Der Perkussionist an der Gitarre
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Auf seinem neuen Album erhebt Brasiliens bekanntester Singer-Song-Writer, Lenine, seine Stimme gegen den Staatschef Bolsonaro, den manche als "Trump Brasiliens" bezeichnen. Doch neben herber Kritik herrscht auf dem Album auch Ratlosigkeit.
Sein kommunistisch gesinnter Vater nannte ihn Lenine – in Gedenken an den russischen Revolutionär Lenin. Sein vollständiger Name lautet Osvaldo Lenine Macedo Pimentel, Jahrgang 1959. Der Singer-Song-Writer gilt als einer der abwechslungsreichsten Künstler der brasilianischen Musikwelt. 2002 erhielt er unter anderem den Latin Grammy.
Lenines neues Album heißt "Em Transito", im Song "mu Intolerância" schreibt Lenine über die Intoleranz. Sie ist im Song eine entschlossene, durchaus ambivalente Frau, ohne Wenn und Aber, vor der man sich hüten muss. Poetisch verblümt und doch konkret, gar kämpferisch in ihrer Aussage sind Lenines mal sanftmütig-zärtliche, mal ruppigere Lieder von jeher.
Lenine sagt dazu: "Ich denke so! Ich möchte, dass die Leute, auch wenn es nur zwei Prozent meines Publikum sind, nachdem sie mich live erlebt haben, mit mir gesungen, getanzt haben, sagen: Mann, der Typ spricht von Dingen, die wichtig sind. Und das mitnehmen und ihr eigenes Leben überdenken. Denn bei mir war das immer so: Musik hat mir die Möglichkeit einer bessern Zukunftsoption veranschaulicht. Vielleicht bin ich zu romantisch, aber ich glaube weiterhin an die Musik als Werkzeug."
Liebe zur Bühne
Am 2. Februar, einen Monat nach Bolsonaros Amtsantritt, feierte der sympathische, jugendliche Menschen- und Naturfreund seinen 60. Geburtstag mit einem Riesenkonzert in Rio. Dort lebt Lenine schon seit Anfang der 80er-Jahre. Die Verbindung nach Hause, in den kulturell reichhaltigen Nordosten Brasiliens, hat der in Recife geborene Musiker dabei nie verloren. Das ist auch in "Ogan Erê" zu hören, einem quasi a-cappella gestalteten Song, in dem sich viele, teils geloopte Stimmen übereinander schichten. Es ist eines der neuen Stücke auf dem Livealbum, das eigens für eine Konzertaufnahme neu konzipiert wurde.
"Die Bühne ist mein großes Vergnügen, meine Liebe", sagt Lenine. "Insofern war jedes Album ein Vorwand, auf die Bühne zu gehen. Diesmal war es umgekehrt: Es gab mir die Möglichkeit, von vornherein alle Aufmerksamkeit auf diese Gruppe von Musikerbrüdern zu legen, die dem zum Leben verhelfen, was ich auf der Konzertbühne mache."
Kernig-perkussive Stimme
Tracks wie "Sublinhe E Revele" auf dem Album lassen erahnen, warum sich Lenine als "Perkussionist an der Gitarre" versteht. Selbst seine markig-warme Stimme hat oft etwas Perkussives. Das kommt gerade dieser neuen Sammlung von Songs zugute, die allesamt um heftige, eher ungute Gefühle kreisen – Lenines poetische Antwort auf neue politische Eiszeiten in seinem Heimatland, das schon einmal eine Militärdiktatur durchmachte.
Star der "Música Popular Brasileira"
Noch zu deren Zeit kam der Musiker in Rio an und fühlte sich dort keiner der damals noch eher getrennten musikalischen Lager zugehörig. Heute gilt er als der große, etwas andere, weil autark gebliebene "Star" der "Música Popular Brasileira", der MPB. Abgesehen davon, dass heute auch eine Gruppierung von Bolsonaro-Freunden diese Abkürzung verwendet, kann Lenine mit "MPB" nicht mehr allzu viel anfangen. "Ich finde, man sollte den Begriff aufwerten, denn er schließt irgendwie alles 'made in Brasil' ein: von Sepultura, der Metalband, bis zum Schlagersänger Altemar Dutra."
Eigentlich möchte er lieber den Begriff "MC", also "Música Contemporânea", zeitgenössische Musik benutzen. "Wenn ich zum Beispiel die Moskauer Band Farlanders höre, ist mir ihre Musik nahe, trotz verschiedener Hintergründe und Sprachen und Früchte verschiedener Kulturen. So finden wir doch zu einer ähnlichen Art der Vermischung. Wie ist das möglich? Wegen eben dieser 'Kontemporanität', die uns ähnlich denken lässt. Was ich mache, ist für mich zeitgenössische Musik."
Bolsonaros "Feindesliste"
Dabei gibt er zu, dass er ein Kind der "MPB" sei, zu der auch Menschen wie Chico Buarque zählen. Dieser sowie Kollege und Ex-Kultusminister Gilberto Gil stehen samt 700 weiterer Prominente Brasiliens auf Bolsonaros sogenannter "Feindesliste". Der nicht minder sozialkritische, aber womöglich diplomatischere Lenine nicht - noch nicht.
(cdr)