Disziplin, Drill und Gehorsam
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Sport in Japan ist bis heute geprägt von den Traditionen der Samurai. Schon bei Grundschülern kann sportlicher Erfolg über die spätere Karriere entscheiden. Rasuren als Bestrafung oder Essen bis zum Erbrechen gehören zu den disziplinarischen Maßnahmen.
Umekoji Park, Kyoto. Beim Tanzfestival Sakuyosa begrüßen die jungen Tänzerinnen und Tänzer das Publikum. Sakuyosa knüpft an den traditionellen japanischen Tanz an, genau wie die farbenfrohen Kostüme der Mädchen und Jungen. Der weitläufige Park ist gut gefüllt: Fast 70 Ensembles aus ganz Japan nehmen teil. Dazu kommt eine ansehnliche Zahl an Zuschauern. Während die erste Gruppe sich aufstellt, formiert sich schon die nächste hinter der Bühne. Deren Mitglieder applaudieren und feuern ihre Vorgänger an.
Höflichkeit, Respekt vor dem Gegner oder Konkurrenten, gutes Benehmen – all das sind Tugenden, die typisch sind für japanische Sportler und Sportfans - und Europäer schon mal verwirren: Applaus für den Gegner, und sogar freundliche Gesänge? In deutschen Stadien schwer vorstellbar, in Japan Alltag.
Die Traditionen der Samurai, des früheren japanischen Kriegeradels, wirken bis heute in Japan nach. Das Baseballnationalteam Japans zum Beispiel nennt sich "Samurai Japan", und knüpft an die alte Vorstellung vom Zweikampf an – unerbittlich, aber höflich. Mario Kumekawa:
"Auch in der feudalistischen Zeit haben Samurais so gegeneinander gekämpft. Trotzdem hat man sich selbst benannt: Hallo, ich bin Kumekawa aus der Präfektur Tochigi, ja, jetzt führen wir einen fairen Kampf. Das war Samurai-Kultur, und beim Baseball kann man eine solche Kultur wiederfinden, interpretieren Soziologen."
Mario Kumekawa ist Professor für Sprachphilosophie und ehemaliger Sportjournalist in Tokio. Er glaubt, dass Baseball auch deshalb so beliebt in Japan ist, weil es sich nahtlos mit japanischen Traditionen verbinden lässt: In der Art und Weise wie trainiert wird, finden sich Drill und Disziplin wieder.
Ein angehender Samurai wurde aber nicht nur in Kampfkunst, sondern auch in Musik und Poesie unterrichtet. Daran orientiert sich auch das moderne Japan. Sandra Saito:
"Also ich habe den Eindruck, das ist in Japan jetzt nicht nur im Kindergarten, sondern auch in der Schule, dass die halt eben doch Wert legen nicht nur auf akademische Unterrichtsinhalte sondern eben auch auf künstlerische und sportliche Elemente."
Sandra Saito ist Kunstkuratorin. Die deutsche Karateka lebt mit ihrer Familie in Tokio und kennt das japanische Erziehungssystem gut. Sie erzählt von kleinen Wettbewerben, die schon im Kindergarten stattfinden. In der Millionenmetropole ist Platz eigentlich Mangelware, aber die Kindergärten haben großzügige Spielhöfe mit viel Grün, damit die Kinder sich bewegen können. Dabei werden auch die Mütter mit eingebunden, die dann schon mal beim Hüpfwettbewerb mitmachen müssen.
Schon die Jüngsten lernen hier spielerisch, immer ihr Bestes zu geben – Disziplin eben:
"Ja, die Disziplin ist wie gesagt hier überall, in allen Lebenslagen präsent, ob das Schule ist, ob das Sport ist, ob das zu Hause ist, also man hat seine Pflichten. Und die Pflichten, das ist so ein Schlüsselwort, das im Grunde genommen die japanische Kultur ganz gut bezeichnet, Pflicht ist eine der wichtigsten Sachen im japanischen Dasein, ne."
