Heike Behrend: "Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung" (Rezension)
Matthes & Seitz, Oktober 2020
278 Seiten, 25 Euro
Die nominierten Sachbuchautorinnen und -autoren
58:09 Minuten
Der Preis der Leipziger Buchmesse für das beste Sachbuch des Jahres ist umkämpft. Was allen fünf nominierten Autorinnen und Autoren gemeinsam ist: Sie betrachten ihr Thema aus verblüffenden Perspektiven und kommen zu erstaunlichen Erkenntnissen.
Was passiert, wenn eine junge Ethnologin plötzlich selbst zum beobachteten Objekt wird? Gibt es eine Möglichkeit, die Kraft des Weltalls mit eigenen Augen zu sehen? Welche neuen Erkenntnisse gewinnen wir, wenn wir den Zweiten Weltkrieg nicht chronologisch, sondern räumlich erzählen? Der Preis der Leipziger Buchmesse 2021 zeichnet – neben Belletristik und Übersetzungsleistung – auch das beste Sachbuch des Jahres aus.
Christian Rabhansl und Andrea Gerk haben die fünf nominierten Autorinnen und Autoren im Literarischen Colloquium Berlin getroffen und stellen die Finalisten mit ihren Büchern vor.
Die Jury lobt: "Wer verstehen will, was Diversität aus einer anderen als der eurozentrischen Perspektive bedeutet, der ist bei Behrend richtig. Bei ihrem Porträt nicht nur einer Ethnologin, sondern auch ihrer Disziplin führen diejenigen der Autorin die Feder, die sonst die Beobachteten sind."
Heike Behrend studierte Ethnologie und Religionswissenschaft. Sie arbeitete ethnografisch vor allem in Ostafrika und unterrichtete an verschiedenen Universitäten. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze, unter anderem "Alice und die Geister. Krieg im Norden Ugandas".
Das sagt die Autorin über ihr Buch:
Seit ihren ersten Forschungsaufenthalten Ende der 1970er in Kenia habe sie das ethnographische Wissen als Geschenk der Menschen vor Ort begriffen, das in der gemeinsamen Arbeit entstehe. "Ich habe angeschlossen an eine kleine Tradition innerhalb der deutschen und französischen Ethnologie, nämlich der sogenannten inversen Ethnografie", erläutert Heike Behrend. "Das heißt, ich habe das Ganze systematisiert in dem Sinn, dass ich mich selbst zum Objekt der ethnografischen Forschung gemacht habe. Diejenigen, die ich eigentlich ethnographiert habe, die wurden zu Ethnografen, die mich beobachtet haben, mich beurteilt haben und meine Arbeit. Und das führt zu sehr wichtigen Schlussfolgerung einerseits und andererseits zu ganz wesentlichen Erschütterung des eigenen Selbstverständnisses und natürlich auch das der Wissenschaft."
Seit ihren ersten Forschungsaufenthalten Ende der 1970er in Kenia habe sie das ethnographische Wissen als Geschenk der Menschen vor Ort begriffen, das in der gemeinsamen Arbeit entstehe. "Ich habe angeschlossen an eine kleine Tradition innerhalb der deutschen und französischen Ethnologie, nämlich der sogenannten inversen Ethnografie", erläutert Heike Behrend. "Das heißt, ich habe das Ganze systematisiert in dem Sinn, dass ich mich selbst zum Objekt der ethnografischen Forschung gemacht habe. Diejenigen, die ich eigentlich ethnographiert habe, die wurden zu Ethnografen, die mich beobachtet haben, mich beurteilt haben und meine Arbeit. Und das führt zu sehr wichtigen Schlussfolgerung einerseits und andererseits zu ganz wesentlichen Erschütterung des eigenen Selbstverständnisses und natürlich auch das der Wissenschaft."
Michael Hagner: "Foucaults Pendel und wir"
anlässlich einer Installation von Gerhard Richter
Verlag Walther König, März 2021
396 Seiten, 38 Euro
Die Jury lobt: "1851 hängt Léon Foucault ein Seil in eine Kirche – und demonstriert der Weltöffentlichkeit die Erdrotation. Von diesem Experiment und seiner Faszinationskraft bis heute erzählt Michael Hagner. Sein Essay bringt Kunst- und Wissenschaftsgeschichte anschaulich zum Funkeln."
