Leiterin des Internats Schloss Salem: Kinder nicht mit Wissen vollstopfen
Sie halte nichts davon, Kindern schon früh möglichst viel Wissen zu vermitteln, sagt Eva-Maria Haberfellner, Leiterin des Internats Schloss Salem. Eine starke Persönlichkeit sei für Kinder und Jugendliche später viel wichtiger, als einzelne Dinge besonders gut zu können.
Dieter Kassel: In fünf Bundesländern in Deutschland sind die Sommerferien bereits vorbei, heute zum Beispiel war der erste Schultag in Sachsen und das bedeutet dort - und wird natürlich sehr bald in den anderen elf Ländern auch bedeuten - der Alltag ist wieder da. Der schulische Alltag für Schülerinnen und Schüler, für Eltern und für Lehrerinnen und Lehrer. Längst liegen die Probleme dieses Alltags nicht mehr in dem Zusammenarbeiten und Zusammenleben von Schülern und Lehrern, sondern auch von Lehrern und Eltern. Die Eltern machen den Lehrern manchmal größeres Kopfzerbrechen als die Schüler. Entsprechende Erfahrung hat offenbar auch Eva-Maria Haberfellner, sie ist die Leiterin der Internatsschule Schloss Salem und sie hat mal in einem Interview so einen Nebensatz gesagt: Na ja, eigentlich wünsche ich mir inzwischen eine Schule für Eltern. Wie sie das gemeint hat und wie die aussehen könnte, das wollen wir jetzt mit ihr besprechen. Schönen guten Tag, Frau Haberfellner!
Eva-Maria Haberfellner: Ich wünsche auch einen guten Tag vom Bodensee!
Kassel: Wenn wir uns mal – Sie haben das ironisch gemeint, aber wenn wir uns mal sehr praktisch vorstellen, Sie hätten diese Möglichkeit - sei es in Salem oder irgendwo anders - eine Schule für Eltern aufzubauen, was müsste an dieser Schule denn unbedingt unterrichtet werden?
Haberfellner: Erstens würde ich gern das Wort noch ein bisschen korrigieren und zwar in dem Sinne, wie ich es verstanden habe: Und zwar in eine Erziehungspartnerschaft mit den Eltern, die aus meiner Sicht immer wichtiger wird, weil die Eltern einerseits überehrgeizig sind und die Kinder versuchen, in möglichst viele Extrakurrikulare oder auch nachhilferische Tätigkeiten, Aktivitäten zu pressen, und andererseits zu wenig machen. Also das beides – Bildungsehrgeiz und Bildungsvernachlässigung – ist natürlich auch ein Thema in Salem.
Kassel: Haben Sie denn den Eindruck – um noch mal trotzdem darauf zurückzukommen –, dass die Eltern es ja immer gut meinen? Immer gut meinen bedeutet doch für viele Eltern und vielleicht auch für den ein oder anderen Schüler, es muss immer das Beste sein. Ist das nicht für Sie manchmal sehr schwer zu vermitteln, dass das Beste für einen individuellen Menschen nicht zwangsläufig die beste Uni der Welt oder etwas Ähnliches sein muss, sondern dass das vielleicht manchmal sogar genau die falsche Entscheidung sein kann?
Haberfellner: Da haben Sie völlig recht, das ist mit eine der schwierigsten Aufgaben einer sogenannten Erziehungspartnerschaft, auch den Eltern klarzumachen, man hat ja hier ein zweistufiges System: Man kann den Bachelor an einer Institution machen und dann einen Masterstudiengang an einer anderen und damit hat man als Schüler noch nichts verloren. Und die wirkliche Entscheidung geschieht ja dann erst im Leben. Aber das ist sicherlich für viele Eltern, die heute auch Ängste haben, Ängste, man könnte dem Kind nicht das Beste bieten, und deshalb schießen sie oft über das Ziel hinaus. Deshalb glauben sie, man muss sie unbedingt schon mit vier Jahren mit einem sehr guten Englisch versehen, sie müssen Physik und Mathematik verstehen. Das alles wird derzeit glaube ich auch ein bisschen ausgenützt von manchen Institutionen, die von den Ängsten der Eltern profitieren. Man muss genau auf das Kind achten und achten, dass es genügend Zeit hat, auch Fantasie zu entwickeln, Fantasie, die ganz wichtig ist, auch um die Gehirnstrukturen zu entwickeln, und nicht es von Anfang an schon mit Wissen vollzustopfen.
