Leistungsgerechtigkeit als "Form der Entsolidarisierung"

Alex Demirovic im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft wolle den Begriff der Gerechtigkeit verwischen, sagte Alex Demirovic. Die Betonung einer Leistungsgerechtigkeit werde von vielen Menschen abgelehnt, weil sie zu einer immer stärkeren Umverteilung nach oben führe, so der Sozialwissenschaftler.
Matthias Hanselmann: Acht Gerechtigkeitsfragen stellt die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zurzeit in einer bundesweiten Kampagne, unter anderem auf Großplakaten in Bahnhöfen. Eine davon habe ich eben schon zitiert – hier noch eine: "Ist es gerecht, die Steuern zu erhöhen?" Antwort: "Nein, denn der Staat hat mehr Geld denn je, er gibt es nur für das Falsche aus." Diese Fragen kommen nicht etwa von der Linken, den Grünen, den Gewerkschaften oder der SPD, nein, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft INSM ist eine Lobbyorganisation, finanziert von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie. Man darf also durchaus, sagen wir mal, stutzig werden.

Schauen wir mal genauer hin: Da heißt es bei der INSM: "Zunächst kommen die offenen Märkte zur Wohlstandsgenerierung, und erst dann der Staat mit geringfügiger Umverteilung." Ich habe mit Alex Demiroviæ gesprochen, er ist Sozialwissenschaftler und unter anderem im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Herr Demirovic ist einer der Wissenschaftler, die an dem heute beginnenden Kongress zum Thema "Umverteilen, Macht, Gerechtigkeit" in Berlin teilnehmen. Meine erste Frage an ihn: Welche Auffassung von Gerechtigkeit vertritt diese Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft? Was steckt hinter diesen, sagen wir, marktliberalen Vorstellungen?

Alex Demirovic: Das ist ein mehrdimensionaler Gerechtigkeitsbegriff, der ja lange in der Diskussion ist. Man unterscheidet ja verschiedene Arten von Gerechtigkeit: soziale Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, und dann kann man auch von Leistungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit sprechen, und das ist das, insbesondere die letzten beiden, die die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in Anspruch nimmt, also Leistungs- und Chancengerechtigkeit. Und die Tücke liegt natürlich in der Suggestion, man fördert alle zu Beginn eines Wettlaufs, damit sie die gleichen Wettkampfchancen haben, und dann ist halt die Leistungsbereitschaft das, was zum Ziel führt.

Die Frage ist natürlich bei solchen Vorstellungen immer: Wie ist das? Ja, ich meine, im Sport gibt es dann einen ersten Platz, und so ist es ja eben auch in vielen wirtschaftlichen Bereichen, und das ist gewollt, dass es eben Leistungsantrieb gibt, gegen andere zu kämpfen, sodass der Beste sich durchsetzt. Aber damit sagt man, wenn man Chancen sagt, sagt man natürlich immer auch Risiken, und das schließt ein, dass viele diese Ziele nicht erreichen können. Das ist aber gewünscht, und die, die die Ziele nicht erreichen und hängen bleiben, die werden dann in der allerletzten Linie aufgefangen durch ein Minimum an staatlichen Hilfen, die so dosiert sein sollen, dass die Leute nicht aufhören zu kämpfen.

Hanselmann: Als ungerecht bezeichnet wird von der Initiative und ihr nahestehenden Politikern und Prominenten auch unser derzeitiges solidarisches Versicherungssystem. Was kritisieren die da?

