Vom Osten in den Westen
Der Historiker Heinrich August Winkler ist der Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2016. Wie er in die Reihe der bisherigen Ausgezeichneten einzuordnen ist, darüber spricht Literatur-Redakteur René Aguigah. Deren Blick ging in Richtung Osten, Winklers in den Westen.
Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler ist am Mittwochabend zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse mit dem Preis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet worden. René Aguigah hat den Festakt und die Dankesrede im Gewandhaus verfolgt. Er beantwortete in der Sendung "Fazit" zunächst die Frage, ob dieser Preisträger in gewisser Weise aus dem bisherigen Rahmen der Auszeichnung fällt:
"Ich glaube, dass die Entscheidung heute, dieses Jahr, bei diesem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung ein bisschen anders ist als die Preisentscheidungen in den Jahren zuvor. Ich glaube nicht so sehr, dass der Unterschied ist 'Wissenschaftler ja oder nein', denn Historiker haben den Preis vor ein paar Jahren auch bekommen, Ian Kershaw für sein Buch '1945' und Timothy Snyder für sein Buch 'Bloodlands', das sich mit dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa beschäftigt hat. Aber all die Preise in den vergangenen Jahren waren entweder wirklich Stimmen der Anderen – von der Bundesrepublik aus betrachtet.
Im letzten Jahr war es Rumänien, Mircea Cărtărescu, der sich mit der Ceaucescu-Diktatur beschäftigt hat, oder eben Pankaj Mishra, der Inder. Oder es waren Bücher, die sich mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt haben.
In diesem Jahr ist mit Heinrich August Winkler ein Werk ausgezeichnet worden, das sich eher dreht um die Selbstverständigung des Westens mit sich selbst. Das Werk heißt 'Die Geschichte des Westens', also eine große Erzählung über das Abendland oder 'den Westen', wie Winkler das nennt. Beeindruckend epochale 4.500 Seiten, die tatsächlich von der Wiege bis zur Bahre oder einfach von den Anfängen bis zur Gegenwart die Geschichte des Westens erzählen.
Interessanterweise beginnt diese Erzählung eigentlich im alten Ägypten, und dieser Hinweis mag vielleicht schon darauf hindeuten, dass der Westen nicht nur im Westen, sondern eben auch in Arabien, in Ägypten seine Wurzeln hat."
Kein "deutsches Europa in der Asylpolitik"
Heinrich August Winkler sagte im Leipziger Gewandhaus in seiner Dankesrede:
"Um Anspruch und Wirklichkeit der westlichen Werte geht es auch in der Asyl- und Flüchtlingsfrage. Keine der westlichen Demokratien in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland kann die Probleme der Länder, aus denen Menschen in hellen Scharen flüchten, auf ihrem Territorium lösen.
Die westlichen Demokratien können die legale Einwanderung erleichtern und die Entwicklungshilfe anders, sowohl großzügiger als auch effektiver gestalten. Die Europäische Union muss gezielt jenen Ländern des Nahen Ostens helfen, die bei der Unterbringung und Versorgung von Bürgerkriegsflüchtlingen die Hauptlast tragen. Und alles tun, was in ihren Kräften steht, um den Friedensgesprächen über Syrien zum Erfolg zu verhelfen.
Die deutsche Forderung nach einer europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems, nach gemeinsamen Anstrengungen bei der Sicherung der Außengrenze und einer gerechten Verteilung der Schutzsuchenden ist wohlbegründet. Sie darf aber nicht in einer Form vorgetragen werden, die von unseren Nachbarn als selbstgerecht und anmaßend empfunden wird – als den Versuch, zumindest auf dem Gebiet der Asylpolitik ein deutsches Europa zu schaffen."
Die Werte des Westens als Richtschnur
Winklers aktuelle Stellungnahme füge sich unmittelbar ein in seine große Geschichte des Westens, sagte René Aguigah:
"Der vierte Band dieses Werks heißt tatsächlich 'Die Zeit der Gegenwart' und ragt bis ins Jahr 2014, bis zu Ereignissen wie der Ukraine-Krise und der Krim-Annexion durch Putin. Tatsächlich bewegt sich Heinrich August Winkler sowohl als politischer Intellektueller als auch als Historiker wirklich am Rand der Gegenwart. Insofern war das nur konsequent, dass er heute gerade in seiner Rede in Leipzig auch Stellung genommen hat zur Flüchtlingskrise.
Das Zweite ist, dass dieses ganze Werk bis hin in die Rede heute Abend die sogenannten Werte des Westens ins Zentrum stellt – Menschenrechte, Gewaltenteilung, Herrschaft des Rechts, repräsentative Demokratie. Diese Werte sind es, an denen Winkler in seinen historischen Werken die Praxis, die Politik des Westens misst, und auch in der Flüchtlingspolitik.
Da ist es nun aber so gewesen heute Abend, dass er da auch ein paar kontroverse Sachen noch angefügt hat: Vor allem dann doch ein Plädoyer dafür, dass die Bundesrepublik nicht einfach individuell ein Recht auf Asyl verheißt, sondern nach Maßgabe ihrer Aufnahme- und Integrationsfähigkeit Asylrecht zuspricht. Das ist ein wörtliches Zitat. Also nach Kräften des Staates, und das ist doch ein anderer Geist als der Geist des Artikels 16 des Grundgesetzes oder der Geist des 'Wir schaffen das'."
Winkler habe Applaus bekommen für jene Passagen, wo es darum geht, möglichst gastfreundlich zu sein, und daran lässt er keinen Zweifel, aber diese zwei Einschränkungen, die er gemacht hat, da gab es doch eher verhaltenen Applaus, sagte René Aguigah.
15.000 Euro Preisgeld
Im vergangenen Jahr erhielt den mit 15.000 Euro dotierten Preis der rumänische Autor Mircea Cărtărescu für seine "Orbitor"-Romantrilogie, die auch in der realen Hauptstadt Rumäniens, Bukarest, spielt. 2014 wurde der indische Publizist und Historiker Pankaj Mishra ausgezeichnet: für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens" zugesprochen, in dem er aus nicht-westlicher Perspektive die Suche asiatischer Intellektueller nach Antworten auf die Überwältigung durch den Westen analysiert.
Der Preisträger 2013 war der Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal für sein Werk "Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung", in dem er die Verfolgung und Ausgrenzung der Romvölker in Europa untersucht.