch so das eine oder andere wirklich tolle Buch.
Kassel: Unter anderem ja durchaus auch Ihres bei den Sachbüchern. "Bestseller. Bücher, die wir liebten und was sie über uns verraten" heißt das neue Buch von Jörg Magenau, Literaturkritiker und als solcher ja auch hier aus unserem Programm bekannt. Erschienen ist das Buch im Verlag Hoffmann und Campe. Herr Magenau, vielen Dank für das Gespräch und viel Spaß auf der Messe.
Magenau: Ich danke Ihnen, Herr Kassel! Schönen Tag noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.