War jeder Doper auch ein Dopingopfer?
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Viele Leistungssportler in der DDR wussten nichts von den negativen Folgen des Doping. Manche entschieden sich aber auch bewusst für die leistungssteigernden Mittel. Wer ist also Dopingopfer, wer Täter? Das ist im Rückblick nicht einfach zu entscheiden.
Thorsten Jabs: Im "Nachspiel" berichten wir regelmäßig über Doping in der DDR und die Aufarbeitung. Zum Beispiel haben wir vor Kurzem ein Porträt von Christian Schenk gesendet, dem Zehnkampf-Olympiasieger von 1988. Er hatte wissentliches Doping eingeräumt und erzählt, dass er mit den gesundheitlichen Folgen leben müsse.
Der Fall wirft einige exemplarische Fragen auf. War Christian Schenk Opfer oder Täter? Hat er Anspruch auf Hilfe, etwa durch den Dopingopferhilfeverein? Und lädt das Dopingopferhilfegesetz zum Betrug ein, wie es vier Antidopingkämpfer in einem Brief an den Sportausschuss des Bundestags schreiben? Fragen, über die ich mit dem Sportwissenschaftler und Historiker Hans-Joachim Teichler spreche, von 1994 bis 2011 Professor für Zeitgeschichte des Sports am Institut für Sportwissenschaft der Universität Potsdam. Guten Tag, Herr Teichler!
Hans-Joachim Teichler: Guten Tag, Herr Jabs!
Jabs: Herr Teichler, der Fall Christian Schenk wirft eine Grundsatzfrage auf: War der Olympiasieger im DDR-Staatsdopingsystem Opfer oder Täter oder vielleicht sogar beides?
Teichler: Vermutlich beides. Denn die Nebenwirkungen und die schädlichen Wirkungen des Dopings, die wurden ja damals verschwiegen. Aber Sportler haben nun mal die Eigenschaft, ihren sportlichen Erfolg über alles zu stellen und Bedenken gesundheitlicher Art hintanzustellen. Mancher Sportler gäbe fünf Jahre seines Lebens, um Olympiasieger zu werden. Das sagt er, wenn er 25 ist. Aber wenn er 55 ist, sieht das anders aus.
Also, es gab im DDR-Sport unterstützende Maßnahmen. Das ist ja schon diese verschleiernde Bezeichnung, die den Sportlern vorenthielt, was sie da bekamen. Wobei man da differenzieren muss: Es gab in manchen Verbänden, vor allen Dingen bei den jungen Schwimmerinnen – die wurden völlig im Ungewissen gelassen. Denen gab man angebliche Vitamingetränke. Bei den Sportlern selber, da bin ich mir im Zweifel. Denn ich habe in den Akten vielfach gefunden, dass die Sportler sich beschwerten: Derjenige kriegt mehr als ich, ich will auch so viel haben. Oder man hat immer wieder gefunden, dass es über das eigentliche Dopingprogramm hinausgehendes Doping aus Eigeninitiative gegeben hat. Und insofern bin ich da in der Frage Opfer - Täter sehr schwankend.
"Die Zahl 15.000 Dopingopfer kann ich nicht nachvollziehen"
Jabs: Können sich aus Ihrer Sicht frühere Sportler, die gewusst haben, dass sie gedopt wurden, ihrer Verantwortung dafür entziehen?
Teichler: Wenn sie es gewusst haben, kann man ihnen höchstens heutzutage noch konzedieren, dass man sie über die Nebenwirkungen des Dopings im Unklaren gelassen hat. Nur die Zahl, die heute kolportiert wird, 15.000 Dopingopfer, die kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wir haben ja damals eine Kaderanalyse gemacht über die Zahl der Spitzensportler. Und selbst, wenn man die anabole Frühphase ab 1966 dazuzählt, dann komme ich nicht über maximal 13.000 Doper. Und ob jeder Doper auch Dopingopfer ist, das wage ich zu bezweifeln.
Verzicht auf Doping bedeutete oft Ausdelegierung
Jabs: Jörn König sitzt für die AfD als Obmann im Sportausschuss des Bundestags. Er war in der DDR Leistungssportler, Schwimmer, und sagt, man hätte zum Dopen auch nein sagen können. Stimmt das? Hätte man wirklich nein sagen können? Wäre die Karriere dann nicht gleich vorbei gewesen?