Kassel: Hat das, was Sie gerade beschrieben haben, diese Angst der Eltern, dieser Druck, der auf Eltern lastet und an Kinder weitergegeben wird, auch zur Folge, dass Eltern oft nicht mehr geduldig sind, wenn Kinder an den sogenannten Nebenfächern Interesse haben? Es wird ja immer bei uns jetzt über Chinesisch mit vier, über frühkindliches Englisch geredet und recht wenig darüber, wie wichtig Musikunterricht sein kann ... Gut, ich meine, ein Instrument lernen mit drei kommt auch vor, aber wie wichtig Musikunterricht sein kann, Kunst, meinetwegen vielleicht auch Religion und viele Fächer, die dann so für den großen Notenspiegel vielleicht gar nicht so wichtig sind?
Haberfellner: Ich sehe aber, dass es für die Persönlichkeitsentwicklung ganz entscheidend ist, welche dieser Aktivitäten auch ein Kind zusätzlich wählt. Theaterspielen ist eine wunderbare Gelegenheit, hier Persönlichkeit zu entwickeln, Musikinstrumente oder auch Sport oder was auch immer. Es kommt wirklich auf das Kind drauf an und ich muss immer etwas schmunzeln, wenn mich dann die Eltern von unseren ostasiatischen Schülern anrufen und ich ihnen erzähle, wie wunderbar sie im Internat im Zirkus mitgewirkt haben, und die wollen das alle gar nicht wissen. Die wollen nur eines wissen: Was ist die Note meines Kindes in Mathematik oder in Physik oder in Chemie? Und das muss ich immer mit großer Schwierigkeit auch denen versuchen auszureden und sagen: Ihr Kind hat uns wirklich in der Aufführung jetzt eines griechischen Stückes unglaublich begeistert, wo es in griechischer Sprache oder lateinischer Sprache einen schwierigen Text gemeistert hat! Das sind die wichtigen Dinge, die auch für das Leben stärken, und das will ich den Eltern soweit es geht beibringen.
Kassel: Wir haben vorhin gesagt, dass diese Angst, die Eltern haben, dieser Druck, den sie spüren, dass der ausgenutzt wird auch von einigen Institutionen. Was meinen Sie damit, vielleicht zum Teil auch andere Schulen, die auch mit immer ausgebuffteren Konzepten um eine bestimmte Klientel werben?
Haberfellner: Das ist sicherlich auch eine Marketingstrategie, dass man sagt, hier wird Ihr Kind jetzt schon perfekt Englisch lernen und Mathematik, und die Eltern glauben, hier für das Kind etwas sehr Gutes zu tun, was aber nicht immer wirklich das Richtige ist für das Kind. Und das heißt also, dass diese Institutionen – ich will das nicht verallgemeinern, es gibt sehr gute Institutionen, auch bei denjenigen ... –, aber man sollte als Eltern wirklich einmal ganz genau sich mit dem Kind auch beraten: Was möchtest du machen? Und vielleicht auch dann noch mal mit dem Kind in so eine Schule gehen, einmal probieren, wie es sich dort zurechtfindet, ob es das mag oder ob es das nicht mag. Das genaue Hinhören auf das Kind, was das Kind will, das müssen die Eltern glaube ich zum Teil noch besser lernen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Eva-Maria Haberfellner, sie ist die Leiterin der Internatsschule Schloss Salem und wir reden über die Zusammenarbeit, die gelungene, manchmal weniger gelungene, zwischen Lehrern, Schülern und vor allem Eltern. Was Sie vorhin gesagt haben, Frau Haberfellner, dieses Beispiel mit dem Theaterspielen, dass Eltern oft sagen wir mal Mathematik und Physik viel wichtiger finden als die Theatergruppe, das ist ja in der Tendenz gar nicht so neu. Es gibt ja 1000 Künstlerbiografien, wo die Künstler dann erzählen, dass ihre Eltern sie aber vorher noch gezwungen haben, Bankkaufmann zu werden, bevor sie dann den ersten Roman schreiben durften. Das ist ja ein altes Ding, dass man das immer für eine brotlose Kunst hält, aber hat sich trotzdem durch diesen Druck, den Sie schon erwähnt haben, noch was verändert, was die Eltern-Lehrer-Beziehung angeht?