Demirovic: Na, die kritisieren verschiedene Aspekte, einerseits wenn das Solidarsystem zu gut ausgestattet ist, behindert es genau genommen die Wettkampfmentalität, also die Bereitschaft, den Zwang, an einem Wettkampf teilzunehmen – Sie kennen ja dieses Bild von denen, die in der Hängematte liegen, und dann wird das ja auch durch die Boulevardpresse immer wieder gejagt, also die einzelnen Personen, die dann sich das Sozialsystem zunutze machen, und solche Mechanismen gibt es, und da kann man natürlich wirklich drauf genauer achten. Aber es ist auch gleichzeitig eine Form der Entsolidarisierung von Menschen, die es wirklich benötigen. Und dann gibt es da auch das Problem, dass gewünscht wird, dass man eben besondere Risikogruppen schafft, gute Risiken, schlechte Risiken. Und dass Menschen eben dann anfangen, stärker eigenverantwortlich tätig zu sein, und die Wahl haben, sich ihre Risikogruppe, mit der sie solidarisch sein wollen, selber zu suchen, das heißt ...

Hanselmann: Was wäre das zum Beispiel an einem konkreten Fall?

Demirovic: An einem konkreten Fall, also der drastische Fall, den wir ja haben, ist zum Beispiel Rauchen. Dass man sagt, ich gehe in eine Versicherung, indem die Zahl der Lungenkrebspatienten sehr gering ist, also eine Nichtraucher-Privatversicherung, wenn man so will, dann habe ich lauter gute Risiken, ja? Und das ist natürlich in einer gewissen Weise ... kann man dann Kosten sparen, ohne an die Folgen zu denken dieser Entsolidarisierung. Das ist jetzt natürlich ein krasses Beispiel, aber dann können Sie ja immer weiter rausdefinieren. Dann gehe ich in eine Versicherung, in der es keine schwangeren Frauen gibt, keine Alten gibt, keine Kleinkinder gibt, die dann gesundheitlich versorgt werden müssen, und so weiter. Und das ist eine Dynamik zu immer kleineren Risikogruppen, die sozusagen hochdosiert dann eben Risiken vermeiden, für die sie anderen gegenüber sich solidarisch verpflichten.

Hanselmann: Also das, was zunächst einleuchtend klingt, bedeutet letztlich eine Auflösung unseres Solidarsystems?

Demirovic: Genau, das ist im Äußersten, könnte man sagen – also wenn man es ganz hart und konsequent durchspielt, würde man am Ende sagen: Warum überhaupt versichern?

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Alex Demiroviæ über die Vorstellungen von marktliberaler Gerechtigkeit, wie sie unter anderem die Arbeitgeberinitiative neue soziale Marktwirtschaft bewirbt. Die INSM ist ein Think Tank, der ganz bestimmte politische Themen promotet und von Arbeitgeberseite finanziert wird. Diese Ideen und Vorstellungen, von denen wir eben gesprochen haben, von dieser neuen sozialen Marktwirtschaft, was würde denn ihre Umsetzung für den Einzelnen bedeuten? Was käme da auf uns zu?

Demirovic: Na ja, teilweise haben wir das ja schon, dass zum Beispiel die gesetzlichen Krankenkassen sozusagen abgewertet werden, dass Privatversicherungen, private Altersvorsorge stärker ausgebaut wird. Das hat ja genau den Hintergrund, solche Formen der Selbstvorsorge zu treffen, und es wird dann eben auch mit staatlichen Mitteln unterstützt, also steuerlich begünstigt, oder sogar mit Zulagen. Und das ist ja genau genommen schon ein Teil der Umsetzung, und der Streit ging ja auch jetzt in den letzten Jahren zum Beispiel dahin: Soll man eine Kopfpauschale stärken im Gesundheitsbereich, also eine stärkere Eigenbeteiligung, Eigenverantwortung mit einbeziehen? Soll man zum Beispiel im Bildungsbereich die Eigenverantwortung stärken, indem man einerseits Chancengleichheit schafft durch eine entsprechende bessere Schul- und Studienförderung, also Kindergartenplätze und so weiter. Aber dass man dann eben das auch wiederum mit Studiengebühren, also höheren Eigenbeiträgen zum Bildungsprozess dann begleitet. Ich meine, wir sind ja sozusagen mitten in dieser Diskussion, ja?