Geringere Studiengebühren für gute Sportleistungen
Dazu kommt, dass Sport und Bildung in Japan auch eine ganz praktische Verbindung eingehen: Jede Universität, jede Ober- und Mittelschule hat Sportteams, die in nationalen Meisterschaften gegeneinander antreten. Insbesondere in den Nationalsportarten Baseball, Karate und Judo sind diese Meisterschaften von nationalem Interesse – die Schülermeisterschaften im Baseball werden sogar vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Japan übertragen, und haben viele Fans.
Das Bildungssystem in Japan ist von Konkurrenz geprägt – gute Universitäten kosten sehr viel Geld, und einige haben sehr schwierige Aufnahmeprüfungen. Die kann man als Sportskanone teilweise umgehen, erzählt Maja Sori Doval.
"Und das heißt vom System her, wenn jemand Talent hat oder ein gutes Vermögen, der geht dann im Prinzip an eine Mittelschule, die einen guten Club hat für die entsprechende Sportart, von dort geht es dann weiter an eine Oberschule und von dort aus an die Universität. Und in den meisten Fällen läuft das auch über Empfehlung. Das heißt, die Aufnahmeprüfung fällt dann weg, oder ist vielleicht ein bisschen erleichtert, oder die Studiengebühren sind ein bisschen günstiger."
Maja Sori Doval ist Sportdozentin an der Tsuda Universität in Tokio. Die deutsche Judoka lebt in Japan und kennt das Land seit der eigenen Studienzeit. Sie erklärt mir, dass der Besuch einer guten Universität über die Chancen auf dem Arbeitsmarkt entscheidet, und dass auch einige große Konzerne in Japan sich gezielt gute Sportler ins Haus holen. Die Universitäten unterhalten Verbindungen zu Schulen und teilweise schon zu Kindergärten, in denen die Leistungsträger der Zukunft erzogen werden. Die Auswahl unter den jungen Sportlern, zum Beispiel für Schul- oder Hochschulteams, beginnt schon im Grundschulalter.
Im Budoukan Saitama, eine halbe Stunde von Tokio entfernt findet das "National Invitational Junior Highschool Student"-Turnier statt, die Nationale Meisterschaft im Karate für die ersten und zweiten Jahrgänge der Mittelschule.
An diesem sonnigen Märztag sind über 1000 junge Karateka in der ehrwürdigen Halle versammelt. Der Katalog mit der peniblen Aufstellung der Kontrahenten und Informationen zum Turnier umfasst 120 Seiten.
Im Karate gibt es zwei Disziplinen, Kumite, den Zweikampf, und Kata, den Formenwettkampf. Dabei wird ein abstraktes Kampfgeschehen allein, gegen unsichtbare Gegner praktiziert.
Hideo Uchida, der leitende Kampfrichter, erklärt mir am Rande des Turniers die Einzel- und Besonderheiten. Die jungen Athleten hier sind 12 bis 14 Jahre alt, und die Halle ist gut gefüllt. Die Nerven der Kämpferinnen und Kämpfer liegen aus gutem Grund schon mal blank: Hier geht es nicht nur um die Ehre. Unter den Zuschauern sind wichtige offizielle Vertreter des Japanischen Karate-Verbandes, unübersehbar auf einer Ehrentribüne platziert. Außerdem halten hier auch Talentscouts von Oberschulen und Universitäten Ausschau nach Verstärkung für ihre jeweiligen Teams. Das wissen die jungen Sportler.
Es geht also auch mal ordentlich zur Sache – gut dass die kleinen Kämpfer neben den üblichen Schützern für Fäuste und Füße auch einen Helm tragen. Dieser lässt nur rund um die Augen einen kleinen Spalt frei, dadurch ist der ganze Kopf gut geschützt, inklusive Nase und Kiefer.