Haberfellner: Ja, ich spreche aber hier nicht von zukünftigen Künstlern, ich spreche einfach von denjenigen, die eine Schule auch dazu benutzen, sich in ihrer Persönlichkeit zu verstärken. Weil wir alle nicht wissen, was in 20 Jahren auf uns zukommt, wird es viel wichtiger sein, die Persönlichkeit gestärkt zu haben, als einzelne spezifische Dinge sehr gut zu können. Das ist meine Botschaft und davon gehe ich auch aus, weil ich nämlich glaube, dass man während eines Lebens – jedenfalls werden die Schüler von heute noch sehr oft umlernen müssen, sehr viele neue Dinge lernen müssen, um sich hier wirklich zurechtzufinden. Und diese Möglichkeit, diese Offenheit und auch die Stärke, das zu tun, das möchte ich ihnen mitgeben und sie nicht mit vier Jahren mit Dingen vielleicht konfrontieren, die sie zum Teil überfordern. Ich habe nichts dagegen, dass man in der Kita Englisch unterrichtet und das also auch mit den Kindern macht und ihnen auch die Möglichkeit gibt, aber vielleicht wirklich nur den Kindern, die das auch wirklich brauchen und wollen. Und jede Entwicklung des Kindes ist individuell, deshalb bin ich sehr skeptisch für diese allgemeinen Grundsätze, wir sollen dies oder das machen. Wir müssen uns wirklich Zeit nehmen, Kinder ganz individuell zu betrachten. Und dass vielleicht auch Jungen und Mädchen unterschiedliche Entwicklungsphasen haben, das ist ein alter Hut, werden Sie mir sagen, das weiß ich auch, aber ich habe täglich damit zu tun.
Kassel: Spielt dieser Druck – ich will jetzt nicht ständig das Wort Druck nehmen, aber diese Vorstellung, die Eltern oft haben: Mein Kind muss von allem, was es kriegt, immer das Beste kriegen –, spielt dabei auch eine Rolle, dass halt doch im Vergleich zu früher wir heute häufiger Einzelkinder haben, dass manchmal für Eltern so ein Kind nicht einfach nur ein Kind ist, sondern so eine Art Projekt?
Haberfellner: Ja, also wir haben ja derzeit eine Tendenz, dass praktisch 30 Prozent – manchmal sogar mehr in gewissen Städten – der Kinder Einzelkinder sind. Und deshalb ist die Gemeinschaft für die Kinder umso wichtiger. Ich sehe, wie glücklich unsere Achtklässler sind, sich mit den Elfern zu messen, und das gibt ihnen auch Mut und Kraft, ich möchte gern so werden wie der Helfer in der Elfer, der also sich im Feuerwehrdienst so gut bewährt hat. Leider können Einzelkinder das oft nicht erleben und deshalb glaube ich müssen wir hier etwas tun, was mit Sicherheit sehr viele Bildungsexperten fordern: Das ist für mich die Einführung der Ganztagsschule und zwar einer wirklichen Ganztagsschule mit den Möglichkeiten, nachmittags sich individuell mit Dingen zu beschäftigen, die mich selbst fördern. Und ich glaube auch, dass man in den Kitas diesen Weg gehen müsste. Flächendeckende Kitas halte ich ebenso für notwendig. Und das würde glaube ich viele Ängste der Eltern auch nehmen. Wenn sie die Gewissheit haben, mein Kind kriegt in der Schule das, was es braucht, was es für nötig hält, und es kriegt das in einer Form, wie es auch kindgerecht ist. Und das glaube ich ist mein großes Petitum an alle Politiker, Einführung einer Ganztagsschule und flächendeckende Kitas, wo auch eine Ganztagsbetreuung möglich ist.
