Lejla Kalamujić: "Nennt mich Esteban", Erzählungen
Aus dem Bosnischen von Marie-Luise Alpermann
eta Verlag, Berlin 2020
120 Seiten, 17,90 Euro
Eine literarische Suche nach der verstorbenen Mutter
05:40 Minuten
Lejla Kalamujić ist eine der wichtigsten Stimmen der jungen bosnischen Literatur. Ihr Erzählband "Nennt mich Esteban" wagt sich an große Themen: Depression, Trauer und den Verlust einer Mutter. Erstaunlich, wie leicht und lebendig sich das liest.
"In meinem Leben gibt es keine Erinnerung an die Mutter. Sie ist nur eine Geschichte, die heilige Geschichte von der Schöpfung, vom intimen Urbeginn. Meine Altersgenossen bekamen vor dem Einschlafen Märchen zu hören, ich dagegen habe den Geschichten über sie gelauscht. Über ihren Tod sprach man leise", schreibt die bosnische Autorin Lejla Kalamujić auf der ersten Seite ihres Erzählbands "Nennt mich Esteban".
Im Alter von zwei Jahren verliert die Erzählerin, die ebenfalls Lejla heißt – die autofiktionale Protagonistin – ihre noch junge Mutter Snežana. Der Vater ist überfordert von dem Verlust und beginnt zu trinken. So ist er physisch anwesend, aber nicht involviert in das Leben seiner Tochter. Sie wächst bei ihren beiden Großelternpaaren im Bosnien der 1980er-Jahre auf. Eine liebevolle Konstellation, die durch den Krieg durchbrochen wird: Während die bosnisch-muslimischen Großeltern in Sarajevo bleiben, ziehen die serbischen auf das Land. Lejla lebt mal bei den einen, dann bei den anderen. Nach der Schule studiert sie in Sarajevo Philosophie und Literaturwissenschaft und lernt ihre Freundin Naida kennen.
Über die Veränderungen durch den Krieg
Fragmentarisch erzählt Lejla Kalamujić in den 22 kurzen Geschichten von Familie, Freundinnen, aber auch von Depression, von Trauer, Verlustängsten oder fiktiven Unterhaltungen mit bereits verstorbenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Franz Kafka oder Elizabeth Bishop, deren Werke und Leben ihr etwas bedeuten, teilweise auch Trost spenden.
Sie versucht, sich ihre Mutter zu erschreiben, protokolliert schon als Kind alles, was sie über diese erfährt. In der Geschichte "Hätte ich dich getroffen" stellt sie sich einen Tag mit der Mutter vor. Lejla berichtet ihr von den Veränderungen durch den Krieg, dass drei ihrer Großeltern gestorben sind und ihr Vater wieder geheiratet hat. Ein anschaulicher Charakter entsteht durch dieses Heranschreiben und Imaginieren der Mutter nicht. "Ich werde in dem Bewusstsein groß, dass in mir ein unbekanntes Nichts wohnt. Du bist ein offenes Notizheft. Unbeschrieben", heißt es in der letzten Kurzgeschichte "Snežanas Lied".
Mit Leichtigkeit von Tod und Liebe erzählen
Schwer oder von Trauer durchzogen aber liest sich der 120 Seiten schmale Prosaband nicht. In meist kurzen, einfach gebauten und klaren Sätzen erzählt Lejla plastisch und lebendig: Zum Beispiel davon, wie sie als Kinder Soldaten ärgern, wie sie mit 30 Jahren gemeinsam mit ihrer Partnerin Naida vor dem Grab ihrer Mutter steht und beide einen Lachanfall bekommen, nachdem Lejla erzählt, dass die Großeltern im Winter immer eine Folie um den Grabstein gewickelt haben, damit die kalte Jahreszeit dem Stein nicht schadet.
In Bosnien ist Lejla Kalamujić eine der bedeutenden Stimmen der gegenwärtigen Literatur. Bereits 2015 ist "Nennt mich Esteban" dort erschienen, im Jahr darauf war das Buch für den Literaturpreis der Europäischen Union nominiert. Die Autorin schreibt Prosa und Drama, ist auch als Essayistin tätig und ist eine wichtige Stimme der LGBQT-Community in Bosnien.
Dass nach fünf Jahren nun endlich "Nennt mich Esteban" auf Deutsch erschienen ist, ist der Übersetzerin Marie-Luise Alpermann zu verdanken, die den Erzählband in Teilen übertragen und dem eta Verlag angeboten hat. Ein wahrer Gewinn für die hiesige Literaturlandschaft, schafft es Lejla Kalamujić in ihrem zweiten Erzählband doch, mit wenigen Worten eine Welt zu erspinnen, die geradezu leicht daherkommt und dabei von den großen menschlichen Themen handelt – Tod und Liebe.