Teichler: Wir kennen es ja aus dem Biathlon, dass dann oftmals eine Ausdelegierung erfolgt ist. Man musste dann schon auf Anerkennung, auf die Gratifikationen, die man hatte, verzichten. Es gab einige Sportler, bei denen es folgenlos geblieben ist. Bei der Mehrzahl der Sport-Fälle, die ich kenne, war der Verzicht und die Verweigerung des Dopings gleichbedeutend mit der Ausdelegierung aus dem Leistungssport. Das war natürlich eine schwierige Entscheidung. Dann fielen die Auslandsreisen weg, dann fiel die Berufsperspektive weg, die Studiengarantie weg. Und das war natürlich eine Entscheidung für einen jungen Sportler, die sehr viele Folgerungen hatte.
Jabs: Diskutiert wird ja auch darüber, wer Hilfe vom Staat bekommen soll, Stichwort Dopingopferhilfegesetz. Vielleicht erst einmal, von wie viel Geld reden wir da eigentlich?
Teichler: Meines Wissens sind es 10.500 Euro, die da maximal einem Dopingopfer zustehen.
Jabs: Und wer legt fest, wer Opfer ist?
Teichler: Ich habe mir das Verfahren mal angeschaut. Das ist ein Facharzt, ein beliebiger. Und da gerate ich natürlich ans Zweifeln. Ich glaube, das wäre schon sinnvoller, wenn das ein Expertengremium machen müsste. Denn ich meine – Entschuldigung, es gab 220 Sektionsärzte, 20 Verbandsärzte in der DDR, die das Doping gesteuert, begleitet und programmiert haben. Sind die jetzt noch vorhanden? Sind die jetzt auf einmal Experten für Opfer? Das erscheint mir ein bisschen zweifelhaft und ein bisschen naiv geregelt zu sein.
Dopingopfer werden bisweilen geächtet
Jabs: Was halten Sie von dem Vorwurf, dass das Dopingopferhilfegesetz zum Betrug einlädt? Sie haben ja eben selbst gesagt, vielleicht könnte man sich ja eigentlich irgendeinen Arzt suchen und sich als Dopingopfer hinstellen?
Teichler: Ich bin Historiker und kein Mediziner. Ich weiß von der sorgfältigen Arbeit von Berendonk und Franke, dass es fürchterliche Schädigungen vor allen Dingen bei Frauen gegeben hat. Und von der Seite will ich keinem Opfer seine Entschädigung wegnehmen. Nur, es kann natürlich nicht sein, dass heutzutage von 15.000 Dopingopfern geredet wird, wenn nach meinem Wissen zum Beispiel – das ist natürlich spekulativ, oder man müsste ein neues Forschungsprojekt angehen –, meines Wissens nach waren maximal 11.000 bis 13.000 Sportler, Leistungssportler in der DDR gedopt. Spitzer hat in seinem Buch 1998 die Zahl angegeben von 8000 bis 10.000 Dopern. Und natürlich sind nicht alle Doper anschließend Dopingopfer geworden.
Wobei, es gibt da natürlich eine graue Zahl im Hintergrund. Wenn ein DDR-Leistungssportler in seiner gesellschaftlichen Umgebung, in seiner Stadt, in seiner Mittelstadt, Kleinstadt – wenn der jetzt auf einmal sich als Dopingopfer bezeichnet, dann ist das praktisch eine nachträgliche Republikflucht. Dann wird er geächtet. Bisher war er anerkannter Olympiasieger, gesellschaftlich anerkanntes Mitglied der Gemeinde. Und da haben wir auch festgestellt in Interviews, dass sich einzelne durchaus als Opfer fühlen, sich aber wegen der gefürchteten gesellschaftlichen Ächtung nicht trauen, diesen Antrag zu stellen?
Jabs: Und was könnte da gemacht werden, dass sich solche Opfer vielleicht doch trauen würden?
Teichler: Inzwischen ist das ja weitgehend anonymisiert, und das wird ja auch nicht veröffentlicht. Insofern ist die gegenwärtige Regelung, mit Ausnahme des Einzelgutachtens durch einen beliebigen Facharzt schon eine vernünftige.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.