Kassel: Jetzt haben wir so viel darüber geredet, was passiert, wenn Eltern sich vielleicht ein bisschen zu viel Gedanken machen, zu viel Sorgen, sich vielleicht manchmal auch zu viel einmischen. Wie ist es mit dem Gegenteil? Ich könnte mir vorstellen, gerade da Sie ja ein Internat leiten, dass es manchmal auch Eltern gibt, die ankommen, sagen: Hier, nehmen Sie meinen Sohn, nehmen Sie meine Tochter, bilden Sie die jetzt ein paar Jahre aus, aber rufen Sie mich nicht an in der Zeit, ich will damit nichts zu tun haben. Ist dieses Desinteresse auch manchmal ein Problem?
Haberfellner: Also, so stark, wie Sie es formulieren, rufen sie mich nicht an, habe ich das noch nicht erlebt ...
Kassel: ... ich neige zu Übertreibungen ...
Haberfellner: ... , aber ich weiß natürlich auch: In der Art, wie sich Eltern oft verhalten, wie sie mit dem Kind umgehen, ob sie einen sehr engen Kontakt mit der Schule wünschen oder ob sie diesen Kontakt, wo sie sagen, also ich bin so beschäftigt, ich bin in China und ich hab ja so wenig Zeit, nicht so sehr wünschen ... Also, wir versuchen, mit allen Eltern Kontakt aufzunehmen und auch den Kontakt zu halten. Wir sind keine Verwahranstalt und auch Eltern, die hier vorgeben, wenig Zeit zu haben, werden von mir angerufen und kontaktiert und befragt und über den Fortschritt des Kindes informiert.
Kassel: Sagt Eva-Maria Haberfellner, sie ist die Leiterin der Internatsschule Schloss Salem. Mit ihr haben wir geredet über Kinder, Lehrer und deren Eltern. Frau Haberfellner, ich danke Ihnen für das Gespräch und ich wünsche Ihnen viel Erfolg, aber wann immer möglich auch viel Freude mit den Schülern und deren Eltern.
Eva-Maria Haberfellner: Ich wünsche auch einen guten Tag vom Bodensee!
Kassel: Wenn wir uns mal – Sie haben das ironisch gemeint, aber wenn wir uns mal sehr praktisch vorstellen, Sie hätten diese Möglichkeit - sei es in Salem oder irgendwo anders - eine Schule für Eltern aufzubauen, was müsste an dieser Schule denn unbedingt unterrichtet werden?
Haberfellner: Erstens würde ich gern das Wort noch ein bisschen korrigieren und zwar in dem Sinne, wie ich es verstanden habe: Und zwar in eine Erziehungspartnerschaft mit den Eltern, die aus meiner Sicht immer wichtiger wird, weil die Eltern einerseits überehrgeizig sind und die Kinder versuchen, in möglichst viele Extrakurrikulare oder auch nachhilferische Tätigkeiten, Aktivitäten zu pressen, und andererseits zu wenig machen. Also das beides – Bildungsehrgeiz und Bildungsvernachlässigung – ist natürlich auch ein Thema in Salem.