Die Kinder, die sich für diesen Wettkampf qualifiziert haben, fangen sehr früh mit dem Training an – und das auf einem ganz anderen Level als in Deutschland. Maja Sori Doval:
"Die trainieren dann vier-, fünfmal die Woche oder noch häufiger. Und dann ist auch eine Trainingseinheit zwei, drei Stunden lang. Wo man dann als Europäer sagen würde, das ist nicht kindgerecht, das widerspricht allen Grundlagen der Sportwissenschaft."
Sportdozentin Maja Sori Doval wägt die europäische gegen die japanische Sichtweise ab. Professor Mario Kumekawa sieht noch einen anderen kritischen Aspekt bei diesem zeitintensiven Training:
"Das ist auch ein großes Problem, weil, dann können die Schüler nicht so viel lernen. Zum Beispiel, Hausaufgaben auch nicht schaffen, deshalb, in Europa ist es nicht so selten, dass eine Sportelite gleichzeitig auch Elite für Wissenschaft sein kann, z.B. Professor Gunther Gebauer, bei dem ich arbeitete, in Berlin, war Olympiasieger und später Professor an der Uni! Eine solche Karriere ist in Japan unvorstellbar."
Denn die Eliteuniversitäten, die später den wissenschaftlichen Nachwuchs stellen, setzen natürlich ausschließlich auf akademische Leistung. Wer dort studiert, hat für sportliche Aktivitäten wenig Zeit.
Vier Tage die Woche Training für Hobbykicker
Für Noah Saito liegt die Universität noch in weiter Ferne. Sandra Saitos Sohn trainiert Fußball – an vier Tagen in der Woche. Dazu kommen am Wochenende noch Turniere oder Training, und mehrtägige Trainingslager. Da stehen die Jungs um sechs Uhr morgens auf, laufen zehn Kilometer und der Rest des Tages besteht aus Trainingseinheiten mit dem Ball, nur unterbrochen von Duschen und Essen. Abends gibt es dann noch ein kulturelles Begleitprogramm oder sie lernen für die Schule. Der FC Giusti Setagaya ist ein kleiner Stadtteil-Verein und betreut 13- bis 15-jährige Hobbykicker, nicht die A-Jugend!
"Also ich kenne kein Land in Europa, dass ähnliche Trainingseinheiten auf kleinem Stadtviertellevel durchzieht, 'ne, das würden die Jugendlichen wahrscheinlich auch sowieso gar nicht mitmachen, wenn sie nicht die Aussicht hätten, tatsächlich in einen großen Club aufzusteigen."
Das ist für die ganze Familie anstrengend. Und Pausen sind in diesem System rar: Auch in den Ferien wird das Programm durchgezogen. Privat organisierter Sport wie in diesem Fußballverein hat seinen Preis: Die Erstausstattung der jungen Fußballer ist zwar sehr umfassend, von den Socken bis zum Wintermantel, aber sie ist auch sehr teuer:
"Und das Ganze kostete dann glaube ich so ungefähr 800 oder 900 Euro, wenn ich mich recht erinnere. Und es gibt einen schönen Rucksack und einen Ball. Aber es ist so'n, es ist halt eben auch Standard, es gehört einfach dazu!"
Dieselbe Summe kommt dann zweimal im Jahr noch für die Trainingslager dazu – das sind rund 3000 Euro im Jahr. Wohlgemerkt für ein Training auf einem Ascheplatz, den die Jungs nach dem Training auch noch fegen müssen… Für Eltern in Japan, wie überhaupt in Ost-Asien, ist es selbstverständlich, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. Dazu gehört auch der Sport, der ja vielleicht auch später hilft, die Studiengebühren zumindest teilweise zu sparen.
Der japanische Staat unterstützt den Leistungs- aber auch den Breitensport – nicht nur mit Lippenbekenntnissen. In den größeren Städten hat jeder Stadtteil sein eigenes Sportzentrum. Das Minato-ku Sports Center Tokio zum Beispiel ist ein wuchtiges, acht Etagen umfassendes Haus. Sechs von den acht Etagen gehören dem Sport! Es gibt allein drei große Hallen, jeweils für unterschiedliche Kampfkünste eingerichtet – ein Traum für jeden Kampfsportler, der sonst auch in Tokio oft mit einer einfachen Schulturnhalle vorlieb nehmen muss.