Michael Hagner, Jahrgang 1960, ist Professor für Wissenschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Bekannt wurde er durch Arbeiten zur Geschichte der Hirnforschung, seither hatte er viele Veröffentlichungen, unter anderem "Die Lust am Buch". Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Akademiepreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Das sagt Michael Hagner über sein Buch:
Er habe untersuchen wollen, warum Foucaults Pendel bis heute eine solche Faszination ausübe, wo immer es installiert wird. Er sagt: "Ich versuche zu zeigen, wie dieses Pendel zugleich Natur und Kultur ist. Es ist Teil eines kosmischen Geschehens. Es ist nicht ein Modell des kosmischen Geschehens, sondern es ist kosmisches Geschehen. Das ist so faszinierend. Und gleichzeitig ist es Kultur, weil es eingebettet ist in diese philosophischen, ästhetischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts."
Er habe untersuchen wollen, warum Foucaults Pendel bis heute eine solche Faszination ausübe, wo immer es installiert wird. Er sagt: "Ich versuche zu zeigen, wie dieses Pendel zugleich Natur und Kultur ist. Es ist Teil eines kosmischen Geschehens. Es ist nicht ein Modell des kosmischen Geschehens, sondern es ist kosmisches Geschehen. Das ist so faszinierend. Und gleichzeitig ist es Kultur, weil es eingebettet ist in diese philosophischen, ästhetischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts."
Christoph Möllers: "Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik" (Hören Sie Christoph Möllers über Liberalismus im Gespräch mit René Aguigah)
Suhrkamp Verlag, September 2020
343 Seiten, 18 Euro
Die Jury lobt: "Aus den Widersprüchen des Liberalismus entwickelt Christoph Möllers eine originelle politische Theorie, eröffnet Wege, neu über Konflikte nachzudenken. In kurzen, oft aphoristisch zugespitzten Abschnitten entfaltet 'Freiheitsgrade' einen überwältigenden Gedankenreichtum."
Christoph Möllers, geboren 1969, lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität und ist Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er ist unter anderem Träger des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zuletzt erschien "Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität".
Der Autor sagt über sein Buch:
Liberalismus teile sich heute zwangsläufig in Linksliberalismus und Rechtsliberalismus, der Niedergang klassischer liberaler Parteien sei deshalb "nur konsequent", argumentiert er: "Wenn es gut läuft, dann wird das liberale Projekt in der Arbeitsteilung zwischen rechts und links aufgelöst. Nur wenn es schlecht läuft, dann hat man so etwas wie eine große liberale Bewegung. Das ist das französische Modell, das wir im Moment haben, wo wir sagen, dass die Mitte im Grunde die Partei ist. Dann hat man nicht mehr die Wahl innerhalb des liberalen, demokratischen Systems, sondern noch zwischen dem System und einem anderen System. Das ist in Frankreich so: Man kann Macron wählen und damit im Grunde die Republik. Oder man kann Links- oder Rechtsradikale wählen. Und damit ist die Stärke der liberalen Partei eigentlich Indiz der größten Krise der liberalen Ordnung."
Liberalismus teile sich heute zwangsläufig in Linksliberalismus und Rechtsliberalismus, der Niedergang klassischer liberaler Parteien sei deshalb "nur konsequent", argumentiert er: "Wenn es gut läuft, dann wird das liberale Projekt in der Arbeitsteilung zwischen rechts und links aufgelöst. Nur wenn es schlecht läuft, dann hat man so etwas wie eine große liberale Bewegung. Das ist das französische Modell, das wir im Moment haben, wo wir sagen, dass die Mitte im Grunde die Partei ist. Dann hat man nicht mehr die Wahl innerhalb des liberalen, demokratischen Systems, sondern noch zwischen dem System und einem anderen System. Das ist in Frankreich so: Man kann Macron wählen und damit im Grunde die Republik. Oder man kann Links- oder Rechtsradikale wählen. Und damit ist die Stärke der liberalen Partei eigentlich Indiz der größten Krise der liberalen Ordnung."
Uta Ruge: "Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang"
Verlag Antje Kunstmann, August 2020
477 Seiten, 28 Euro
Die Jury lobt: "Landwirtschaft und Landleben kommen im Kopf vieler Städter nurmehr als Biohof-Romantik vor. Auf Basis ihrer eigenen Familiengeschichte wirft Uta Ruge einen ungeschönten Blick auf den Strukturwandel der Branche. Ein kongenial aufklärendes und persönlich anrührendes Buch."
1953 auf Rügen geboren, wuchs Uta Ruge als Bauerntochter in einem norddeutschen Dorf auf, studierte Germanistik und Politik in Marburg und Berlin, arbeitete im Rotbuch Verlag und bei der taz. 1985 bis 1998 lebte sie als freie Rundfunkautorin und Mitarbeiterin der internationalen Zeitschrift Index-on-Censorship in London und lebt heute in Berlin. Im Kindler Verlag erschien bereits "Windland – Eine deutsche Familie auf Rügen".
