Leipziger Eisenbahnstraße

Eine Frage der Perspektive

09:09 Minuten
Waffen verboten: Seit 2018 ist die Leipziger Eisenbahnstraße Waffenverbotszone.
Waffen verboten: Seit 2018 ist die Leipziger Eisenbahnstraße Waffenverbotszone. © imago / PicturePoint
Dmitrij Kapitelman im Gespräch mit Gesa Ufer |
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Die Leipziger Eisenbahnstraße gilt als Kriminalitätshotspot. Medien haben "die schlimmste Straße Deutschlands" ausgemacht. Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman wohnt hier und widmet seiner Straße nun eine einjährige Reportagereihe.
"Crimespot oder Multikulti-Wunderland?" titelt das ZDF, "die schlimmste Staße Deutschlands?" fragt Sat1. Für den Autoren und Journalisten Dmitrij Kapitelman ist es einfach nur "meine schrecklich nette Straße". Er lebt seit 2020 in der einzigen Straße in Leipzig, in der "Katze vermisst!"-Zettel in vier Sprachen ausgehängt würden, wie er sagt.
Dmitrij Kapitelmann kam im Alter von zehn Jahren nach Leipzig. Er könne sich nicht an den ersten Besuch der Eisenbahnstraße erinnern. "Ich kann mich aber auch nicht an Zeiten erinnern, in denen sie eine gute Reputation gehabt hätte."

Selbst in der DDR war die Straße berüchtigt

Selbst in der DDR sei die Straße eher verrufen gewesen und als Wohnort nicht sehr begehrt, sogenanntes „Rekonstruktionsgebiet“: "Obwohl es viele Betriebe gab und einen kleinen Boulevard."
Nach der Wende hätten sich dann im Umfeld Migranten angesiedelt. Im letzten Jahr zog auch er hierher.
Aber nicht, weil er Gefahrensucher sei. "Nein, ich hab es gern sicher und gut und warm", sagt der Schriftsteller. "Ich habe teurere Wohnungen in besseren Vierteln nicht gekriegt."

Die internationalste Straße Sachsens

Dmitrij Kapitelman erlebt die Straße ambivalent. Ja, sie sei Waffenverbotszone, "aber auch die internationalste Straße in Leipzig, vielleicht in ganz Sachsen".
Man könne Sender und Zeitungen dafür kritisieren, dass sie mit Superlativen kämen, "die die Straße für die nächsten 300 Jahre in Verruf bringen". Aber es sei auch nicht gänzlich aus der Luft gegriffen: "Es gibt Kriminalität, es gibt Probleme, es gibt Drogen."
Ebenso gebe es aber das Gegen-Narrativ, das auch stimme: "Wie schön der Falafel ist, wie nett der Gemüsehändler." Man könnte auch von den 80 Nationen erzählen, die dort gemeldet seien.
Doch dieses Narrativ stimme eben auch nicht so ganz: "Eigentlich kann man so einen Ort in den Medien gar nicht gerecht darstellen."

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Ein Angebot des Schweizer Magazins Reportagen hätte ihm dann einen Ausweg aus diesem Dilemma geboten. Ein Jahr lang berichtet der Schriftsteller nun immer wieder über die Straße.
Was die Straße für ihn ausmacht? Es gebe viele unerwartete Momente, sagt Kapitelman. Er habe zum Beispiel noch nie eine Straße erlebt, wo sich Menschen so bereitwillig grüßten.

"Viele Dinge sind so unkonventionell, fast unstandardisiert, darin liegt ja auch eine Art von Unschuld."

Dabei wisse er noch gar nicht genau, wie er sich seinen künftigen Geschichten nähern werde. "Alle klassischen Versuche, die ich bisher unternommen habe, waren doof."

"Wir sind in die Welt des anderen geplumpst"

Kapitelman setzt nun auf Begegnungen, die sich aus sich selbst ergeben, nicht auf klassische, journalistische Arbeitstechniken.
So sei er einmal verkatert mit drei Säcken Pfandflaschen die Straße entlang gegangen und mit den Augen bei einem Halal-Fleischer hängengeblieben, erzählt er. Der etwa 50-Jährige habe zurückgeschaut. "Wir sind in die Welt des anderen geplumpst.“
Drei Versuche habe er seither unternommen, den Mann zu interviewen. Er versuche, "so offen und neugierig wie möglich zu sein und nicht zu sehr in diesen journalistischen Blöcken zu denken." Dabei helfe, dass er vor Ort lebe:

"Ich bin manchmal nicht im Journalisten-Modus, sondern im verkaterten Flaschen-wegbring-Modus, und das ist produktiv."

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