"Also da gibt‘s all diese Möglichkeiten und da gibt’s dann auch natürlich kleine Gruppen die sich dort verabreden. Und das kommt dann vielleicht unserem Verein am nächsten. Das man eben sagt – okay wir trainieren jetzt einmal die Woche in dem und dem Sportzentrum. Und machen dort unser Training."
Im Minato-ku - Sportzentrum trainiert auch Sandra Saito. Sie schätzt diese Möglichkeit für Freizeitsportler, günstig trainieren zu können: Nach einer kostenlosen Anmeldung zahlen Mitglieder dort weniger als zwei Euro pro Kursteilnahme. Ein Teil der Unterhaltskosten wird aus diesen Mitgliedsbeiträgen bestritten. Den Rest trägt die Stadt. Sandra Saito:
"Aber da sieht man eben auch, dass Sport, wenn es von der Stadt organisiert ist, dann ist es subventioniert, 'ne, also man möchte dass die Leute Sport machen."
Die Ausbildung eines Samurai im alten Japan erfolgte mit rigiden Methoden. Körperliche Ertüchtigung und Abhärtung waren in der Vergangenheit oftmals eine Einheit. Geblieben von den alten Werten sind vor allem die Trainingsmethoden: Man setzt auf Drill. Das heißt nicht nur viel Training, sondern auch anderes Training. In Deutschland etwa versucht ein Trainer, seinen Schützlingen immer wieder verbal auf die Sprünge zu helfen. Maja Sori Doval:
"Während in Japan eigentlich die Ansicht vorherrscht, dass man nur durch Wiederholung die Bewegung sich aneignen kann. Also es wird dann eben dieselbe Bewegung 100 oder 1000 Mal gemacht, bis das dann ein Teil des Körpers wird. Also dieses instinktive sich aneignen, also das ist im Prinzip die japanische Trainingsmethode."
Essen bis zum Erbrechen
Das gilt auch für westliche Sportarten wie zum Beispiel Tischtennis. Wichtig ist in Japan der Respekt vor dem Lehrer – der wird nicht infrage gestellt. Und das gilt auch für den Trainer: Seine Anweisungen werden befolgt.
Für den jungen Fußballer Noah Saito ist das ganz klar:
"Man muss dann halt das machen, was er sagt."
Nachdem er und zwei seiner Fußballfreunde ein paar Mal nachlässig waren, griff der Trainer hart durch: Die ganze Mannschaft musste sich den Kopf kahl scheren lassen. Sandra Saito, die Mutter des Jungen, erzählt, was die Jugendlichen angestellt hatten:
"Noah hat teilweise zwei bis drei Minuten Verspätung gehabt, mehrmals, ein Freund von ihm hat irgendwelche Trikots – da sind ein oder zwei von abhanden gekommen, dann waren noch ein paar andere Sachen bei einem anderen Teamkollegen, die auch nicht so ganz gefluppt haben, und daraufhin musste sich dann die ganze Mannschaft den Kopf rasieren."
Den Kopf scheren als Disziplinarmaßnahme – wie da wohl Eltern in Deutschland reagieren würden? Sandra Saito lacht, als sie das erzählt. Sie nimmt es als neue Erfahrung – freiwillig hätte sie ihrem Sohn die Haare nicht so kurz geschnitten. Sie denkt, dass die Disziplin, die ihre Kinder in Japan mitbekommen, vielleicht auch ihr Gutes hat. Denn: Der Trainer kümmert sich auch um Belange neben dem Sport – wie zum Beispiel Schulangelegenheiten.