1953 auf Rügen geboren, wuchs Uta Ruge als Bauerntochter in einem norddeutschen Dorf auf, studierte Germanistik und Politik in Marburg und Berlin, arbeitete im Rotbuch Verlag und bei der taz. 1985 bis 1998 lebte sie als freie Rundfunkautorin und Mitarbeiterin der internationalen Zeitschrift Index-on-Censorship in London und lebt heute in Berlin. Im Kindler Verlag erschien bereits "Windland – Eine deutsche Familie auf Rügen".
Die Autorin Uta Ruge über ihr Buch:
Vor allem eines störe viele der Bauern, mit denen sie gesprochen habe: "Es ist tatsächlich dieses gesellschaftliche Misstrauen, wie gründlich die Bauern in der Öffentlichkeit nicht als diejenigen mehr verstanden werden, die die Nahrungsmittel herstellen. Sondern indem sie die Nahrungsmittel herstellen, tun sie offenbar nur böse Dinge: Sie quälen die Tiere, sie vergiften den Boden und so weiter. Und gleichzeitig, dadurch, dass die Lebensmittel so ungemein billig sind, gibt es in Deutschland auch keine Wertschätzung der Lebensmittel mehr. Das hat sich offenbar durchgesetzt, dass auch keine Wertschätzung ihrer Arbeit mehr nötig ist. Und darüber sind sie wirklich ungemein irritiert und wie im Schockzustand."
Vor allem eines störe viele der Bauern, mit denen sie gesprochen habe: "Es ist tatsächlich dieses gesellschaftliche Misstrauen, wie gründlich die Bauern in der Öffentlichkeit nicht als diejenigen mehr verstanden werden, die die Nahrungsmittel herstellen. Sondern indem sie die Nahrungsmittel herstellen, tun sie offenbar nur böse Dinge: Sie quälen die Tiere, sie vergiften den Boden und so weiter. Und gleichzeitig, dadurch, dass die Lebensmittel so ungemein billig sind, gibt es in Deutschland auch keine Wertschätzung der Lebensmittel mehr. Das hat sich offenbar durchgesetzt, dass auch keine Wertschätzung ihrer Arbeit mehr nötig ist. Und darüber sind sie wirklich ungemein irritiert und wie im Schockzustand."
Dan Diner: "Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935 – 1942" (Rezension)
Deutsche Verlags-Anstalt, März 2021
352 Seiten, 34 Euro
Die Jury lobt: "In Palästina konkurrierten die zionistische Vision und die geopolitischen Interessen Großbritanniens. Diners dichte historische Beschreibung erzählt, wie der Zweite Weltkrieg dort gestoppt werden konnte, wodurch die Juden im Heiligen Land überlebten und das Empire zerfiel."
Dan Diner, geboren 1946 in München, lehrte Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und war Direktor des Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur. Heute ist er Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und Vorstand der Alfred Landecker Stiftung. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, des Mittleren Ostens, zur jüdischen und zur deutschen Geschichte.
Dan Diner über sein Buch:
Die Arbeit an dem Buch habe auch für ihn selbst eine Überraschung bereitgehalten, sagt der Historiker: "Ich wollte eigentlich noch weiterschreiben, und dann, beim nochmaligem Lesen, merkte ich, dass ich das Ende bereits verfasst hatte. Und das Ende ist ein paradoxes Ende, weil das Buch einem jüdisch-israelischen Selbstverständnis gegenüber eigentlich eine fremde Erzählung ist. Am Schluss stellte sich heraus, dass ich die Existenz oder die Legitimität Israels anders begründet habe, als dies normalerweise der Fall ist. Nämlich als eine Flüchtlingsnation. Und das hatte ich so vielleicht während des Schreibens noch nicht erwartet, dass es auch um ein Buch geht, dass sich einer großen und wichtigen Legitimitätsfrage stellt."
Die Arbeit an dem Buch habe auch für ihn selbst eine Überraschung bereitgehalten, sagt der Historiker: "Ich wollte eigentlich noch weiterschreiben, und dann, beim nochmaligem Lesen, merkte ich, dass ich das Ende bereits verfasst hatte. Und das Ende ist ein paradoxes Ende, weil das Buch einem jüdisch-israelischen Selbstverständnis gegenüber eigentlich eine fremde Erzählung ist. Am Schluss stellte sich heraus, dass ich die Existenz oder die Legitimität Israels anders begründet habe, als dies normalerweise der Fall ist. Nämlich als eine Flüchtlingsnation. Und das hatte ich so vielleicht während des Schreibens noch nicht erwartet, dass es auch um ein Buch geht, dass sich einer großen und wichtigen Legitimitätsfrage stellt."