Woran erkennt man einen Schulamokläufer?
Juristen, Forensiker, Psychologen und Soziologen analysieren seit einigen Jahren School Shootings wie die Amokläufe in Erfurt 2002 oder Winnenden 2009. Erste Ergebnisse sind in einen Katalog eingeflossen, nach dem Krisenpräventionsteams an einigen deutschen Schulen bereits arbeiten.
"Die Lehrer waren alle gegen uns!" / "Du hast einfach zu viel gefehlt."
Oberstufenzentrum Gastgewerbe in Berlin, Haus Darßer Straße. Ein moderner, großzügiger Backsteinbau, Teil einer der größten Berufsschulen Deutschlands. Insgesamt lernen hier fast 5000 Schüler zwischen 16 und 20 Jahren. Auch Ismail und Ali gehörten bisher dazu. Aber:
"... die beiden sind gerade von der Schule geflogen. Sie haben die Probezeit nicht geschafft."
Krisengespräch im Büro von Kerstin Zenker. Die stellvertretende Leiterin der Abteilung Berufsvorbereitung, nimmt sich Zeit – erklärt, begründet, bespricht mit den jungen Männern andere Wege zum Berufsabschluss.
"Wir sitzen jetzt da und reden! Ganz ruhig! Dass das geht, ja, das ist nicht selbstverständlich…"
Noch vor wenigen Jahren herrschte hier ein anderer Ton.
Kerstin Zenker: "Als ich meinen Job angenommen habe, direkt am zweiten Tag, gab‘s ne Schlägerei im Flur, bei der auch ein Lehrer geschlagen wurde, das LKA stand bei uns vor der Tür, es war nur Hysterie und ich war verantwortlich. Und da hab ich beschlossen: Das geht nicht."
Konflikte mit Lehrern – so zeigt eine Studie der Freien Universität Berlin – spielen eine wesentliche Rolle, wenn Schüler Amok laufen. In Deutschland noch stärker als etwa in den USA. Bisher war die Forschung davon ausgegangen, dass in erster Linie soziale Ausgrenzung und Mobbing durch Mitschüler sogenannte School Shootings erklären können.
Vincenz Leuschner wertet an der Freien Universität im Projekt TARGET zusammen mit Kollegen schwere Gewalttaten von Schülern aus 13 Ländern aus – anhand von Videos, Zeugnissen, Briefen, Gerichtsakten:
"... ja für die Akten gelten natürlich sehr starke Sicherheitsvorkehrungen…"
Forschung: Von der Geburt bis zur Tat
Er öffnet einen Stahlschrank.
"Hier haben wir zum Beispiel die Akten von einem dieser Hauptfälle, die wir mit analysieren. Das ist sehr viel Material."
Alle Informationen zu einem Täter und dessen Umfeld, erklärt der Entwicklungspsychologe, arbeiten die Forscher auf einem Zeitstrahl auf.
"Von Geburt an bis zur Tat. Um uns dann anzuschauen: ab welchem Zeitpunkt verändert sich das Verhalten des Täters, um daraus bestimmte Wendepunkte in der Biografie herauszuarbeiten, auf diese Weise die Vorfeldentwicklung zu modellieren."
TARGET greift dabei auch auf Erkenntnisse aus einem Vorgängerprojekt zurück – dem 2009 gestarteten Network Against School Shooting, NETWASS. Nach den Amokläufen von Winnenden und Ansbach sollte es ein Amok-Früherkennungssystem für Schulen entwickeln: Warnsignale identifizieren und Lehrer sensibilisieren, diese wahr- und ernst zu nehmen.
Auch Karin Zenker und ihre Kollegen werden von NETWASS unterstützt, als sie nach der Schlägerei beschließen, systematisch gegen Gewalt an ihrer Schule vorzugehen.
"Dass es gar nicht erst dazu kommt. Und da muss man Kriterien haben wie: Wie finde ich die Menschen heraus? Und da kam uns NETWASS sehr gelegen, einzustufen, wann ist es notwendig, sich um einen Schüler oder eine Schülerin intensiver zu kümmern."
Vincenz Leuschner: "Zum einen hat man das, was man als Drohung bezeichnet, dass jemand sagt: Euch wird was passieren, ich werde die Schule in die Luft sprengen. Und das zweite sind Symptome, zum Beispiel dass sich Schüler stark für vorangegangene Schoolshootings interessieren, sich stark mit Waffen beschäftigen, teilweise in ihrem Erscheinungsbild sich verändern, nur noch in schwarz herumzulaufen und so weiter und so fort."
Im Rahmen der NETWASS-Schulungen richten Karin Zenker und ihre Kollegen spezielle Krisenteams ein, entwickeln Handlungsabläufe für Krisenfälle, benennen Ansprechpartner. Und merken trotzdem recht schnell: Für die praktische Präventionsarbeit hilft so ein Katalog mit Merkmalen potenzieller Schul-Amokläufer wenig.
Anzeichen sind sehr unspezifisch
"Und das ist auch die große Schwierigkeit, dass wir zwar wissen, aus der Fallanalyse, dass das in allen Fällen im Vorfeld stattgefunden hat, diese Anzeichen aber sehr unspezifisch sind. Und viele normale Veränderungen, die ein Jugendlicher in der Altersphase durchmacht, ähnliche Auswirkungen haben. Insofern sind wir auch davon weggekommen, darin ein Bedrohungsmuster zu erkennen, sondern wir sagen: insgesamt gibt es jugendliche Krisen in dieser Altersphase – und es ist wichtig, dass Lehrer darauf reagieren."
Fast alle Schul-Amokläufer haben den jüngsten TARGET-Forschungen zufolge tatsächlich soziale Ausgrenzung erlebt. Aber: Nur knapp ein Drittel wurde physisch gemobbt, einige waren selbst Mobbing-Täter. Fast die Hälfte hatte Freunde und war viel weniger isoliert, als lange angenommen. In 43 Prozent der Fälle fühlten sich die Täter von ihren Lehrern ungerecht behandelt, knapp ein Drittel hatte vor der Tat schlicht: Liebeskummer.
Vincenz Leuschner legt die Akten zurück in den Stahlschrank. Ja, es gebe Gemeinsamkeiten in Charakteren und Biografien von Schulamokläufern. Aber: nein, die Ursache für die Taten seien diese nicht. Vergleicht man Schoolshootings mit anderen Formen von Jugendgewalt – was mit dem TARGET-Projekt weltweit zum ersten Mal geschieht – stelle sich etwa heraus:
"In den Vorfeldaktivitäten handeln Schulamokläufer ähnlich wie radikalisierte rechte Jugendliche oder Islamisten. Wir können nicht sagen, ob das hinterher in Gewalt mündet oder Selbstmord oder psychischer Krise. Aber wir wissen: wenn wir früh intervenieren, dann können wir den Entwicklungsverlauf beeinflussen."
Am Oberstufenzentrum Gastgewerbe öffnet Karin Zenker einen Ordner. Den Leitfaden zur Krisenprävention.
"Das hier sind die Anzeichen: Mobbing, Leistungsdruck, aggressives Verhalten, Einhalten von Regeln. Da legen wir Wert drauf, dass Regeln eingehalten werden…"
Aufmerksamkeit, Rücksicht, ein respektvoller Umgangston. Vermeintliche Kleinigkeiten. Fällt jemandem etwas auf, das ihm Sorgen bereitet, wird darüber gesprochen. Sofort. Mit allen Beteiligten, Schülern wie Lehrern. Nicht, um einen potenziellen Gewalttäter zu identifizieren. Sondern um einen jungen Menschen ins Leben zu begleiten.