"Die Trainer sind sehr engagiert. Also man muss das auch mal bewundern, weil ich denke nicht, dass das groß finanziell ausgeglichen wird. Aber die sind da wirklich mit Leib und Seele dabei, und kümmern sich nicht nur um die Fußballlaufbahn der, ja, der Mitglieder, sondern auch, dass sie eben in die richtige Schule kommen, dass es auch schulisch läuft. Senn sie schulische Probleme haben, können sie sich an den Trainer wenden, und der schaut dann, ob er irgendwie was machen kann, organisieren kann oder selbst Nachhilfe gibt. Also da ist auch schon sehr viel Fürsorge mit dabei."
Auch das ist Tradition: Wer das Sagen hat, hat auch die Pflicht, sich um die Schutzbefohlenen zu kümmern. Auch im modernen Japan möchte man gerne siegen, und vor allem in den ureigenen Disziplinen Judo und Karate auf den vorderen Plätzen landen. Aber man möchte auch im sportlichen Wettkampf die traditionellen Werte erhalten – es geht nicht nur darum, Tore oder Punkte zu erzielen. Sportdozentin Maja Sori Doval:
"In Japan wird nach wie vor viel Wert darauf gelegt, dass es eben als Erziehungskonzept gilt, als traditionelles Budo. Und dass dann im Wettkampf selber, innerhalb der Regeln, versucht wird, diese Werte hoch zu halten."
Zwischen Tradition und Moderne gibt es auch im Sport ein ganz eigenes Miteinander in Japan. Das führt nicht immer zu den besten Ergebnissen aus moderner, westlicher Sicht. Aber Sportwissenschaft ist eben nicht alles. Jedenfalls nicht in Japan. Maja Sori Doval:
"Aber trotzdem, wenn man sich das Training selber dann anguckt, das sind dann doch viele traditionelle Konzepte und die Art und Weise, wie das Training gemacht wird, das ist zum Beispiel das, was wir vielleicht vor 20 Jahren gemacht hätten. Das zum Beispiel die geistige Stärke oder der Durchhaltewille mehr zählt als zum Beispiel ein athletisches Training, was dem Körper angemessen wird."
Trotzdem: Wenn es um den Spitzensport geht, zählt auch in Japan vor allem das Ergebnis.
Für die Olympischen Sommerspiele in Peking 2008 wurde der Leistungssportsektor zum Teil umorganisiert, zum Beispiel wurde der Schwimmsport zentralisiert. Und das mit Erfolg – immerhin landeten japanische Athleten in Peking auf annehmbaren Plätzen. Auch Erkenntnisse aus der Ernährungswissenschaft nimmt man sehr ernst, sogar in dem kleinen Fußballverein FC Giusti Setagaya. Sandra Saito:
"Und die Angst, dass das Kind nicht genug Kalorien bekommt, ist so groß, dass man also wirklich darauf besteht, dass zumindest zwei bis drei Schüsseln aufgegessen werden, und selbst wenn es dem Kind schon grün im Gesicht steht, muss die Schüssel dann doch noch rein, 'ne."
Der Junge hat sich nach der Mahlzeit übergeben müssen, aber wenn der Trainer sagt, das wird gegessen, dann wird das gegessen. Was die Nachwuchskicker an Nährstoffen brauchen, ist akribisch erarbeitet worden. Beim FC Giusti Setagaya werden die Eltern per Informationsabend instruiert, wie die jungen Fußballer auch zu Hause ernährt werden müssen, damit sie sich optimal entwickeln. Asiaten sind meistens klein und zierlich gebaut – sie haben dadurch Nachteile gegenüber den größeren und schwereren Athleten aus Europa oder Amerika. Dem Problem begegnet man in Japan – mit dem Rückgriff auf die Tradition. Mario Kumekawa:
"Beim Schwimmen forschen Trainer, um europäische oder traditionelle japanische Weise zu verbinden. Weil Japaner viel kleiner sind – und weniger Muskeln haben."