Hanselmann: Herr Demirovic, Sie nehmen teil am heute beginnenden Kongress "Umverteilen, Macht, Gerechtigkeit". Der Kongress wird von einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften, Stiftungen, Wohlfahrtsverbänden und verschiedenen linken Organisationen veranstaltet. Ursachen der Verteilungsprobleme sind dort ein wichtiges Thema. Wie wird denn auf diesem Kongress die Idee einer marktliberalen Gerechtigkeit, über die wir gerade gesprochen haben, behandelt werden, was wird ihr dort entgegengehalten?

Demirovic: Na ja, sicherlich geht es erst mal um ein Verständnis auch solcher Konzepte, es geht dann auch darum, einen Gegenbegriff der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit genauer zu erörtern. Und dann geht es um eine Bestandsaufnahme, wir haben ja eine gewaltige Umverteilung in den letzten Jahren erlebt durch eine Vielzahl von Maßnahmen steuerlicher Art oder durch die wirtschaftlichen Prozesse. Wir haben Verarmungsprozesse auf der einen Seite, wir haben einen Niedriglohnsektor, der immer sich weiter vergrößert hat.

Und auf der anderen Seite haben wir eine enorme Zunahme an Reichtum, selbst in der Wirtschaftskrise, seit 2008. Wenn man an wichtige Aktionäre in deutschen Unternehmen denkt, dann konnten ja Einzelne – aber eben Einzelne – ihre Vermögen von 6 auf 12, 13 Milliarden Euro oder mehr vergrößern. Selbst in der Zeit der schärfsten Krise, wo die Steuerzahler in die Haft genommen werden. Und diese Art von Mechanismen – es geht ja nicht darum, einzelne Personen da jetzt verantwortlich zu machen, sondern zu verstehen, wie sind diese Umverteilungsmechanismen organisiert oder verändert worden in den letzten Jahren, dass solche enormen Vermögenszuwächse, Reichtumsgewinne ermöglicht wurden.

Und das heißt, es setzt nicht nur an daran, dass man sagt, ja, okay, jetzt bräuchte man eine andere Art der Besteuerung, sondern auch, welche anderen Regeln – also Regelgerechtigkeit in dem Sinne – bräuchten wir, um solche weiteren Umverteilungen hin zu Vermögenden zu vermeiden und sogar auch Gegentrends einzuleiten, die tatsächlich auch die 50, 60 oder 70 Prozent derjenigen, die nur einen geringen Anteil an der gesellschaftlichen Wertschöpfung haben, auch wieder stärker zu begünstigen.

Hanselmann: Lassen Sie uns ganz kurz noch mal zurückkommen zu dieser Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die ja ganz klar aus dem konservativen Lager kommt, in so einer Art Camouflage aber so tut, als käme sie von links. Für wie schlagkräftig halten Sie diese Initiative?

Demirovic: Na ja, die Initiative selbst sagt ja ganz deutlich, dass viele Menschen in der Bundesrepublik diese Form von Gerechtigkeit, die die Initiative selbst vertritt, also Chancen-, Leistungsgerechtigkeit ablehnt, dass es sehr viel Kritik in der Bevölkerung an diesen Umverteilungen gibt, die nach oben gehen, und ich würde das eben so einschätzen, ich meine, seit der Krise gibt es da auch eine bestimmte Art von defensiver Haltung bei den Vertretern der Wirtschaft. Das ist auch der Versuch sozusagen, in der Öffentlichkeit Argumente zu entfalten, die unter dem Stichwort Gerechtigkeit dazu beiträgt, dass am Ende niemand mehr so richtig weiß, was ist denn eigentlich gerecht.

Hanselmann: "Umverteilen, Macht, Gerechtigkeit", so der Titel des Kongresses, der heute in Berlin beginnt. Einer der Referenten dort ist Alex Demirovic, mit dem ich gesprochen habe. Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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