Lena Gorelik: "Wer wir sind". Roman
Rowohlt Verlag, Berlin 2021
320 Seiten, 22 Euro
Zwischen Assimilation und Ablehnung
17:59 Minuten
Es ist ihre Geschichte, die in "Wer wir sind" berichtet wird, sagt Lena Gorelik. Das Schreiben sei "ein Friedenschließen mit schmerzhaften Momenten" gewesen: Ein russisches Mädchen wächst in Deutschland auf, erlebt Fremdheit, Verzweiflung und Scham.
Ein elfjähriges Mädchen, das seine Eltern beim Packen von neun Koffern beobachtet, den geliebten Hund zurücklassen muss und den Zug in Richtung Deutschland besteigt – wer Lena Gorelik fragt, was an dieser Episode autobiografisch ist, bekommt eine erfrischend direkte Antwort. "Ich verstecke mich mal nicht dahinter, dass es eine literarische Figur ist", sagt die 1981 in St. Petersburg geborene Schriftstellerin, "es ist meine Geschichte, aber es ist trotzdem ein Roman." Aber auch von ihren Eltern und Großeltern wird in "Wer wir sind" erzählt; es ist eine Geschichte über Fremdheit, Verzweiflung, Scham und schließlich Mitgefühl.
Lange Zeit habe sie sich gefragt, ob sie von der Auswanderung und der schwierigen Ankunft ihrer Familie in Deutschland überhaupt erzählen dürfe. "Immer wieder habe ich beschlossen, diesen Roman nicht zu schreiben, es war ein Kampf mit mir selbst, aber der Roman kam wie ein Stehaufmännchen zurück", berichtet die in München lebende Autorin. Erst als ihre Eltern das ausgedruckte, aber lange nicht abgeschickte Manuskript gelesen hatten und unerwartet positiv, ja sogar zu Tränen gerührt reagierten, sei sie bereit gewesen, das Buch zu veröffentlichen.
Die Erinnerungen warteten
Die Kunst des Romanschreibens besteht für Lena Gorelik nicht darin, einen besonderen Plot zu "erfinden", sondern eine Form, eine Haltung und eine Perspektive für die Details der Erinnerung zu entwickeln. Beim Schreiben entsteht für sie erst das Verständnis für die Vergangenheit: "Es war, als würden die Dinge warten. Es war ein langsames Verstehen und ein Friedenschließen mit den schmerzhaften Momenten". Denn die Jugendliche, die Lena Gorelik in den 90er-Jahren war, empfand noch keine Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in die sie eingewandert war.
In Deutschland habe sie lange zwischen dem Wunsch nach "totaler Assimilation" und totaler Ablehnung der neuen Umgebung geschwankt. Dazu kam die Distanzierung von den Eltern, die sich schwertaten mit der fremden Sprache und der deutschen Bürokratie sowie mit der Tatsache, dass ihre beruflichen Qualifikationen als wertlos erachtet wurden. "Ich will nicht zu den Ausländern gehören", war Lena Goreliks Vorsatz, "dann kam das Mitleid und erst viel später kam so eine Stärke, dass ich mich schützend vor meine Eltern stellen und für sie einstehen konnte."
Die Machtlosigkeit der Eltern führte zu einem Rollentausch, der die Tochter aufgrund ihrer schnell erlernten Sprachbeherrschung in die mächtigere Position brachte. Erst in dem Moment, als der Roman fertig geschrieben war, konnte Lena Gorelik endlich wieder in die Position des Kindes wechseln – und zwar, als sie sich beim Schlittenfahren die Nase brach und ihrer Mutter davon am Telefon erzählen wollte. "Das hätte ich zu einem anderen Zeitpunkt nicht gemacht – da kam dieses kindliche Ich zurück."
(cre)