"Der Überläufer", Serie in vier Teilen
am 8. und 10. April jeweils um 20:15 im Ersten
alle Folgen vorab in der Mediathek
Die Sinnlosigkeit des Krieges
11:12 Minuten
Erst 2016 konnte Siegfried Lenz bereits 1951 verfasster Roman "Der Überläufer" erscheinen. Damals wollte der Verlag das Buch über einen desertierenden Wehrmachtssoldaten nicht veröffentlichen. Jetzt ist es für die ARD verfilmt worden.
Susanne Burg: Siegfried Lenz' Roman "Der Überläufer" wurde bereits 1952 geschrieben, ist aber erst posthum vor vier Jahren erschienen. Jetzt ist der Roman verfilmt worden. Als Zweiteiler ist er in der kommenden Woche in der ARD zu sehen – und vorab bereits in der Mediathek. Jannis Niewöhner spielt darin den Soldaten Walter Proska, der im letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs vom Heimaturlaub zurück zu seiner Einheit an die Ostfront fährt und bei einer kleinen versprengten Wehrmachtstruppe landet, die in den Sumpfgebieten Polens die Zuglinie sichern sollen – zermürbt von den Angriffen der Partisanen und Mückenschwärmen. Regie geführt hat Florian Gallenberger, und er hat auch das Drehbuch geschrieben, zusammen mit Bernd Lange.
Herr Gallenberg, zunächst einmal: Ihre letzten Filme – "John Rabe", "Colonia Dignidad" und "Grüner wird’s nicht, sagte der Gärtner und flog davon" – waren Kinofilme. Nun sind ja jetzt aktuell alle Kinos im Lande zu, und Kinofilme werden auf unbestimmte Zeit verschoben. Können Sie sich freuen, dass Sie dieses Mal einen Fernsehfilm gemacht haben?
Gallenberger: Es stimmt schon, dadurch, dass "Der Überläufer" ein Fernsehfilm ist, sind wir jetzt von den ganzen Verwerfungen nicht betroffen. Vielleicht haben wir sogar ein größeres Publikum, da die Leute jetzt zu Hause sind und mehr Fernsehen gucken. Aber freuen kann man sich da nicht. Es ist mehr so, dass man erleichtert ist, dass man nicht auch jetzt von dieser totalen Stilllegung betroffen ist.
Eine von der Filmgeschichte übergangene Figur
Burg: Was hat Sie an Siegfried Lenz' Roman fasziniert, dass Sie daraus einen Film machen wollten?
Gallenberger: Ich finde die Hauptfigur – wie der Titel sagt: ein Überläufer, ein Deserteur – eine ganz interessante, von der im Kino bislang fast nie erzählt worden ist. Wenn überhaupt, dann ist er der Böse, der Verräter, der als Nebenfigur und Antagonist auftaucht, aber eben nicht als Hauptfigur. Wir sind gewöhnt, den Deserteur als Schwein zu sehen, ihn zu verachten.
Aber das ist natürlich eine vorschnelle Draufschauensweise, eine Vorverurteilung. Und dass Lenz – das muss man sich vorstellen, Anfang der 50er-Jahre –, dass Lenz so eine Figur gewählt hat und hinter die Fassade dieser Figur schaut und guckt, was diesen Menschen im Inneren bewegt, wie er zu seinen Entscheidungen kommt und gleichzeitig beleuchtet, dass diese Figur moralisch gesehen eigentlich die höchststehende Figur in dem ganzen Ensemble ist, das finde ich für damals eine großartige Leistung. Und ich finde es auch bis heute wichtig, dass wir nicht vorschnell urteilen, sondern uns die Mühe machen, auch Figuren provozierend zu hinterfragen und genau hinzusehen.
Was im Innern dieser Menschen passiert
Burg: Siegfried Lenz hat es ja auch immer geschafft, sehr atmosphärisch zu erzählen – die Mücken in den Sümpfen Polens sind quasi zu spüren, und jeder der Männer hat seine eigene Redeweise, seine eigene Charakteristik. Lenz beobachtet sie so in der Enge ihrer Umgebung wie im Glaskasten. Inwieweit hatten Sie schon beim Lesen des Romans quasi Bilder im Kopf?
Gallenberger: Das, was Sie jetzt alles gesagt haben, trifft wirklich vollkommen zu. Gerade auch die Arbeit mit Sprache und mit Dialekten ist bei Lenz ja wirklich sehr stark ausgeprägt. Das haben wir natürlich auch versucht, in den Film mit rüberzunehmen. Ich glaube, nicht nur als Filmemacher hat man, wenn man das Buch liest, unwillkürlich Bilder vor Augen, sondern auch als Mensch, der keine Filme macht.