Kassel: Haben Sie denn den Eindruck – um noch mal trotzdem darauf zurückzukommen –, dass die Eltern es ja immer gut meinen? Immer gut meinen bedeutet doch für viele Eltern und vielleicht auch für den ein oder anderen Schüler, es muss immer das Beste sein. Ist das nicht für Sie manchmal sehr schwer zu vermitteln, dass das Beste für einen individuellen Menschen nicht zwangsläufig die beste Uni der Welt oder etwas Ähnliches sein muss, sondern dass das vielleicht manchmal sogar genau die falsche Entscheidung sein kann?
Haberfellner: Da haben Sie völlig recht, das ist mit eine der schwierigsten Aufgaben einer sogenannten Erziehungspartnerschaft, auch den Eltern klarzumachen, man hat ja hier ein zweistufiges System: Man kann den Bachelor an einer Institution machen und dann einen Masterstudiengang an einer anderen und damit hat man als Schüler noch nichts verloren. Und die wirkliche Entscheidung geschieht ja dann erst im Leben. Aber das ist sicherlich für viele Eltern, die heute auch Ängste haben, Ängste, man könnte dem Kind nicht das Beste bieten, und deshalb schießen sie oft über das Ziel hinaus. Deshalb glauben sie, man muss sie unbedingt schon mit vier Jahren mit einem sehr guten Englisch versehen, sie müssen Physik und Mathematik verstehen. Das alles wird derzeit glaube ich auch ein bisschen ausgenützt von manchen Institutionen, die von den Ängsten der Eltern profitieren. Man muss genau auf das Kind achten und achten, dass es genügend Zeit hat, auch Fantasie zu entwickeln, Fantasie, die ganz wichtig ist, auch um die Gehirnstrukturen zu entwickeln, und nicht es von Anfang an schon mit Wissen vollzustopfen.
Kassel: Hat das, was Sie gerade beschrieben haben, diese Angst der Eltern, dieser Druck, der auf Eltern lastet und an Kinder weitergegeben wird, auch zur Folge, dass Eltern oft nicht mehr geduldig sind, wenn Kinder an den sogenannten Nebenfächern Interesse haben? Es wird ja immer bei uns jetzt über Chinesisch mit vier, über frühkindliches Englisch geredet und recht wenig darüber, wie wichtig Musikunterricht sein kann ... Gut, ich meine, ein Instrument lernen mit drei kommt auch vor, aber wie wichtig Musikunterricht sein kann, Kunst, meinetwegen vielleicht auch Religion und viele Fächer, die dann so für den großen Notenspiegel vielleicht gar nicht so wichtig sind?
Haberfellner: Ich sehe aber, dass es für die Persönlichkeitsentwicklung ganz entscheidend ist, welche dieser Aktivitäten auch ein Kind zusätzlich wählt. Theaterspielen ist eine wunderbare Gelegenheit, hier Persönlichkeit zu entwickeln, Musikinstrumente oder auch Sport oder was auch immer. Es kommt wirklich auf das Kind drauf an und ich muss immer etwas schmunzeln, wenn mich dann die Eltern von unseren ostasiatischen Schülern anrufen und ich ihnen erzähle, wie wunderbar sie im Internat im Zirkus mitgewirkt haben, und die wollen das alle gar nicht wissen. Die wollen nur eines wissen: Was ist die Note meines Kindes in Mathematik oder in Physik oder in Chemie? Und das muss ich immer mit großer Schwierigkeit auch denen versuchen auszureden und sagen: Ihr Kind hat uns wirklich in der Aufführung jetzt eines griechischen Stückes unglaublich begeistert, wo es in griechischer Sprache oder lateinischer Sprache einen schwierigen Text gemeistert hat! Das sind die wichtigen Dinge, die auch für das Leben stärken, und das will ich den Eltern soweit es geht beibringen.
Kassel: Wir haben vorhin gesagt, dass diese Angst, die Eltern haben, dieser Druck, den sie spüren, dass der ausgenutzt wird auch von einigen Institutionen. Was meinen Sie damit, vielleicht zum Teil auch andere Schulen, die auch mit immer ausgebuffteren Konzepten um eine bestimmte Klientel werben?