Japanische Wissenschaftler versuchen seit langer Zeit bewusst, eigene, traditionelle Bewegungskonzepte wieder zu entdecken und zu nutzen. Davon hat schon die Olympiasiegerin im Marathon 2000, Naoko Takahashi, profitiert. Sie hat eine Mischung aus dem westlichen Laufstil und den Bewegungen aus der japanischen Tradition kreiert. Der Vorteil der traditionellen Art der Bewegung ist eine größere Ausdauer. Damit versucht man, den Größenunterschied zu den Europäern wett zu machen. Auch die traditionellen japanischen Kampfkünste verändern sich. Maja Sori Doval beschreibt, wie sich Judo entwickelt hat, seitdem es olympische Disziplin geworden ist. Dort geht es in die entgegengesetzte Richtung:
"Es sind Techniken weggefallen, die früher drin waren. Zum Beispiel dürfen jetzt keine Techniken mehr gemacht werden, wo die Beine gegriffen werden, oder es muss also immer aktiv angegriffen werden. Einfach um das Ganze vom Ringen ein bisschen abzugrenzen. Und dann einfach, dass es schneller Bestrafungen gibt, wird eben mehr eine Art des aggressiven Kämpfens gefördert, dass es eben für die Zuschauer interessanter ist."
Die Koexistenz von Alt und Neu, Tradition und Moderne prägt auch den Sport in Japan. Baseball wird japanisch interpretiert und Judo wird athletischer. Auch im Karate hat sich die Art und Weise des Kampfs geändert: Es wird mehr getänzelt, und seitdem hohe Tritte zum Kopf des Gegners die Höchstpunktzahl bekommen, sieht man solche Angriffe häufiger. Das gleiche gilt auch für Wurftechniken. Und das verändert diesen Sport.
Veränderungen im Bildungswesen
Veränderungen deuten sich auch in der Gesellschaft an: Die japanische High-School soll reformiert werden, und für einkommensschwache Haushalte soll eine "Bildungskostenhilfe" eingeführt werden. Im Fremdsprachenunterricht hat sich schon einiges geändert, weiß Maja Sori Doval:
"Also es wird durchaus jetzt mehr Wert auf Kommunikation im Unterricht gelegt. Also es gibt neue Lehrkonzepte. Es sind natürlich auch ganz viele Muttersprachler als Lehrkräfte an den Schulen, die das Ganze unterstützen, aber das ganze System ist ja doch sehr auf das Bestehen von Prüfungen ausgerichtet, weniger auf Kommunizieren oder Alltagstauglichkeit."
Das System des "Einpaukens" von abfragbarem Wissen soll modernisiert werden. Bis die Veränderungen greifen, wird aber noch einige Zeit ins Land gehen.
Mario Kumekawa sieht auch im Sport Bedarf an Veränderung: Er denkt, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß sei, nur auf den Medaillenspiegel zu schauen. Er war ursprünglich gegen die Veranstaltung der Sommerspiele im nächsten Jahr in Tokio und denkt nun darüber nach, was der Sinn der Olympischen Spiele heute sein könnte.
"Aber jetzt kann man das Projekt nicht mehr stoppen, deshalb denke ich jetzt, man sollte die Olympiade möglichst sinnvoll machen. Und deshalb, gehöre ich jetzt zum Beispiel dem sogenannten Supporter-Club für die Paralympics an – die Spiele für Behinderte, dabei gibt es viel zu tun."
Mario Kumekawa wählt seine Worte mit Bedacht. Als Sprachphilosoph beschäftigt ihn, dass die japanischen Begriffe rund um Sportler mit Handicap die Idee nahe legen, die Betroffenen hätten etwas verloren oder seien von der Sache weiter entfernt als die anderen Menschen. Das lehnt er entschieden ab. Er will versuchen, diese Auffassung mit seiner Arbeit zu verändern und damit auch den Umgang mit Menschen, die ein körperliches Handicap haben. Das ist eine Aufgabe, die sicher nicht in kurzer Zeit gelingen kann: Das "System Samurai" zielt auf Effizienz. Andere Werte als gleichrangig zu etablieren erfordert Geduld und Mut.
Aber vielleicht hat er ja Erfolg und die olympischen Sommerspiele in Tokio 2020 leiten ein Umdenken ein.