Das ist ja auch das Tolle, deswegen hat Lenz' Roman auch diese starke Wirkung: Weil er einen sofort sehr anschaulich in die Welt mit reinnimmt. Ich glaube, Lenz' Ziel war weniger, den Krieg als Krieg zu schildern, sondern vielmehr zu zeigen, was der Krieg mit den Leuten macht, in welche Situationen der Krieg die Leute bringt und was im Inneren dieser Menschen passiert. Insofern sind wir da sehr dem Buch gefolgt, und das hat uns für den Film echt gut getan.
Burg: Ja, bevor es ums Desertieren geht, ist ja erst mal der erste Stopp von Walter Proska in dieser Station, wo er bei einer Handvoll Soldaten landet, unter der Ägide eines versoffenen und sadistischen Unteroffiziers – gespielt von Rainer Bock. Was ist das eigentlich für eine Atmosphäre, in der diese Menschen da beieinander sind?
Gallenberger: Ich glaube, dass sich in dieser Situation die Sinnlosigkeit dieses Krieges auf eine absurde Art und Weise materialisiert. Das sind sechs Soldaten, die in einem Sumpf hocken, abgeschnitten von der größeren Einheit, und eigentlich nur noch drauf warten, dass sie entweder umgebracht werden oder dass der Krieg vielleicht zu Ende geht. Sozusagen die Früchte, die die Sinnlosigkeit mit sich bringt, dieses Festsitzen in dieser zusammengewürfelten Truppe. Ich glaube, dass das ein Element des Krieges ist, dass man meistens etwas vergisst, weil man an kriegerische Auseinandersetzungen denkt. Ich glaube aber, dass das Warten und die Ereignislosigkeit im Krieg eine ganz enorme Rolle einnehmen, und das ist eher das, worauf Lenz den Blick gerichtet hat.
Augenblicke des Eskapismus
Burg: Die Ereignislosigkeit, das Warten und auch die schönen Momente, denn es gibt auch eine Liebesszene mit Wanda. Sie wiederum ist eine Partisanin, ein Kontakt, der ziemlich gefährlich ist für die beiden. Warum lassen sie sich trotzdem aufeinander ein?
Gallenberger: Ich kann das in dem Falle sagen: Meine Frau ist Polin und deren Großmutter, eine polnische Frau in den 30er-Jahren, hatte sich damals zum Beispiel in einen deutschen Soldaten verliebt. Dass diese Dinge geschehen sind, dass auch im Krieg die Menschen Begierden und Bedürfnisse haben, ist ja vollkommen klar. Und diese Kriegssituation, dass man wirklich faktisch nicht wissen kann, ob man den nächsten Tag erleben wird, hat für uns immer geheißen, die Menschen machen das, was sie machen wollen, eher schneller als gar nicht, weil wenn sie es heute nicht machen, kann es sein, dass es nie mehr passiert.
Deshalb lassen die beiden sich auch so schnell aufeinander ein. Es ist ja – und das haben wir auch im Film deshalb so gemacht – unterschnitten mit dem, wie jemand anders beim Baden erschossen wird. Es gab letztlich sozusagen nur Augenblicke des Eskapismus, weil die Welt war unter der Kontrolle des Kriegs, und da gab es eigentlich auch kein wirkliches Entfliehen.
Die Rolle der polnischen Partisanenkämpfer
Burg: Der Film ist in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Filminstitut entstanden. Nun sind gerade die Partisanen in Polen historisch ein heikles Thema. Bis 1989 wurden sie von der Staatsführung als Banditen geächtet, heute werden sie bei vielen auch mit Unterstützung der PiS-Partei vielfach als Helden verehrt. Wie sind Sie vorgegangen, um sich für die Darstellung nicht politisch vereinnahmen zu lassen oder auf der anderen Seite für Konflikte auf polnischer Seite zu sorgen?
Gallenberger: Sie haben recht, die Partisanen sind sehr wichtig für das polnische Selbstverständnis, bis heute. Dazu muss man wissen, dass es unterschiedliche Partisanengruppierungen gab. Es gab Partisanen, die mit der sowjetischen Armee zusammengearbeitet haben, kooperiert haben. Es gab aber auch Partisanen, die sowohl gegen die Deutschen als auch gegen die Sowjets gekämpft haben und somit sozusagen Freiheitskämpfer für das Vaterland waren. Diese Partisanengruppe ist diejenige, die auch heute in Polen als Helden verehrt wird.
Wir haben nach sehr langen und intensiven Gesprächen mit unseren polnischen Teammitgliedern versucht, unsere Partisanen im Film nach dem Vorbild der Partisanentruppe Armia Krajowa zu bauen. Es war niemals der Wunsch, irgendjemanden zu verprellen, aber genauso wenig wollten wir uns vor irgendeinen politischen Karren spannen lassen. Wir haben versucht, diese Partisanen authentisch zu erzählen, nach den Fotos und Dokumenten, die wir finden konnten, und ich denke, dass es keinen Anlass gibt von polnischer Seite, sich gegen den Film zu verwehren. Und es gibt keinen Anlass, uns vorzuwerfen, dass wir hier irgendwelche Ansprüche bedient hätten, die nicht gerechtfertigt wären.