Haberfellner: Das ist sicherlich auch eine Marketingstrategie, dass man sagt, hier wird Ihr Kind jetzt schon perfekt Englisch lernen und Mathematik, und die Eltern glauben, hier für das Kind etwas sehr Gutes zu tun, was aber nicht immer wirklich das Richtige ist für das Kind. Und das heißt also, dass diese Institutionen – ich will das nicht verallgemeinern, es gibt sehr gute Institutionen, auch bei denjenigen ... –, aber man sollte als Eltern wirklich einmal ganz genau sich mit dem Kind auch beraten: Was möchtest du machen? Und vielleicht auch dann noch mal mit dem Kind in so eine Schule gehen, einmal probieren, wie es sich dort zurechtfindet, ob es das mag oder ob es das nicht mag. Das genaue Hinhören auf das Kind, was das Kind will, das müssen die Eltern glaube ich zum Teil noch besser lernen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Eva-Maria Haberfellner, sie ist die Leiterin der Internatsschule Schloss Salem und wir reden über die Zusammenarbeit, die gelungene, manchmal weniger gelungene, zwischen Lehrern, Schülern und vor allem Eltern. Was Sie vorhin gesagt haben, Frau Haberfellner, dieses Beispiel mit dem Theaterspielen, dass Eltern oft sagen wir mal Mathematik und Physik viel wichtiger finden als die Theatergruppe, das ist ja in der Tendenz gar nicht so neu. Es gibt ja 1000 Künstlerbiografien, wo die Künstler dann erzählen, dass ihre Eltern sie aber vorher noch gezwungen haben, Bankkaufmann zu werden, bevor sie dann den ersten Roman schreiben durften. Das ist ja ein altes Ding, dass man das immer für eine brotlose Kunst hält, aber hat sich trotzdem durch diesen Druck, den Sie schon erwähnt haben, noch was verändert, was die Eltern-Lehrer-Beziehung angeht?
Haberfellner: Ja, ich spreche aber hier nicht von zukünftigen Künstlern, ich spreche einfach von denjenigen, die eine Schule auch dazu benutzen, sich in ihrer Persönlichkeit zu verstärken. Weil wir alle nicht wissen, was in 20 Jahren auf uns zukommt, wird es viel wichtiger sein, die Persönlichkeit gestärkt zu haben, als einzelne spezifische Dinge sehr gut zu können. Das ist meine Botschaft und davon gehe ich auch aus, weil ich nämlich glaube, dass man während eines Lebens – jedenfalls werden die Schüler von heute noch sehr oft umlernen müssen, sehr viele neue Dinge lernen müssen, um sich hier wirklich zurechtzufinden. Und diese Möglichkeit, diese Offenheit und auch die Stärke, das zu tun, das möchte ich ihnen mitgeben und sie nicht mit vier Jahren mit Dingen vielleicht konfrontieren, die sie zum Teil überfordern. Ich habe nichts dagegen, dass man in der Kita Englisch unterrichtet und das also auch mit den Kindern macht und ihnen auch die Möglichkeit gibt, aber vielleicht wirklich nur den Kindern, die das auch wirklich brauchen und wollen. Und jede Entwicklung des Kindes ist individuell, deshalb bin ich sehr skeptisch für diese allgemeinen Grundsätze, wir sollen dies oder das machen. Wir müssen uns wirklich Zeit nehmen, Kinder ganz individuell zu betrachten. Und dass vielleicht auch Jungen und Mädchen unterschiedliche Entwicklungsphasen haben, das ist ein alter Hut, werden Sie mir sagen, das weiß ich auch, aber ich habe täglich damit zu tun.