Überlaufen aus moralischen Gründen
Burg: Im Film schreitet die Kriegshandlung dann vorwärts, die Situation wird immer aussichtsloser für die Wehrmacht. Als die Rote Armee dann näherrückt, gerät Proska in Kriegsgefangenschaft und läuft zusammen mit seinem Kameraden Wolfgang Kürschner zum Feind über. Macht er das aus reinem Überlebenswillen?
Gallenberger: Proska, die Hauptfigur, ist wirklich jemand, der an jeder Stelle, egal unter welcher schlimmen Situation er zu leiden hat, immer wieder hinterfragt, wie es richtig wäre, sich zu verhalten. Vielleicht liegt er dann nicht immer richtig mit seinen Entscheidungen, aber er ist jemand, der immer darum kämpft, seine Eigenständigkeit und eine moralisch wertvolle Position zu behalten.
Als er überläuft, gibt es natürlich den Anreiz, dadurch sein Leben zu retten. Aber seine Frage an seinen Kameraden ist, ob er sich sicher ist, dass das hier das Richtige ist. Und als der Kamerad ihm sagt, ja, er ist ganz sicher, das ist das Richtige, ist dies der Moment, an dem er sich entscheidet, zur Roten Armee überzulaufen. Von daher glaube ich tatsächlich, dass sein letztendlicher Grund des Überlaufens ein moralischer ist, bei dem es ihm um sein eigenes Innenleben geht und nicht so sehr um das physische Überleben - so wie später, er läuft ja nochmals über, von der sowjetischen in die Westzone.
Eine Blaupause für ein ganzes Volk
Burg: Es geht für ihn dann auch immer mehr um den Umgang mit der eigenen Vergangenheit und auch der Schuld. Moralische Fragen spielen bei ihm dann zunehmend immer mehr eine Rolle, oder?
Gallenberger: Absolut. Er lädt in diesem Krieg – auf tragische Weise, muss man sagen – enorme Schuld auf sich: Er tötet einen Partisanen, der sich als der Bruder seiner Geliebten herausstellt, und er tötet unwissentlich den Ehemann seiner Schwester, den er durch eine Türe hinweg erschießt. Von daher wird er extrem schuldig, ohne dass es ihm klar wird und dass man es ihm eigentlich vorwerfen kann.
Diese Schuld, die er mit sich rumträgt, ist dann der ausschlaggebende Referenzpunkt für all sein Handeln nach dem Krieg. Insofern ist er schon auch eine Blaupause für ein ganzes Volk, das in diesem Krieg eine enorme Schuld auf sich geladen hat und sich dann vor allem in den Nachkriegsjahren natürlich eher nicht dafür entschieden hat, diese Schuld zu untersuchen, sondern den Blick nach vorne zu richten, den Blick eher auf materielle, auf weltliche Dinge zu richten, im Glauben an das Wirtschaftswunder den Gespenstern der Vergangenheit irgendwie zu entgehen. Aber das ist eben nicht Walter Proska, und das macht ihn auch als Figur wertvoll.
Die Geisteshaltung dieser Jahre
Burg: Womit wir wiederum auch bei Siegfried Lenz sind und der Geschichte des Romans, denn als er den Roman 1952 dem Verlag Hoffman und Campe angeboten hat, hat der Lektor gesagt, er müsste umgearbeitet werden. Das Problem, das der Lektor auch gesehen hatte, war die Darstellung des Deserteurs als Verräter, etwas das Deutschland, wie der Lektor fand, nach dem Krieg 1952 nicht lesen wollen würde.
Gallenberger: Ganz genauso war das, und möglicherweise hatte der Lektor auf eine Art auch Recht, dass die Menschen in Deutschland damals entweder kein Interesse für dieses Figur gehabt hätten oder dieser Figur auch feindselig begegnet wären. Der Roman endet in den 40er-Jahren. Wir haben im Film aber noch eine Episode, die in der Mitte der 50er-Jahre spielt, hinzugesetzt.
Der Gedanke dahinter war, dass man einen kurzen Blick auf die Geisteshaltung dieser Jahre wirft, denn diese Geisteshaltung ist letztlich der Grund, warum der Roman damals nicht erscheinen konnte.
In dieser letzten epiloghaften Szene des Films sehen wir, dass die Figuren sagen: Was bringt es, in der Vergangenheit zu wühlen, wir müssen den Blick nach vorne richten. Und genau dieses Verständnis hat dazu geführt, dass der Roman damals nicht veröffentlicht werden konnte. Im Prinzip muss man sagen, dass der Roman, als er 70 Jahre später, also 2016, tatsächlich rauskam, auch die Möglichkeit gegeben hat, diese Figur mit einer anderen historischen Distanz zu erzählen. Und vielleicht ist die Zeit jetzt reif, um einen Deserteur als Hauptfigur erzählen zu können.
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