Kassel: Spielt dieser Druck – ich will jetzt nicht ständig das Wort Druck nehmen, aber diese Vorstellung, die Eltern oft haben: Mein Kind muss von allem, was es kriegt, immer das Beste kriegen –, spielt dabei auch eine Rolle, dass halt doch im Vergleich zu früher wir heute häufiger Einzelkinder haben, dass manchmal für Eltern so ein Kind nicht einfach nur ein Kind ist, sondern so eine Art Projekt?
Haberfellner: Ja, also wir haben ja derzeit eine Tendenz, dass praktisch 30 Prozent – manchmal sogar mehr in gewissen Städten – der Kinder Einzelkinder sind. Und deshalb ist die Gemeinschaft für die Kinder umso wichtiger. Ich sehe, wie glücklich unsere Achtklässler sind, sich mit den Elfern zu messen, und das gibt ihnen auch Mut und Kraft, ich möchte gern so werden wie der Helfer in der Elfer, der also sich im Feuerwehrdienst so gut bewährt hat. Leider können Einzelkinder das oft nicht erleben und deshalb glaube ich müssen wir hier etwas tun, was mit Sicherheit sehr viele Bildungsexperten fordern: Das ist für mich die Einführung der Ganztagsschule und zwar einer wirklichen Ganztagsschule mit den Möglichkeiten, nachmittags sich individuell mit Dingen zu beschäftigen, die mich selbst fördern. Und ich glaube auch, dass man in den Kitas diesen Weg gehen müsste. Flächendeckende Kitas halte ich ebenso für notwendig. Und das würde glaube ich viele Ängste der Eltern auch nehmen. Wenn sie die Gewissheit haben, mein Kind kriegt in der Schule das, was es braucht, was es für nötig hält, und es kriegt das in einer Form, wie es auch kindgerecht ist. Und das glaube ich ist mein großes Petitum an alle Politiker, Einführung einer Ganztagsschule und flächendeckende Kitas, wo auch eine Ganztagsbetreuung möglich ist.
Kassel: Jetzt haben wir so viel darüber geredet, was passiert, wenn Eltern sich vielleicht ein bisschen zu viel Gedanken machen, zu viel Sorgen, sich vielleicht manchmal auch zu viel einmischen. Wie ist es mit dem Gegenteil? Ich könnte mir vorstellen, gerade da Sie ja ein Internat leiten, dass es manchmal auch Eltern gibt, die ankommen, sagen: Hier, nehmen Sie meinen Sohn, nehmen Sie meine Tochter, bilden Sie die jetzt ein paar Jahre aus, aber rufen Sie mich nicht an in der Zeit, ich will damit nichts zu tun haben. Ist dieses Desinteresse auch manchmal ein Problem?
Haberfellner: Also, so stark, wie Sie es formulieren, rufen sie mich nicht an, habe ich das noch nicht erlebt ...
Kassel: ... ich neige zu Übertreibungen ...
Haberfellner: ... , aber ich weiß natürlich auch: In der Art, wie sich Eltern oft verhalten, wie sie mit dem Kind umgehen, ob sie einen sehr engen Kontakt mit der Schule wünschen oder ob sie diesen Kontakt, wo sie sagen, also ich bin so beschäftigt, ich bin in China und ich hab ja so wenig Zeit, nicht so sehr wünschen ... Also, wir versuchen, mit allen Eltern Kontakt aufzunehmen und auch den Kontakt zu halten. Wir sind keine Verwahranstalt und auch Eltern, die hier vorgeben, wenig Zeit zu haben, werden von mir angerufen und kontaktiert und befragt und über den Fortschritt des Kindes informiert.
Kassel: Sagt Eva-Maria Haberfellner, sie ist die Leiterin der Internatsschule Schloss Salem. Mit ihr haben wir geredet über Kinder, Lehrer und deren Eltern. Frau Haberfellner, ich danke Ihnen für das Gespräch und ich wünsche Ihnen viel Erfolg, aber wann immer möglich auch viel Freude mit den Schülern und deren Eltern.